Daniel Wisser | Café Wortner, Wien
Foto: Alain Barbero | Text: Daniel Wisser
Salzstangerl
Zu der Zeit, als es noch keine Salzstangerl ohne Salz gab, entfernte der Volksschullehrer Winter, der die 1. und 2. Klasse unterrichtete, jenen Schülerinnen, die danach verlangten, in der großen Pause das Salz durch Reiben des Salzstangerls an der Türklinke des Turnsaals. Eines Tages fragte er dabei eine Schülerin, die ein blaues Auge hatte, wobei sie sich verletzt habe. Das sei in der Religionsstunde passiert, antwortete die Schülerin, nahm ihr Salzstangerl und rannte davon. Der Lehrer Winter beschloss, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Er erzählte der Direktorin Hackl, ihm sei schon mehrmals berichtet worden, dass dem Pfarrer Reisinger, der in der Volksschule Religion unterrichtete, bei den Schülern die Hand ausgerutscht sei. Er sei überzeugt, man müsse auch dem Herrn Pfarrer klarmachen, dass Prügelstrafe nicht mehr zeitgemäß sei, sagte Winter. Die Direktorin schüttelte den Kopf. »Das ist wohl ihre Privatmeinung«, antwortete sie. Und sie fügte hinzu: »Es ist übrigens auch meine Privatmeinung, aber sie hat sich eben bisher nicht durchgesetzt.« Zwei Tage später kam die Mutter des Mädchens mit dem blauen Auge, als sie die Tochter von der Schule abholte, auf den Lehrer Winter zu. Sie blickte ihn vorwurfsvoll an und sagte, ihre beiden Söhne seien Ministranten und sei wolle mit dem Pfarrer keine Schwierigkeiten bekommen. Der Lehrer Winter solle sich in den Religionsunterricht ihrer Tochter nicht einmischen und auch gefälligst ihre Salzstangerl in Ruhe lassen.
BIO
Daniel Wisser geb. 1971 in Klagenfurt, lebt seit 1989 in Wien. 2003 erscheint sein Debutroman „Dopplergasse acht“. Seither erschienen fünf Romane und eine Sammlung von Prosaminiaturen mit dem Titel „Unter dem Fußboden“ (2019), die ständig weiter wächst. Für den Roman „Königin der Berge“ (2018) wird er mit dem Österreichischen Buchpreis und dem Johann-Beer-Preis ausgezeichnet. Für 2021 ist der Roman „Wir bleiben noch“ angekündigt. Webseite: www.danielwisser.net