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Norbert Gstrein | Café Leonar, Hamburg

Foto: Alain Barbero | Text: Norbert Gstrein

 

Seit einiger Zeit schon sitze ich, wenn ich in Hamburg bin, am Morgen im Café Leonar am Grindelhof, um dort die Neue Zürcher Zeitung zu lesen und die Süddeutsche durchzublättern, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setze. Davor gehe ich in das dem Abaton Kino gegenüberliegende Balzac Café und lese dort die FAZ. Ich sehe streng zu, dass die ganze Prozedur nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nimmt. Im Leonar ist mein Platz nicht auf dem Sofa wie auf dem Bild, das Alain Barbero von mir gemacht hat, sondern an einem kleinen runden Tischchen mit Blick aus dem Fenster direkt daneben. Das Café öffnet um acht Uhr am Morgen, und ich treffe gewöhnlich zwischen acht Uhr zehn und acht Uhr zwanzig ein und bin mir meiner Zwanghaftigkeit und Schrulligkeit durchaus bewusst. Wenn ich zu glauben anfange, dass die Kellnerinnen und Kellner über den merkwürdigen, nicht mehr jungen Mann zu sprechen beginnen, den ich für sie darstellen muss, bleibe ich ein paar Tage lang weg und starte irgendwann den nächsten Zyklus. Ich betrete das Café dann wie zum allerersten Mal, ein Doppelgänger oder Stellvertreter meiner selbst, und bin am zweiten Tag schon wieder Stammgast. Neulich hat mich eine andere Besucherin des Cafés offensichtlich mit einem österreichischen Schriftsteller verwechselt und mir von dessen jüngstem Buch vorgeschwärmt. Sie hat gesagt, sie sei selbst aus der Buchbranche und sie werde es sich über ihre Kanäle kommen lassen. Ich wollte sie nicht fragen, warum sie dafür Kanäle benötigte und es nicht einfach kaufte wie andere Menschen auch, aber diese Formulierung und ihr Gehabe als ausgewiesene Vertreterin der Hamburger Kulturwelt haben mich zutiefst demoralisiert. Deshalb habe ich mir vorgenommen, das Café den ganzen Winter nicht mehr zu betreten und lieber an die Elbe zu gehen und den Möwen zuzusehen, nach Tirol zurückzukehren und Skilehrer zu werden oder ein für alle Mal nach Australien auszuwandern und dort Schafe zu züchten.

 


BIO

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis, den Uwe-Johnson-Preis und 2019 den Österreichischen Buchpreis. Bei Hanser erschienen: „Die Winter im Süden“ (Roman, 2008), „Die englischen Jahre“ (Roman, Neuausgabe 2008), „Das Handwerk des Tötens“ (Roman, Neuausgabe 2010), „Die ganze Wahrheit“ (Roman, 2010), „In der Luft“ (Erzählungen, Neuausgabe 2011), „Eine Ahnung vom Anfang“ (Roman, 2013), „In der freien Welt“ (Roman, 2016), „Die kommenden Jahre“ (Roman, 2018) und „Als ich jung war“ (Roman, 2019).