Nora Bouazzouni | Café du Coin, Paris
Foto: Alain Barbero | Text: Nora Bouazzouni | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp
Ich mag das Gewirr der Stimmen in Bars, Cafés und Restaurants, weil es mein eigenes, mein inneres Stimmengewirr zum Schweigen bringt. Tagsüber würde es mich von der Arbeit abhalten – ich brauche Ruhe, um zu schreiben –, aber abends hält es mich vom Grübeln ab. Ich atme das Stimmengewirr ein, sauge es auf, es umhüllt und beruhigt mich. Andere meditieren, um den Kopf frei zu bekommen oder negative Gedanken zu vertreiben. Ich hingegen setze mich allein an die Bar, bestelle ein Glas Wein oder einen Negroni und höre hin. Jeder Ort hat sein eigenes Stimmengewirr, eine eigene akustische Signatur. Darum könnte ich die Geräusche meiner Lieblingsbars und -restaurants unter Tausenden wiedererkennen: das Geräusch der Zapfanlage, der sich öffnenden Kühlschränke, die Art, wie die Stimmen von den Wänden abprallen, sich Stühle und Hocker über den Boden schieben. Ich lausche den Gesprächen und Fragen der Kunden und Kundinnen, nehme Seitenblicke wahr, die verschränkten Arme, die hinters Ohr gekämmten Haare, die neuen Schuhe, den Lidstrich, die Bücher, in denen jemand blättert, während er auf eine Verabredung wartet. Ich versuche zu erraten, wer ein Kollege ist, wer eine Freundin, vielleicht auch Geliebte oder ein bereits Verliebter ist, der seine Frau betrügt; wer sich langweilt, wer nur auf der Durchreise ist in diesem Café, dieser Bar, diesem Restaurant, dieser Stadt, diesem Land. Ich höre alles, ich sehe alles. Ich werde unsichtbar.
Interview mit der Autorin
Wie können wir angesichts der Lage der Welt noch gemütlich in einem Café sitzen?
Nora Bouazzouni: Erlauben Sie mir, diese Frage mit einer anderen zu beantworten: Was würde sich an der (verzweifelten) Lage der Welt ändern, wenn wir aufhören würden, Cafés zu besuchen?
Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
NB: Beides! Eine halbe Stunde lang an derselben ausgepressten Orange nippen; eine Vorspeise oder zwei Nachspeisen bestellen; seinen Kummer in Chenin Blanc ertränken … Das könnte man auch zu Hause tun, aber es würde sich anders anfühlen. Man geht in ein Café, um zu trinken oder zu essen, aber auch um zu sehen (oder gesehen zu werden), sich auszutauschen, zuzuhören, zu riechen … Die soziale Interaktion beginnt, sobald man durch die Tür tritt, unabhängig davon, ob man sich entscheidet, andere Gäste anzusprechen oder nicht.
Hat das Café heute noch eine soziopolitische Bedeutung? Wenn ja, welche?
NB: Cafés haben zahllose soziale und darum auch politische Funktionen: Sie durchbrechen die Isolation, fördern Begegnungen und Diskussionen … Sie sind Orte der Geselligkeit, der Pause oder des Feierns, aber auch der militanten Organisation und damit der politisch gefärbten Geselligkeit: Anfang des 20. Jahrhunderts trafen sich die Arbeiterbewegungen mangels geeigneter Räumlichkeiten in Cafés!
BIO
Nora Bouazzouni, geboren 1986, lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Videos und Podcasts vor allem mit den Themen Ernährung, Gender und Serien. Ihr letztes Buch, „Violences en cuisine, une omerta à la française“, ist im Mai bei Stock erschienen. Außerdem hat sie drei Essays im Nouriturfu-Verlag veröffentlicht: „Mangez les riches – La lutte des classes passe par l’assiette“ (2023), „Steaksisme – En finir avec le mythe de la vege et du viandard“ (2021) und „Faiminisme – Quand le sexisme passe à table“ (2017).