Philippe Marczewski | Le Kleyer, Lüttich (Belgien)

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Marczewski | Übersetzung aus dem Französischen: Kurt Ryslavy

 

Ich gehe im Winter gerne vormittags ins Kleyer, wenn das schwache Sonnenlicht durch die kleinen grünen Fenster fällt und auf die Tische scheint – abgenutzte Tische, die schon seit Ewigkeiten dort zu stehen scheinen. Das gefällt mir vielleicht am besten. Um diese Zeit sind nicht viele Leute da, man hat das Gefühl, den Raum für sich allein zu haben. Es ist eine gute Zeit zum Lesen oder um nichts zu tun und einfach nur die Wintersonne zu genießen.

Gegen 17 Uhr ist es anders. Ich komme herein, es herrscht ein Höllenlärm, meine Brille beschlägt sich. Ich muss mich mit einer Tischecke begnügen, die mir Fremde überlassen. Seltsamerweise ist das meine Lieblingszeit zum Arbeiten. Wenn ich beispielsweise bei einem Text nicht weiterkomme oder mich mehr als sonst schwer tue, mich aus den unergründlichen Zweifeln zu befreien, die das Schreiben mit sich bringt, reicht eine einstündige Arbeitssitzung, umgeben vom Trubel im Kleyer am Ende des Tages, um mich wieder aufzurichten. Um die Maschine anzukurbeln. Ich kann es mir nicht erklären.

Das Kleyer liegt am Rande des bourgeoisesten Viertels der Stadt. Dennoch ist es ein beliebtes Café, und je nach Tageszeit kann man dort sehr unterschiedliche politische Gespräche hören. Alte Konservative sitzen neben progressiven Aktivisten. Außerdem ist es ein Café der Fans des Royal Football Club Liégeois, in dem sich auch viele Fans des anderen Clubs, Standard de Liège, treffen. Kurz gesagt, es ist das, was ich einen Ort der Reibung nenne: ein nicht sehr großer Raum, in dem die Wäsche sozusagen wie in der Trommel einer Waschmaschine durchgeschüttelt wird.

Ich habe viele Freunde, die das Kleyer besuchen, aber ich treffe sie fast nie zufällig. Das ist für mich ein weiteres großesRätsel.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur bewirken?
Philippe Marczewski: Eine Form der Sprache suchen, um auszudrücken, wer wir sind.

Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
PM: Selbst die wenigen reinen Konsumenten, die ich gekannt habe, suchten ein wenig soziale Interaktion. Es sind Orte, an denen man mit der Welt in Berührung kommt, mit Freunden wie mit Fremden.

Wo fühlst du dich zu Hause?
PM: Bei den Menschen, die ich liebe; in einer offenen Landschaft mit einem riesigen Himmel; und in einigen Städten, mit einem Buch und etwas zum Schreiben.

 

BIO

Philippe Marczewski ist Schriftsteller und Lehrer. Seine ersten beiden Bücher wurden vom Verlag Inculte veröffentlicht: Blues pour trois tombes et un fantôme (2019), eine melancholische Erzählung, die die Stimmungen seiner Heimatstadt Lüttich erkundet, und Un corps tropical (2021), ein bissiger Roman über zeitgenössische Abenteuer (Prix Victor Rossel, besondere Erwähnung der Jury des Prix Senghor). Im März 2024 veröffentlichte der Verlag Éditions du Seuil seinen Roman Quand Cécile (besondere Erwähnung beim European Union Prize for Literature, 2025), der ohne Traurigkeit von Abwesenheit, Trauer, Erinnerung und Vergessen handelt. Er schreibt eine Rubrik über die Erkundung des Territoriums in der Zeitschrift Imagine Demain le monde und veröffentlicht verschiedene Artikel und Chroniken in der Zeitschrift Wilfried.