Mathilde Ramadier | Würgeengel, Berlin
Foto: Alain Barbero | Text: Mathilde Ramadier | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl
Ist die Euphorie der letzten Feiertage vergangen, liegt etwas Tristes in diesen Wintertagen, die einer nach dem anderen vorbeiziehen. Eine rasende Flachheit. Als ob die Flachheit eine Geschwindigkeit hätte.
Jedes Aufwachen im Oktober erinnert mich an diese unvermeidliche Katastrophe: Alles, was wir im Sommer genossen haben, ist von den Wolken weggewischt, die bleiben. Die Zeit der toten Blätter herrscht wieder, die Dunkelheit beschleunigt die Schwärze der Dinge, ich flüchte mich daher in die Hochstapelei der glücklichen Menschen, in die lässige Pose der Bohemiens, die über die gepflasterten Straßen Berlins spazieren, sie, die nicht akzeptieren, dass die schöne Jahreszeit nicht ewig dauert.
Frühmorgennebel, Sonne im Osten. Unwillig schlüpfe ich in eine dicke schwarze Legging. Ich überquere die Straße und laufe mit weit ausgreifenden Schritten über die lockere Erde den Kanal entlang. Kilometerweit. Diese verbrauchte Erde, ihr Geruch. Eine Mischung aus Schlamm, Stadt, herbstlichem Nieselregen und, vor allem, tausend Blätterschichten. Eine pflanzliche Note, eine herbe Süße, ohne welche die Stadt nur Beton wäre.
Das Laufen gibt mir ein irres Gefühl von Freiheit. Ich komme überall hin. Ich erforsche die vergessenen Gebiete meines Lebens, ich sortiere die Gedanken nach Bequemlichkeit. Schwebend, verdrängt oder wiedergefunden sprudeln sie an jeder Straßenecke Kreuzbergs hervor. Denn wir beginnen einander gut zu kennen, diese, jene, ich.
Nach der Brücke und den Resten einer berühmten Mauer streichle ich einen anderen Arm des Kanals entlang, gesäumt von Kirschbäumen, übersät von hohlen Kastanien. In eine Halb-Ruhe getaucht sind zwei von Piratenfahnen flankierte Kähne neben einer Trauerweide vertäut. Ein metallener Fußabstreifer wurde aus Bierkronkorken hergestellt, die man nach Plan in die feuchte Erde gedrückt hat, sodass sie einen Anker formen. Im Vorbeilaufen steige ich mit der Ferse darauf und versenke ihn etwas tiefer im tausendjährigen Boden.
Interview mit der Autorin
Was bedeutet die Literatur für dich?
Mathilde Ramadier: Die Literatur ist für mich eine Notwendigkeit, eine Anwesenheit in der Welt. Ich habe es sicherlich gewählt, aus dem Schreiben meinen Beruf zu machen, ich habe dafür gekämpft, aber ich habe es niemals gewählt, zu schreiben. Ohne Literatur, ohne das Lesen wäre mir jede Fähigkeit der Sublimierung genommen, ich wäre wahrscheinlich unerträglich.
Was bedeuten für dich die Cafés?
MR: Die Cafés sind für mich der erste soziale Ort, derjenige, an dem man für die Dauer eines Glases am Tresen bei Null anfangen kann, dem Anderen begegnen, wer oder was auch immer das sein mag. Ich bin ein Nachtvogel. Ein Café, das wäre das erste, was ich schaffen würde, wenn ich in einem verlassenen Dorf ankäme.
Warum hast du die Bar Würgeengel gewählt?
MR: Der Würgeengel ist eine mythische Bar von Kreuzberg, in der man ausgezeichnete Cocktails zu trinken bekommt. Seine spezielle Aura, der Tresen aus Zink, der rote Samt, diese köstliche Mischung aus Geheimnis, Glamour und Antiquiertheit machen einen typischen Berliner Treffpunkt aus ihm.
Was machst du, wenn du nicht in den Cafés bist?
MR: Wenn ich nicht in den Cafés bin, trinke ich einen Kaffee zuhause, ich schreibe, lese, arbeite viel, ich sehe meinen Kindern beim Großwerden zu und von Zeit zu Zeit brechen wir in Richtung der Schönheit des Südens auf.
BIO
Die 1987 im Departement Drôme geborene Mathilde Ramadier ist Autorin von Essays und Graphic Novels. Die ausgebildete Philosophin und Psychoanalytikerin hat Paris vor zehn Jahren in Richtung Berlin verlassen. Ihre Bücher werden unter anderem bei den Verlagen Actes Sud, Futuropolis, Premier Parallèle, Dargaud und Seuil herausgegeben. Sie ist auch Übersetzerin aus dem Deutschen und dem Englischen. Sie schreibt für Philonomist, ein neues Medium des französischen Magazins „Philosophie“, produziert Podcasts und hält philosophische Vorträge.