Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Dascha Barabenova, Knigi i Kofe, Saint-Pétersbourg, Sankt Petersburg

Dascha Barabenova | Knigi i Kofe, Sankt Petersburg

Foto: Alain Barbero | Text: Dascha Barabenova

 

Augenkaviar
tausende kleinen Augen
zwischen Wimperalgen
brechen und biegen
Lichtlinien
Augenbrauen fließen strömend
unter die Stirn
unter der Stirn
unbeweglich bleibend

Rede Figuren wie unterm Wasser
ob ich wirklich sehe

im Kristall
in einer gläsernen Kugel
im Tropfen
in einer Tauperle
in einem Tr-
durch tausende durchsichtigen
und unsichtbaren
augenden
Kaviarkerne

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Dascha Barabenova: Literatur ist für mich eine Form der seltsamen Kodierung, die auf verschiedene Weise verstanden werden kann und das Schönste dabei ist, dass es keine einzig richtige Art der Dekodierung gibt.

Was bedeuten dir Kaffeehäuser?
DB: Es gibt keine große Kaffeehaustradition in Russland mit einer Geschichte, die schon Jahrhunderte dauert, wie in Österreich. Es gibt nur Cafés und sogenannte Kofeinyas, die mir immer etwas schicker zu sein schienen. Für mich ist das, was ich in einem Café mache, ein bisschen anders, als wenn ich das zu Hause, auf der Straße oder bei der Arbeit machen würde, ob ich schreibe, lese, mit jemandem spreche oder eine Tasse Kaffee genieße. Es gibt immer viele zusätzliche Faktoren wie Beleuchtung, Geräusche, Musik, Menschen, die sich in einem Café schnell ändern, an die ich nicht gewöhnt bin. Daraus entsteht eine  Zufälligkeit, die mich alles etwas tiefer erleben lässt.

Warum hast du das Café Knigi gewählt? (Auf Russisch klingt der Name des Cafés wie „Knigi i kofe“ (Bücher und Kaffee)
DB: Eigentlich war ich früher noch nie dort, habe nur davon gehört und wollte es einmal besuchen. Als Olessja vorgeschlagen hat, uns in „Knigi i kofe“ zu treffen, habe ich nicht gezweifelt, dass es sich lohnt.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
DB: Alles, was man im Café machen kann und noch etwas.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Olessja Bessmeltsewa, Knigi i Kofe, Saint-Pétersbourg, Sankt Petersburg

Olessja Bessmeltsewa | Knigi i Kofe, Sankt Petersburg

Foto: Alain Barbero | Text: Olessja Bessmeltsewa

 

Kaffee(ER)satz mit Pronomina

ein „ich“
wollte schreiben
und suchte sich
ein „du“
ein „für dich“
ein „zu dir“
„wir“
greift das Wort
zwischen „mir“ und „dir“
ein Blatt
Papier
weiß
auf dem Tisch
steht
dieses Schreiben
(ein Schreibtisch)
und statt
„dich“
sehe ich:
es
rollt sich
und läuft
über Tischrand
auf Tischtuch
schwarz
ein Kaffeesatz
ein Gedicht
eine Rolle
eine Rolltreppe:
ihre Stufen
die Zeilen
und Buchstaben
im Wettrennen
ohne Ziel
ohne Punkt
ohne Halt
Du
.
Wollen Sie vielleicht noch einen Kaffee?


 

Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Olessja Bessmeltsewa:  Ich verstehe unter Literatur kein Produkt, sondern einen Prozess. Ein kreatives Schreiben. Es hat enorme Bedeutung als eine Art (Selbst-)Reflexion, (Selbst-)Kritik, (Selbst-)Ironie. Eine Art Therapie oder ein Denkspiel. Alles prozessual, im Flow, nie eine Beschreibung fertiger Gedanken – da wird es dozierend, unecht und erst richtig langweilig. Da hebt sich plötzlich ein Sockel aus dem Teppichboden und jemand hat schon das Podest erklettert und eine kluge Pose eingenommen, um DIE Wahrheit den Mengen beizubringen. Ich sehe es aber so, dass man kein „Genie“ braucht, dass jede/r, der/die sprechen kann, schon automatisch imstande ist, kreativ zu schreiben. Jede/r ist ein Literaturproduzent (und -konsument zugleich). Dadurch wird „Literatur“ nicht entwertet, sondern so wird sie erst zu einer lebenswichtigen Angelegenheit.

Was bedeuten dir Kaffeehäuser?
OB: Ein toller Arbeitsplatz. Berufliches wie privates Schreiben fließt ungehemmt auf den Bildschirm meines Tablet-PCs. Weil es sich hier entspannter anfühlt als im Büro oder auf der Straße. Andererseits bleibt die Konzentration bestehen und man ist gefasst und nie so schlampig wie vielleicht Zuhause. Und ja, es schwärmen immer Menschen herum – zum Beobachten, zum Bewundern oder zum Ansprechen. Und der Mensch ist ein soziales Wesen, das darf man nie vergessen – als Schriftsteller/in schon nie und nimmer, sonst schreibt man blauäugig und monologisch. Der einzige Mangel der Kaffeehäuser ist, dass der Besuch was kostet :)

Warum hast du das Café Knigi gewählt?
OB: Viel Abwechslung auf überschaubarem Platz, die Räume kompakt und lauschig. Ein kleiner Tapetenwechsel ist immer möglich – beschwingend fürs kreative Schreiben. Keine verstörende Musik, andererseits kriegt man über den Flur auch Konzerte, Filmvorführungen oder Vorträge mit. Schön versteckt – weit vom Getümmel auf Nevskij, doch zentral gelegen und daher anlockend für Studenten-Boheme (ein wertvolles Beobachtungsmaterial). Und wenn selbst DAS alles gegen verschleppte Gedankenverstopfung nicht hilft, da gibt´s hier eine Fantasie anfachende Teekarte und einige geistreiche Spezialitäten á la Kürbissuppe mit Kaffee.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
OB: Durch die Stadt rennen, Gedanken fangen, Gedanken nicht verlieren wollen, Leute treffen, Leute meiden, Geschäfte planen, Geschäfte führen, sich in Geschäften verlieren, Probleme kriegen und lösen, Menschen ansprechen, unter Menschen schweigen, im Zug und Bus einschlafen, nie ausschlafen können, vor dem Laptop Stunden und Stunden durchhocken, nie abschalten, atmen, nie ausatmen, hungrig werden – – -> endlich ins Café!

Was machst du im Café?
OB: Solche Texte, siehe oben.