François Debluë | Brasserie La Coupole 1912, Vevey (Schweiz)
Foto: Alain Barbero | Text: François Debluë | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach
Am Tisch nebenan
Am Tisch nebenan diskutiert ein junges Paar heute Morgen nicht über Gott und die Welt, sondern über ihr Leben als Paar in einem Moment, da dieses wohl auseinanderzubrechen droht.
Das errate ich am Ton des Wortwechsels, an den Argumenten, die brockenweise zu mir herüberdringen.
Ich spitze nicht die Ohren, möchte nicht indiskret sein, aber nun ja, das Café ist von bescheidener Grösse, die Tische stehen nah beieinander und die beiden sprechen laut genug, um mich daran zu hindern zu lesen, was ich lesen möchte: » – Ich, sagt er, bin bereit zu… – Du musst verstehen, dass…, entgegnet sie – Ja, aber ich habe keine Wahl… – Und ich will dich nicht belügen…«
Die Einzelheiten verlieren sich im Gemurmel von ringsum und man nimmt seine Lektüre wieder auf oder tut wenigstens so.
An einem anderen Tisch pendelt eine Frau, allein, zwischen ihrem Computer und dem Smartphone hin und her.
Der männliche Teil des Paars hat inzwischen schärfere Töne angeschlagen, er spricht jetzt vom Fünfer und vom Weggli, will sagen man könne nicht alles haben.
Weiter weg sitzen zwei Frauen sich gegenüber, durch die Bildschirme ihrer Compis getrennt, und sagen kein Wort, jede in ihre eigene Welt und ihr Ding versunken.
Gleich neben mir rechts kratzt sich ein Mann an der Nase, sitzt in schweigendem Nachsinnen da, vor sich eine zusammengefaltete Zeitung, deren Lektüre ihn vielleicht bedrückt hat, es sei denn, dass er noch gar nicht damit begonnen hat.
Das ist es, was uns die Cafés der Welt und insbesondere dieses hier heute Morgen zu bieten haben: Fragmente lebendigen Lebens, Zwiegespräche, Begegnungen oder Kostproben bitterer Einsamkeiten.
Die Café-Zeit ist auch dies: Zeit, um zur Ruhe zu kommen, die nötigen Kräfte zu sammeln, um die grossen und kleinen Geschäfte des Tages weiterzuverfolgen.
Interview mit dem Autor
Was kann Literatur?
François Debluë: Sie kennt zur Genüge ihre Ohnmacht angesichts des Bösen, der Gewalt, der Ungerechtigkeit.
Manchmal hat sie indessen die Pflicht, Zeugnis abzulegen.
Ich arbeite im Moment an Gedichten in Zeiten des Kriegs, nachdem ich unlängst Dreiunddreissig Gedichte in Zeiten einer Pandemie veröffentlicht habe. Ich weiss, wie lächerlich ein solches Vorhaben ist. Aber habe ich die Wahl? Würde ich schweigen, hätte ich ein schlechtes Gewissen, mehr noch als beim Schreiben dieser Zeilen.
Immerhin kommt es auch vor, dass ich die Schönheit der Welt, die Schönheit einer menschlichen Beziehung, die Schönheit eines Kunstwerks besinge.
Es handelt sich hier um ein konkretes Vorgehen, nicht um eine Literaturtheorie
Wie wichtig sind Cafés für dich?
FD: Ich besuche sie gelegentlich. Nur ab und zu. Aus Naschhaftigkeit. Aber auch, weil ich die Nähe der Männer und Frauen um mich herum geniesse. Ich beobachte sie, höre ihnen zu…
Im Gegensatz zu Georges Haldas mit seiner Légende des Cafés, der fast ausschliesslich in den Cafés schrieb, schreibe ich hier kaum. Ich bin lieber in meiner Zelle zuhause, vor Lärm und Blicken geschützt und inmitten meiner Bücher.
Wo fühlst du dich zu Hause?
FD: Bei mir zuhause. Aber auch auf der Bühne der Welt, in Buchhandlungen, in Konzert- oder Theatersälen.
BIO
François Debluë kam 1950 in der Nähe von Lausanne (Schweiz) zur Welt. Er hat Prosawerke, Erzählungen, Reflexionen und zahlreiche Gedichtbände veröffentlich. Dazu gehören: Conversation avec Rembrandt, Pour une part d’enfance (Gedichte, auszugsweise in der Übersetzung von Yla von Dach veröffentlicht im Jahrbuch der Schweizer Literaturen viceversa 17 unter dem Titel: Der Kindheit in dir, Rotpunktverlag Zürich, 2023), La seconde mort de Lazare, Schweizer Literaturpreis 2020 oder Le livre des reflets et des ombres. In der Übersetzung von Yla von Dach ist 1993 auch sein Prosatext Troubles Fêtes – Jubel Trubel – erschienen (Benziger, Zürich). Für sein Gesamtwerk wurde er mit dem Schiller Preis und dem Edouard-Rod-Preis ausgezeichnet.