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Cécile Calla | Lass uns Freunde bleiben, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Cécile Calla | Übersetzung aus dem Französischen: Barbara Peveling

 

Das Jahr Null der Sprache

Die Sirenen der Bombenangriffe ertönen pausenlos. Im Schlaf, beim Aufwachen, bei der Arbeit, während der Kaffeepausen, in dem Bus oder der Bahn und in jeder freien Minute. Das Ende des Krieges, die Kapitulation und das riesige Meer der Schuld kleben an mir. Ich bin nie allein, es gibt immer diese Geister, dieses Gewicht, das mir auf meine Lungen drückt, die Kehle zuschnürt, den Appetit verdirbt, meine Eingeweide umdreht und mich erschauern lässt. Ich versuche, das Alphabet der Herkunft zu entschlüsseln, ein vertrautes Wort zu rekonstruieren, das Unausgesprochene und die verschlüsselten Botschaften zu erkennen; ich lerne eine besonders schwierige Fremdsprache und das ohne jegliche Hilfe. Der ohrenbetäubende Lärm der Explosionen ist nichts anderes, als die Zerstörung dieser höllischen Logorrhoe*, dieser betäubenden Wörter, dieser leeren Formulierungen, dieser Witze, die nur Namen tragen. Ich werfe alles in den Reißwolf, um nur noch winzige Bruchstücke zu erhalten, Atome, die ich dann nach Lust und Laune und in völliger Freiheit zusammensetzen kann, ohne der familiären Gebrauchsanweisung zu folgen. Es ist das Jahr Null meiner Sprache. Ich lerne wieder sprechen, lesen und schreiben. Ich werde mich von meinem Bauch, meinem Mund und meinem Geschlecht leiten lassen. Die körperliche Dreifaltigkeit ist mein als Kompass. Die Nerven der Weg. Das Pulsieren des Herzens der Motor.

 

*Bei einer Logorrhoe kommt es zu einem nahezu ununterbrochenen und übermäßig schnellen Redefluss. 

 


Interview mit der Autorin

Was ist Literatur für dich?
Cécile Calla: Es ist ein Raum zum Denken, um die gegenwärtige und vergangene Welt zu verstehen, ein Ort der Freiheit, der Entdeckung und einer notwendigen Disziplin.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CC: Es sind Orte, an denen ich die Einsamkeit genießen kann, Zufluchtsorte zum Schreiben, seit ich Mutter bin. Dort kann ich meine Gedanken nach Belieben schweifen lassen. In einem Café gelingt es mir oft, eine Textblockade zu lösen oder eine gute Einleitung zu finden.

Warum hast du Lass uns Freunde bleiben gewählt?
CC: Weil es unaufgeregt ist, so typisch berlinerisch mit seinen Möbeln, die aussehen, als wären sie von einem Flohmarkt, und auch, weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich gehe gerne am frühen Morgen hin, wenn viel los ist und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Horizonte zusammenkommen: die Leute aus dem Kiez natürlich, Freunde und Bekannte, die ich treffe, aber auch einige Touristen oder Arbeiter von den nahe gelegenen Baustellen, die sich einen großen Kaffee holen.

 Was tust du, wenn du nicht im Café bist?
CC: Ich arbeite in meinem Büro, das sich in einem Künstlerhaus befindet.

 

BIO

Cécile Calla, 1977 in Paris geboren, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt für deutsch-und französischsprachigen Medien und hat ihre erste Kurzgeschichte bei den Literaturmagazin Stadtsprachen im September 2020 veröffentlicht. Sie hat den feministischen Blog Medusablätter gegründet, der einen neuen Blick auf feministische Debatten wirft und produziert mit Barbara Peveling den deutsch-französischen Podcast Medusa spricht (Méduse parle). Sie ist Mitglied des Netzwerkes französischsprachiger Autorinnen in Berlin. Zuvor war sie Korrespondentin der Tageszeitung „Le Monde“ (2007 – 2010) und Chefredaktorin des deutsch-französischen Magazins „ParisBerlin“ (2012 – 2015).