Sibylla Vričić Hausmann | Café Grundmann, Leipzig
Foto: Alain Barbero | Text: Sibylla Vričić Hausmann
Ich bleibe Fremdkörper. Bedient werden löst Schuldgefühle in mir aus. Alleine im Café sitzen, Hochstaplerinnengefühle. Vielleicht, weil ich vom Dorf bin, als Jugendliche eher im Wald und an der Bushaltestelle herumhing. Als Kind waren Cafés bzw. Kakaos, Kuchen und Eis die Lockmittel, mit denen man mich zu Wanderungen oder anderen sportlichen Aktionen überreden konnte. Beim Skifahren brach sich mein Bruder einmal den Arm. Ich konnte es nicht fassen, dass wir die Piste verließen, ohne dass ich meinen „Chocolat Chaud“ bekommen hatte. Dabei waren doch das An- und Abpellen des Skianzugs, das Laufen in den Skischuhen und Schleppen der Skier, das Fahren mit dem Skilift, das halsbrecherische Bergrunterrutschen und die beißende Kälte schlimmste Zumutungen für mich! Vor einiger Zeit war ich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, der im letzten Jahr gestorben ist, hier, im Café Grundmann. Mein Stiefvater machte sich prinzipiell gut in Cafés. Ich stelle mir vor, dass er sich in ihrer Halböffentlichkeit heimisch fühlte, weil seine Eltern einen Lebensmittelladen besaßen, in dem er als Kind viel Zeit verbrachte. Ins Grundmann passte mein Stiefvater besonders gut. Weil es elegant ist, ein bisschen altmodisch, weil ein Klavier herumsteht und es – den Plakaten nach – hier Jazzkonzerte gibt. Die Fotosession war lang und hat mich natürlich vor den anderen Gästen und den hier arbeitenden Menschen sehr exponiert. Ich weiß nicht, lieber Alain, wie du es geschafft hast, dass ich mich dabei wohl gefühlt habe.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Sibylla Vričić Hausmann: Ein Ort, an dem ich nicht alleine bin – aber doch für mich sein kann. Also vielleicht das, was für andere Cafés sind.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SVH: Ich suche sie eher selten auf. Manchmal aber sind sie Orte der Belohnung, der Muße, des besonderen Moments. An einem Sommertag mit meinen Kindern an einem runden kleinen Cafétisch sitzen, Eis essen und mit dem Fuß im Kies knirschen …
Warum hast du das Café Grundmann ausgewählt?
SVH: Es ähnelt einem Wiener Kaffeehaus – Schauplätzen literarischer Kultur, die ich nicht selber kennen gelernt habe, aber interessant und anziehend finde. Vielleicht, ja vielleicht, wird doch noch etwas von ihrem Charme auf mich übergehen und ich werde irgendwann in einem Kaffeehaus neu schreiben und lesen lernen.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
SVH: Ich koche mir Kaffee. Schreibe an meinem Buch und schreibe Gedichte. Tagebuch. Gutachten. E-Mails. Bewerbe mich. Verfolge die Nachrichten und tausche mich mit Freundinnen aus. Spiele mit meinen Kindern. Versorge uns. Wasche Geschirr ab. Höre Radio. Surfe. Gehe zum Psychologen. Schlafe, schlafe, schlafe. Träume. Ich bereite mich auf die extrovertierteren Phasen des Jahres vor.
BIO
Sibylla Vričić Hausmann, geb. 1979 in Wolfsburg. Studium in Münster (WWU) und Berlin (FU), danach Projekte in Berlin, Praktikum am Goethe-Institut in Sarajevo; lebte 2009-2012 in Mostar, Bosnien und Herzegowina, wo sie an einem Theater arbeitete. 2014-2017 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist neben dem eigenen Schreiben als Dozentin für Literarisches Schreiben und Lektorin tätig und moderiert bei literarischen Veranstaltungen. Mitbegründerin des Blogs „Other Writers Need to Concentrate“ (zus. mit Katharina Bendixen und David Blum 2020) und der Lesereihe „Zürn“ (zus. mit Özlem Özgül Dündar 2022). Vričić Hausmann erhielt u.a. den Orphil-Debütpreis 2018 (für ihren Lyrikband „3 FALTER“, poetenladen Verlag), ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin 2019 und das Rainer-Malkowski-Stipendium 2022. Im März 2023 wird ihr aktueller Gedichtband „meine Faust“ (kookbooks Verlag) als „Lyrik-Empfehlung 2023“ ausgezeichnet. Sie lebt mit zwei Kindern in Leipzig.