Schlagwortarchiv für: Würgeengel

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, MathildeRamadier, Delphine de Stoutz, Würgeengel, Berlin

Delphine de Stoutz | Würgeengel, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Delphine de Stoutz | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ihr verabredet euch an der Straßenbahnhaltestelle Warschauer Straße, in genau der gleichen Entfernung zu jeder eurer Wohnungen. Keine Gebietseinnahme von der einen oder der anderen Seite, die perfide Einrichtung einer Demarkationslinie lässt nichts vermuten, der Beginn eines Stellungskrieges, der langwierig und strapaziös zu werden verspricht, sagst du dir beim Auflegen.

Deine Straßenbahn ist einige Minuten vor seiner da. Die Nacht hat sich bereits eingerichtet, obwohl es noch nicht so spät ist. Der winterliche Nebel verdrückt sich unter die Eisenbahnbrücke des Umsteigebahnhofs. Gefangen im Strahl schwächelnder Straßenlaternen, vergraut der weiße Schleier die Nacht, gibt ihr die Textur eines Fritz Lang-Films. Um dich herum heulen die Schienen ihr stählernes Klagelied. Seine Bahn kommt.

Ein Schatten im Nebel. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Mantel, Handschuhe und Mütze schwarz, nur diese paar Zentimeter Haut verhindern, dass er von der Dunkelheit völlig geschluckt wird. Der Mann in Schwarz nähert sich dir also. Seine Schritte sind weder zögernd noch eilig. Ein gleichmäßiger Schritt, gemessen, auf nichts Bestimmtes schließend, ein Schritt, der zu nichts führt, es sei denn, dir näher zu kommen. Der nächste wird der entscheidende sein.

Du denkst: Welchen Abstand wird er zwischen uns legen?

Aber er macht alle deine Prognosen zunichte. Er nimmt dich in seine Arme. Mit seinen zwei Metern drückt er dich an sich und hebt dich hoch. Deine Füße verlassen den Boden und dein Herz kommt aus dem Rhythmus. Die Uhren halten an und du spulst die Geschichte zurück, lässt dich fallen und fühlst wie beim ersten Mal das Geschenk einer Begegnung.

 


Interview mit der Autorin

Was ist Literatur für dich?
Delphine de Stoutz: Keine Ahnung. Ich bin immer auf der Suche. Oder es ist eher etwas, das einfach da ist, und es genügt, sich zu bücken und es aufzusammeln. Sagt man woanders, auch auf Deutsch, nicht „um das Wort bitten“ oder „das Wort ergreifen“? Also ist Literatur überall, und es ist eine persönliche Entscheidung, ob wir sie zu einem Teil von uns werden lassen. Literatur machen ist etwas anderes. Da steigt man selbst in die Grube hinab, ohne zu wissen was man dort findet, außer, dass man als jemand anderes wieder herauskommt. Das erfordert jedes Mal wahnsinnigen Mut. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
DdS: Sie sind lange ein Ort des Schreibens, der Beobachtung gewesen, ein wichtiger Kontakt zur Außenwelt, um sich nicht ganz von der Sprache auffressen zu lassen. Mit Corona und seinen Schließungen wurde es notwendig, andere Orte zu finden. Ich habe zum Beispiel einen Roman von 300 Seiten komplett auf der Toilette geschrieben, der einzige Raum, den ich bei mir abschließen konnte. Diese Situation hat mich schließlich dazu gezwungen, die Frage nach dem Ort, wo ich schreibe, zu stellen, und hat mir die Gewissheit zurückgegeben, dass das Schreiben kein einsamer Akt ist. Ich schreibe nicht mehr in Cafés, ich brauche das nicht mehr. Ich gehe dorthin, um die Gemeinsamkeit und die Freundschaft zu erleben und jedes Mal mit der Hoffnung auf ein Abenteuer.

Warum hast du den Würgeengel gewählt?
DdS: Diese Bar ruft das Berlin der verrückten Jahre zurück. Man nimmt hier ein anderes Ich an. Erinnerungen an Marlene.  Schließlich das Abenteuer …

Was tust du, wenn du nicht im Café bist?
DdS: Glücklicherweise verbringe ich mein Leben nicht in Cafés!  Trotzdem haben sie immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt: Es ist in einem Café, wo ich meinen Mann kennengelernt habe, wo ich mich entschieden habe, in Berlin zu leben. Außerhalb dieser Orte des Verderbens arbeite ich viel, widme ich mich meiner Familie, lese ich enorm viel, und wenn ich die Stadt verlasse, verliere ich mich im Gehölz oder „kultiviere“ meinen Garten.

 

BIO

Als Autorin pendelt Delphine de Stoutz zwischen Sprachen, Ländern und dem Schreiben. Nach einem langen Umweg über das Theater, widmet sie sich der Literatur und veröffentlicht 2018 einen ersten Roman, Adult(r). Mit einem Stipendium der CNL beendet sie 2019 einen zweiten Roman und den Entwurf zu einem Comic. 2020 gründet sie das Réseau des Autrices (Autorinnen-Netzwerk) und entwickelt im folgenden Jahr das Programm für einen „digitalen Wohnraum“: das Hotel der Autorinnen. Seit 2008 lebt de Stoutz in Berlin.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Assaf Alassaf, Eckkneipe, Berlin

Mathilde Ramadier | Würgeengel, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Mathilde Ramadier  | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Ist die Euphorie der letzten Feiertage vergangen, liegt etwas Tristes in diesen Wintertagen, die einer nach dem anderen vorbeiziehen. Eine rasende Flachheit. Als ob die Flachheit eine Geschwindigkeit hätte.

Jedes Aufwachen im Oktober erinnert mich an diese unvermeidliche Katastrophe: Alles, was wir im Sommer genossen haben, ist von den Wolken weggewischt, die bleiben. Die Zeit der toten Blätter herrscht wieder, die Dunkelheit beschleunigt die Schwärze der Dinge, ich flüchte mich daher in die Hochstapelei der glücklichen Menschen, in die lässige Pose der Bohemiens, die über die gepflasterten Straßen Berlins spazieren, sie, die nicht akzeptieren, dass die schöne Jahreszeit nicht ewig dauert. 

Frühmorgennebel, Sonne im Osten. Unwillig schlüpfe ich in eine dicke schwarze Legging. Ich überquere die Straße und laufe mit weit ausgreifenden Schritten über die lockere Erde den Kanal entlang. Kilometerweit. Diese verbrauchte Erde, ihr Geruch. Eine Mischung aus Schlamm, Stadt, herbstlichem Nieselregen und, vor allem, tausend Blätterschichten. Eine pflanzliche Note, eine herbe Süße, ohne welche die Stadt nur Beton wäre. 

Das Laufen gibt mir ein irres Gefühl von Freiheit. Ich komme überall hin. Ich erforsche die vergessenen Gebiete meines Lebens, ich sortiere die Gedanken nach Bequemlichkeit. Schwebend, verdrängt oder wiedergefunden sprudeln sie an jeder Straßenecke Kreuzbergs hervor. Denn wir beginnen einander gut zu kennen, diese, jene, ich. 

Nach der Brücke und den Resten einer berühmten Mauer streichle ich einen anderen Arm des Kanals entlang, gesäumt von Kirschbäumen, übersät von hohlen Kastanien. In eine Halb-Ruhe getaucht sind zwei von Piratenfahnen flankierte Kähne neben einer Trauerweide vertäut. Ein metallener Fußabstreifer wurde aus Bierkronkorken hergestellt, die man nach Plan in die feuchte Erde gedrückt hat, sodass sie einen Anker formen. Im Vorbeilaufen steige ich mit der Ferse darauf und versenke ihn etwas tiefer im tausendjährigen Boden.

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet die Literatur für dich?
Mathilde Ramadier: Die Literatur ist für mich eine Notwendigkeit, eine Anwesenheit in der Welt. Ich habe es sicherlich gewählt, aus dem Schreiben meinen Beruf zu machen, ich habe dafür gekämpft, aber ich habe es niemals gewählt, zu schreiben. Ohne Literatur, ohne das Lesen wäre mir jede Fähigkeit der Sublimierung genommen, ich wäre wahrscheinlich unerträglich.

Was bedeuten für dich die Cafés?
MR: Die Cafés sind für mich der erste soziale Ort, derjenige, an dem man für die Dauer eines Glases am Tresen bei Null anfangen kann, dem Anderen begegnen, wer oder was auch immer das sein mag. Ich bin ein Nachtvogel. Ein Café, das wäre das erste, was ich schaffen würde, wenn ich in einem verlassenen Dorf ankäme. 

Warum hast du die Bar Würgeengel gewählt?
MR: Der Würgeengel ist eine mythische Bar von Kreuzberg, in der man ausgezeichnete Cocktails zu trinken bekommt. Seine spezielle Aura, der Tresen aus Zink, der rote Samt, diese köstliche Mischung aus Geheimnis, Glamour und Antiquiertheit machen einen typischen Berliner Treffpunkt aus ihm. 

Was machst du, wenn du nicht in den Cafés bist?
MR: Wenn ich nicht in den Cafés bin, trinke ich einen Kaffee zuhause, ich schreibe, lese, arbeite viel, ich sehe meinen Kindern beim Großwerden zu und von Zeit zu Zeit brechen wir in Richtung der Schönheit des Südens auf.

 

BIO

Die 1987 im Departement Drôme geborene Mathilde Ramadier ist Autorin von Essays und Graphic Novels. Die ausgebildete Philosophin und Psychoanalytikerin hat Paris vor zehn Jahren in Richtung Berlin verlassen. Ihre Bücher werden unter anderem bei den Verlagen Actes Sud, Futuropolis, Premier Parallèle, Dargaud und Seuil herausgegeben. Sie ist auch Übersetzerin aus dem Deutschen und dem Englischen. Sie schreibt für Philonomist, ein neues Medium des französischen Magazins „Philosophie“, produziert Podcasts und hält philosophische Vorträge.