Natacha Henry | Les Bancs Publics, Paris
Foto: Alain Barbero | Text: Natacha Henry | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach
Kühn stellt die Rue de Nantes eine Verbindung zwischen der großen Avenue de Flandre und dem freundlichen Kanal de L’Ourcq her. Man ist im bescheidenen 19. Arrondissement von Paris, mit seinen Hochhäusern, seinen An- und Verkaufsläden für recycelte Telefone, dem Fastfood Chicken’s King mit seinem intriganten Apostroph. Am Ufer des Kanals sitzt Les Bancs publics, das Café-Restaurant des Viertels. Jahrelang konnte man nicht in sein Inneres hineinsehen. Eines schönen Morgens begannen sie mit ehrgeizigen Renovierungsarbeiten, bauten eine riesige Glasfront ein. Boboïsation* vielleicht. Vor hundert Jahren beförderten Arbeitskähne Kohle und Tonnen von Ziegelsteinen über denselben Wasserarm. Man hörte die Schlachthäuser wüten. Die Männer bogen sich unter dem Gewicht der Kadaver, die Frauen verdarben sich die Augen beim Aussortieren der Schweineborsten, aus denen Haarbürsten gemacht wurden. Heutzutage führt man hier lebendiges Straßentheater auf und Alternativ-Treffpunkte sind zur „Petite Ceinture“** hin geöffnet. Es gibt Punsch in Einmachgläsern, Bio-Viognier, ein Menü auf der Kreidetafel. Alain Barbero und ich besetzten den Platz über Stunden. Wir teilten uns einen Café crème und einen Cappuccino, sprachen über Bildbände und europäische Hauptstädte, als wir feststellten, dass Homeoffice nicht vom Arbeiten abhält – die anderen Gäste hatten sich nach und nach in Luft aufgelöst. Auf dem goldenen Wasser des Kanals segelte ein weißer Schwan in Richtung der Place Stalingrad.
* Bem.: etwa wie „Gentrifizierung“
** Petite Ceinture: alte Bahnlinie, die die Stadt im 19. Jh umrundete
Interview mit der Autorin
Was kann Literatur?
Natacha Henry: In der Jugendliteratur, in der ich meine letzten Bücher veröffentlicht habe, kann man viel tun. Ich schreibe über Figuren, die alles gegeben haben, junge Menschen, deren Ambitionen Realität werden. Marie und Bronia (über die Jugend der Marie Curie), Rosa Bonheur l’audacieuse* … Vorbilder! Ein Schüler sagte mir kürzlich: „Ich habe nie ein Buch gelesen, bevor die Lehrerin uns zwang, Ihres zu lesen, und ich habe es in einer Nacht beendet.“ Das ist großartig.
*Beide bei Albin Michel Jeunesse
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
NH: Das Café, das ist Freiheit. Das kommt noch aus der Gymnasialzeit, als wir uns nach dem Unterricht ins Café des Arts stahlen. Man nahm einen Entkoffeinierten, das billigste Zeug, und dieses Wort „Entkoffeinierter“ klang erwachsen. Wir saßen bei der Jukebox, legten Je ne t’écrirai plus (Ich werde dir nicht mehr schreiben, Anm.) von Claude Barzotti auf. Die Jungs spielten Flipper. Meine Freundin verkündete mit ernster Miene: „Ich bin sicher, er wird ihr trotzdem wieder schreiben.“ In dem Lied gibt es diesen schrecklichen Satz „la tempête a cessé, j’ai fini de t’aimer“ – Der Sturm hat aufgehört, ich habe aufgehört (hier: Ich bin fertig damit, Anm.), dich zu lieben. Das heißt dann, dachte ich mit 15 Jahren, dass man damit fertig sein kann, jemanden zu lieben?
Wo fühlst du dich zu Hause?
NH: Zu Hause, das sind die Orte, zu denen ich eine langfristige Beziehung habe: der Gare du Nord, der Terminal 2D in Roissy, das Bassin de la Vilette, Southbank in London, eine Bar in Florenz, ein Café in Spanien, irgendeine Bibliothek, die meisten Theater, Buchhandlungen, Wälder und Schwimmbäder.
Bio
Natacha Henry hat ziemlich früh verstanden, dass man etwas Nützliches tun sollte, um sich Beständigkeit zu verschaffen. Diplomiert an der Paris IV Sorbonne und der London School of Economics, schrieb sie 12 Bücher, Essays, Biographien und Jugendromane. Sie preisen die Vorzüge des Optimismus´ und der Solidarität. Gleichzeitig ist sie internationale Beraterin in sexistischen Fragen beim Europarat. Sie hat ihren Platz in der kosmopolitischen, feministischen und aufgeklärten Welt gefunden.
natachahenry.com