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Anne Morelli | Brasserie Verschueren, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Anne Morelli | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach  

 

Ich habe mich für dieses Treffen mit Alain Barbero in der Brasserie Verschueren verabredet. Ihr Geschäftsführer, Bertrand Sassoye, ist mir sympathisch und wir teilten eine Reihe von Ideen. Doch eines Tages trennten sich unsere Wege …
Ich habe 100 Mal in meinem Leben gegen die Banken und ihre Betrügereien gedonnert, indem ich gesagt habe: „Man sollte denen eine Bombe reinwerfen“. 
Trotz dieser Behauptung habe ich es nie getan, aber Bertrand Sassoye schon! 
Die Gruppe, der er angehörte (die „Cellules communistes combattantes“) achtete darauf, nur die wenig vertretbaren Symbole des Kapitalismus anzugreifen: Unternehmen, die Waffen produzierten, Banken, Räumlichkeiten der NATO oder der Gendarmerie, das Rekrutierungsbüro der Armee. Diese Anschläge (etwa zwanzig) waren so geplant, dass sie niemals Unschuldige treffen sollten.
Doch am 1. Mai 1985 führt ein Übermittlungsfehler zum Tod von zwei Feuerwehrmännern.
Die Gruppe wird Ende desselben Jahres verhaftet und 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt. 
Als das Datum ihrer möglichen bedingten Haftentlassung erreicht ist, bleiben sie jedoch bis 2000 und 2003 in Haft. 
Mörder, die Frau und Kinder getötet haben, werden nach sieben oder acht Jahren Haft wegen guter Führung freigelassen, aber sie mussten beweisen, dass sie ihren Ideen abgeschworen hatten.
Vielleicht durch eine öffentliche Erklärung, dass der Kapitalismus von nun an moralisch sei?
Ich bin einem ganz anderen Weg als sie gefolgt.
Durch das Unterrichten an der Universität und die Populärwissenschaft der Kämpfe der Vergangenheit versuchte ich, ganze Generationen (1200 Studenten besuchten jedes Jahr meinen Kurs über historische Kritik an der Universität Brüssel) für kritisches Denken und Handeln zu sensibilisieren. 
Meine Art, bei jungen Menschen die Samen gegen Verzweiflung und das Gefühl der Ohnmacht, die sie allzu oft befallen, zu säen.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Weltlage noch gemütlich in einem Café sitzen? 
Anne Morelli: Während Tausende unschuldiger Menschen aus ihrem angestammten Land vertrieben, deportiert, bombardiert, ausgehungert und ermordet werden, vor unseren Augen, kann es sicherlich unpassend erscheinen, sich gemütlich in ein Café zu setzen, um dort sein Lieblingsgetränk zu genießen. 
Aber das Café kann auch – fernab der Überwachung durch unsere Mobiltelefone – ein Ort der Begegnung, des Gesprächs, der Entwicklung von Projekten sein. Ein Ort des Widerstands gegen lügende Medien,  gegen mitschuldige Politiker. Ist die Französische Revolution etwa nicht in Cafés gereift?

Kann Literatur noch die Welt retten? / Warum noch schreiben und lesen? 
AM: Tausende von Büchern – und sei es nur auf Französisch – werden zu jedem „literarischen rentrée“ veröffentlicht. Und jedes Jahr werden Hunderttausende von Exemplaren dieser Bücher in den Reißwolf geschickt. 
Jeder Autor glaubte, ein geniales und einzigartiges Werk geschrieben zu haben. 
Der „Markt“ des Verlagswesens hat nur die „rentablen“ Bücher behalten, die ihre Werbung zum Erfolg führt. 
Künstliche Intelligenz ist, wie es scheint, in der Lage, Romane zu schreiben. Ich bezweifle das nicht (die Regale der Buchhändler sind voller Unsinn), aber wird sie mit „Krieg und Frieden“ konkurrieren können? Bescheiden gesagt, ich freue mich, dass einige meiner Bücher einen politischen Einfluss hatten: gegen die nationalistische Dummheit zum Beispiel, die in jedem Land die Geschichte verdreht, um sich selbst als besonderes Volk darzustellen. 
Oder um die Leser vor Kriegspropaganda zu warnen, indem sie deren immer ähnliche, immer wirksame Mechanismen entlarvt.

Kann es eine literarische Sprache für Aktivismus geben? Oder ist das (bei dir) getrennt? 
AM: Es gibt keine spezielle Sprache für den Aktivismus, aber für ein breites Publikum verständlich zu schreiben und zu sprechen ist unerlässlich, wenn man seine Ideen verbreiten will. Das bedeutet nicht, dass man seine Gedanken extrem vereinfachen muss, aber man muss sie so ausdrücken, dass sie gehört werden. Eine Anstrengung, die nicht alle „Intellektuellen“ auf sich nehmen …

 

BIO

Anne Morelli ist Historikerin und Honorarprofessorin an der Universität Brüssel (ULB). 
Die von ihr herausgegebenen Sammelbände bieten eine andere Geschichte als die klassische Version des Nationalismus: die Geschichte der Rebellen, der Subversiven, der Ausländer, der emigrierten Belgier und Kriegsflüchtlinge … Ihr kleines Buch „Principes élémentaires de propagande de guerre“ (Elementare Prinzipien der Kriegspropaganda) ist zu einem Klassiker geworden, der regelmäßig aktualisiert und in acht Sprachen übersetzt wurde, darunter Japanisch und Esperanto.

Nika Pfeifer | Wiels’ CAFÉ, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Nika Pfeifer

 

Ein Ort tut so, als wäre er offen, und ist es! Das WIELS. Kein Museum, sondern ein Experimentierfeld, ein Möglichkeitsraum, eine ehemalige Brauerei, die sich weigert, bloß Vergangenheit zu sein. Die riesigen Kupferkessel glänzen immer noch. Nicht, um zu erinnern. Sie sind Oberfläche von etwas, das bleibt, ohne da zu sein. Im WIELS ist nichts einfach da und alles bleibt Spur. Man wird Teil dieses Spiels. Jeder Gang durch die Räume: eine Verschiebung. Jüngst bei Willem Oorebeek: Fantastisch! Wie er Buchstaben und Text in dreidimensionale, performative Medien verwandelt, künstlerische Objekte, die Schrift als Bild, Plastizität und Raum erlebbar machen, spiegeln (uns), was mit unseren Augen passiert, wenn wir Bilder en masse konsumieren. Seine BLACKOUT-Serien sind ästhetische Absperrung und Einladung zugleich: Schwarze Tintenfelder, durch die das Bild wie ein Schatten schimmert, es verschwindet nicht, es fordert Nähe: Komm näher, verändere deinen Standpunkt, dein Licht. Sehen wird zur Geste, Raumwahrnehmung zur Bewegung. Licht, Fläche, Konstruktion von Sichtbarkeit, alles wird Thema. Dies nur ein Mini-Eindruck von vielen Besuchen, DENN: Vor allem ist da das Café, das Interface im Erdgeschoss. Kaffee? Ja. Kaffee! Oder Tee. Manchmal Bier, ironiquement genoug. In dieser Architektur mit ihren irrsinnig hohen Fenstern, Licht in jeder Ritze, egal ob draußen Regen fällt oder Dunst hängt. Das Licht wirft immer wieder neue Winkel in den Raum. Die Suppe dampft, Eiswürfel klackern, der Raum erzeugt Resonanz, durch Lichtreflexe, Geräuschspuren, sachte Bewegungen. Tische laden zum Schreiben ein, Stühle zum Zuhören. Gedanken werden durch die Architektur geführt, abstrahieren, fragmentieren, setzen sich – und uns – neu zusammen. Das WIELS funktioniert, weil es Raum lässt. Für alles, auch für das, was man nicht gesucht hat. Und wenn man geht, nimmt man was mit: Bilder, Fragen, Ideen, Begegnungen, neue Freund*innen. Das WIELS bleibt die Bühne, auf der sich all dies abspielt. Bis auf montags. Da ist geschlossen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Nika Pfeifer: Hm, was kann Literatur…? Ich würde sagen: vieles, wenn nicht ALLES. Alles, was im Auge des Betrachters, der Betrachterin liegt. Niemand kann das wissen oder vorhersagen. Auf jeden Fall kann sie das, was hinter den Augen liegt, zum Leuchten bringen. Große Magie.

Ist das Café eher Rückzugsort, Ort der Sammlung oder Versammlung?
NP: Ein Rückzugssammlungversammlungsortortort, würd ich sagen. Alain hat mich nach meinem Lieblingscafé in Brüssel gefragt, und es sind mir so viele sensationelle Orte eingefallen, traditionelle Cafés, Bars, coole Kneipen, Brasséries, auf gut Wienerisch Beisln, dass die Wahl schwer fiel. Das Café WIELS habe ich gewählt, weil es einer meiner ersten Schreiborte in Brüssel war. Es kombiniert alles, was meine Gedanken in Bewegung setzt. Ein Möglichkeitsraum. Kein statisches Museum, sondern ein lebendiges Experiment, wo Kunst produziert und erlebt wird. Was ich daran mag: Es ist ein transformativer Ort. Er zeigt nicht nur, er tauscht aus.

Wo fühlst du dich zu Hause?
NP: Zwei Ideen:
zuhause: eine koordinate
aus sehnsucht & abwesenheit
Und:
„willkommen zuhause“
lese ich & frage mich wo
dieses zuhause eigentlich wohnt
PS: Sylvia Petter hat es so wunderbar in einem Kürzestgedicht formuliert:
I don’t belong,
I long to be.

 

BIO

Nika Pfeifer ist als Autorin und Künstlerin zwischen Wien, Brüssel und in internationalen Projekten tätig. Sie wurde u. a. mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet, war Max Kade Fellow in den USA und Gastdozentin an internationalen Universitäten. Pfeifer arbeitet an der Schnittstelle von Literatur, Kunst und Film; ihr Werk umfasst Lyrik, Prosa, Radioarbeiten und Kurzfilme. 2024 erschien ihr Lyrikband TIGER TOAST bei Ritter, begleitet von Publikationen in internationalen Zeitschriften und Anthologien.

Philippe Remy-Wilkin | Le Relais Saint-Job, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Remy-Wilkin | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Das Relais de Saint-Job ist für mich der ideale Ort für Treffen und für die Aufhebung der Zeit, gleichermaßen streichelt es das Zentrum meines Dorfes, den Saint-Job-Platz, dieses Wunder der Heiterkeit und der Verwurzelung mitten im Zentrum, mein Montmartre für mich und für viele andere, dieses Paradies für Künstler und Bobos*, mit ihrer Kirche, ihren Schulen, ihrer Frittenbude und ihren gastronomischen Aushängeschildern. Wie eine Erweiterung meines Home sweet home 100 Meter weiter, ein Ort auf halbem Weg, und wie eine Schleuse zwischen Identität und Andersartigkeit. 
Ich widme mein Leben der Geschichte und den Geschichten, und sie strömen in dieser alten Poststation zusammen, sie laufen entlang der Balken, der Holzvertäfelung, der Fliesen und der Tische. Mehr noch: das Relais scheint meinen Sehnsüchten zu ähneln oder fasst sie zusammen, es metaphorisiert sie. Die Genüsse vergangener Zeit, aber Modernität und Eklektizismus; Anspruch, aber Treue und Komfort. Das freundliche Personal, das man gerne wiedersieht, die Bar im hinteren Teil mit ihren hohen Tischen und Hockern, der Festsaal, der Partyservice, die Terrasse frontal zum Platz, und die andere über den Dächern. Die frischen, immer wieder neuen Produkte, aber meine ewige Verbindung zum Wolfsbarschfilet oder zum Estragon-Hähnchen. 
Ich habe dort einen Blick auf Stars erhascht (Paul van Himst), mit Persönlichkeiten (Jacques De Decker, Albert-André Lheureux, Joëlle Maison, Jean-Marc Rigaux, Maxime Benoît-Jeannin, etc.), Eltern, Freunden, Kameraden, zu Mittag oder zu Abend gegessen. Hier wurden Eintritte in den Ruhestand und der Start neuer Projekte, Geburtstage und Wiedersehen gefeiert.
Und dieses göttliche Relais ist sieben Tage die Woche geöffnet, ab 12 Uhr wird man zu jeder Stunde empfangen. Brasserie-Küche, aber anspruchsvoll, sehr gut bewertet, ganz im Sinne unserer Gemeinde im Süden Brüssels, die Qualität ohne Tamtam den Zufälligkeiten der Moden und Gegen-Moden vorzieht. 

*Abkürzung für „bourgeois-bohème, ironisch, denn die andere Bedeutung für bobo ist „Wehwehchen“ (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Philippe Remy-Wilkin: Die Literatur erschien mir immer wie ein Weg zum Über-Leben. Die Wirklichkeit ist nicht mehr als ein Schein unter vielen, man kann genauso die Welten wählen, in denen man herumbummelt, die Gefährten, die sich dort einschleichen. Nichts existiert ganz ohne das Erzähltwerden, eine Intensivierung, eine „Metaphorisierung“. 

Wie wichtig sind Cafés für dich?
PRW: Die Cafés und Restaurants sind für mich Orte, in denen die Zeit aussetzt, und der Begegnung, fernab der Arbeit und der Zufälligkeiten des Lebens. Sie müssen ein Dekor, eine Atmosphäre bieten, die dafür gemacht sind, das Wohlbefinden zu maximieren. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
PRW: Zunächst in meinem Büro, auf der vierten von vier Ebenen unseres Wohnsitzes, isoliert, inmitten meiner Bücher und Unterlagen, wenn meine Augen über die sattgrüne Fläche gleitet, die bis über meine Straße geht, ihrem geheimnisvollen Gässchen und ihrem Bauwerk weiter oben, wo ich den Schatten der „Bates“ erahnen kann. Zum anderen sind da einige Orte außerhalb, die für mich ein süßes Gefühl der Harmonie widerspiegeln, das ich notwendigerweise als Paar erlebt habe, in Brügge, Damme, Linkebeek oder Beersel, in Le Coq oder in Tournai, in Saint-Véran oder Bonneval. 

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BIO

Philippe Remy-Wilkin, geboren in Brüssel während einer familiären Pause zwischen afrikanischen und hennuyèrischen Jahren, navigiert zwischen dem Appetit auf die große weite Welt und der Anziehungskraft seiner Wurzeln. Nach dem Philologie-Studium organisiert er sein Leben um das Schreiben herum, das er zwischen kreativem Schaffen und dessen Vermittlung teilt (bislang 19 Bücher und über 400 veröffentlichte Artikel). Im Jahr 2024 gibt er seine Radio-Chroniken auf, um Verleger zu werden, auf Anfrage von Edern éditions, die ihr Geschäftsmodell komplett verändern wollen.
http://philipperemywilkin.com

Corinne Maier | Goupil Le Fol, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Corinne Maier Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Es ist im Café Goupil le Fol in Brüssel, in dem wir uns 2023 treffen, Alain Barbero und ich. Was für eine Freude, ihn wiederzusehen! Wir haben uns Anfang der 1980er Jahre kennengelernt. Alain war ein Jugendfreund von Serge, meinem damaligen Freund; wir waren zwanzig Jahre alt. Aber wir verloren uns aus den Augen, Alain und ich. Ich erinnere mich, dass Alain sich schon in den 80er Jahren neben seiner beruflichen Tätigkeit viel mit Fotografie beschäftigte. Ich selbst hatte überhaupt keine Ahnung, dass ich eines Tages Bücher schreiben würde. Ich war im Leben mehr auf Abwegen als Alain, der schon wusste, wohin er wollte.
Alain bei einer Fotosession zu erleben, ist wirklich eine erstaunliche Erfahrung: Er kreist und schwirrt um sein Objekt herum, während er auf den richtigen Moment lauert. Es ist ein langer Prozess, länger als bei den meisten Fotografen. Der Dialog spielt dabei eine große Rolle. In einem ganz anderen Bereich aber ist er mir ähnlich: Ich beginne über das Thema für ein Buch nachzudenken und bewege mich dann im Zickzack darum herum, manchmal über einen sehr langen Zeitraum. Ich fühle mich wie ein Scharfschütze, der seine Beute verfolgt und ihr auflauert. Währenddessen lese ich Bücher, unterhalte mich mit Leuten und sperre die Ohren auf. Irgendwann macht es Klick und dann weiß ich, dass ich den richtigen Winkel habe. Jetzt muss ich nur noch schießen!

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Corinne Maier: Große Frage. Keine Illusion, sie kann wenig. Aber das Schreiben beschäftigt diejenigen, die es praktizieren und die, die lesen. Das ist schon mal nicht schlecht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CM: Ich liebe die Nachtbars, wo man mit Unbekannten an der Theke diskutiert, während man einen trinkt. Aber ich gehe nicht tagsüber in Cafés, da sind zu viele Leute, die an ihrem Laptop arbeiten und viele der Cafés in Open spaces verwandeln. „Hinter den Fenstern der Cafés reihen sich die Leute hinter ihren Bildschirmen“, schreibt Ivy Pochada in einem ihrer ausgezeichneten Romane „Visitation Street“. Diese Arbeitenden im Dienstleistungssektor kontaminieren den Ort, sollen sie woanders malochen! Überlassen wir die Cafés den Faulenzern!

Wo fühlst du dich zu Hause?
CM: Ich fühle mich zu Hause in einem Bett, mit einem Stapel Bücher, die ich lesen möchte. Dort ist meine wahre Heimat, das einzige Land, dem ich die Treue halte. Mein Lebensziel ist es, so viel Zeit wie möglich lesend im Bett zu verbringen. Als Kind habe ich beschlossen, mein Leben dem Lesen zu widmen. Ich komme gut voran. Aber ich habe noch alle Hände voll zu tun und hoffe, dieses umfangreiche Programm zu erfüllen. Liegend … 

 

BIO

Corinne Maier lebt in Belgien, mit zahlreichen Abstechern nach Frankreich (Lozère). Sie schreibt Bücher (gesellschaftliche Themen, Geschichte, Humor). Das Schreiben ist ihre hauptberufliche Tätigkeit; sie versucht, so wenig wie möglich zu arbeiten. Sie hat zahlreiche non-fiction Bücher veröffentlicht („Tchao la France“, „Dehors les enfants“…), Drehbücher für Comics („Freud“, „Marx“, „Einstein“, „Mein Leben ist ein Bestseller“, „Monsieur Proust“), und einen Roman („A la conquête de l’homme rouge“). Die bekanntesten sind „Die Entdeckung der Faulheit“, ein bissiger Text über die Welt der Unternehmen, und „No Kid“, ein Pamphlet gegen das Elternsein. Das neueste ist „Me First. Manifeste pour un égoïsme au féminin.“
www.corinnemaier.info

Véronique Sels | L’Ultime Atome, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Véronique Sels Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich halte mich geographisch gerne in einer anderen Umgebung auf, eine, die nicht die der behördlichen Arrondissements ist, sondern der Bevölkerung. Ich liebe Matongé, das größte afrikanische Geschäfts- und Verbände-Viertel Brüssels, Namensvetter des Ausgehviertels in Kinshasa in der Demokratischen Republik Congo. Ich liebe den Saint Boniface-Platz, einst populär und heute gentrifiziert, erobert von dreißigjährigen Beamten der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die nur zum Essen und Trinken hierher kommen. Ich mag es, Deutsch, Englisch, Spanisch und das Ligala innerhalb desselben Perimeters zu hören. Ich mag die unsichtbaren Grenzen, die physische Inkarnation der Städte, ihre Feste, ihre Schlemmereien, ihre Tänze, ihren Widerstand gegen das Ultimatum (Ultimatum: Anordnung, mit der ein Staat einem anderen Staat im Laufe einer Verhandlung bestimmte Forderungen präsentieren muss). Ich liebe das „letzte Atom“ des Widerstands, das in jedem von uns fortbesteht. 

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Véronique Sels: Zunächst mal ist sie ein Ort. Es ist der einzige bewohnbare Ort, was mich betrifft. Der Ort, wo die Realität sich tief durchdringen lässt, wo wir uns wie die Taucher ins Zentrum des Geschehens und der Existenzen herunterlassen (sowohl während des Lesens als auch während des Schreibens). Ich mache keinen Unterschied zwischen Lesen und Schreiben. Schriftsteller und Leser bewohnen dasselbe grenzenlose Land.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VS: Ich bin nicht für das häusliche Leben gemacht. Ich wusste schon sehr früh, dass ich  nicht für die Mahlzeiten sorgen und einen Haushalt führen wollte. Die Cafés, und vor allem die Brasserien, wo man sowohl trinken als auch essen kann, sind für mich Orte der Freiheit und der Emanzipation. Die Gäste sind frei, sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, wenn sie ein angebranntes oder versalzenes Gericht beanstanden. Ich habe große Achtung vor den Kellnerinnen und Kellnern, die mir diese Momente der Freiheit erlauben. 

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
VS: Die ersten fünf Stunden des Tages schreibe ich. Die folgenden lese ich oder ich laufe, durch die Stadt oder den Wald. Laufen und Schreiben sind ganz eng verbunden. Es ist die perfekte Ehe, die des Erzählens und der Bewegung.

 

BIO

Véronique Sels, 1958 in Brüssel geboren. Herzens-Heimatorte: der Tanz und die Literatur. Absolventin des „Institus de Rythmique Émile Jaques-Dalcroze“, unterrichtete sie Tanz und Rhythmik, übte den Beruf der Werbetexterin aus und veröffentlichte 5 Romane, von denen „La ballerine aux gros seins“ (Die Ballerina mit den großen Brüsten) ins Koreanische übersetzt und für das Sinchon Theater in Séoul adaptiert wurde. Als Gewinnerin des Stipendiums „Sarane Alexandrian“ der Société des Gens de Lettres, schrieb sie auch „Même pas mort !“ (Nicht mal tot!), eine fiktionale Biographie über Stéphane Mandelbaum, ein belgischer neo-expressionistischer Maler, der 1968 ermordet wurde.

Philippe Lafitte | Grand Central, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Lafitte | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich habe dieses Café wegen seiner ungewöhnlichen Größe ausgewählt, eine riesige Deckenhöhe, die ich bemerkt hatte, als ich im Auto vorbeifuhr. Und dann ist mein Stamm-Café viel zu schäbig, um Objekt einer Foto-Session zu sein. Zurück zu diesem Lokal an der Kreuzung, die zwei unterschiedliche Orte voneinander abgrenzt, wie Brüssel das so gut kann: den alten Léopold-Park und das Europa-Viertel. Das Abenteuer des Sehens eines neuen Raumes, das sind ja die Voraussetzungen des Schreibens.
Ich kam zu Fuß, während ich im Inneren betete, es möge ein Ort mit sanfter Musik sein, etwas, das einem utopischen Ort gleichkommt, in der Stadt: Ich träume von einem Café, wo die Musik klassisch wäre und die Kunden still. Hier ist es eher wie das Eintauchen in eine post-industrielle Ära, eine gekonnte Mischung aus Betonträgern, Metalllampen und gebrauchten Hockern. Nicht viel los um diese Zeit. Ein paar Führungskräfte schlürfen immerhin melancholisch ein Bier zwischen zwei Besprechungen. Im Hintergrund drei, vier angesäuselte Kunden, die lautstark lachen, als sie sich nachschenken: Lobbyisten, die gerade ihren Sieg feiern?
Ich sehe den Fotografen nicht sofort, aber ich würde Alain mit der Zeit schon entdecken, sogar bis ins Detail, konzentriert hinter dem Auslöser seiner Leica.
Eine lächelnde Fiebrigkeit, Fotos in Serie, einige Anweisungen, was wird das Endergebnis sein?
Vielleicht dieser magische Moment, den er vorher erwähnt hat, wenn das Modell  müde wird, sich dann endlich entspannt. Wenn es sein wahres Ich offenbart, in dem Moment, wo die Barrieren der Pose nachgeben. Alain erwartet mich und lächelt mich an, und, bevor es ernst wird, bestellen wir einen Espresso, der auf einem Barcode gescannt werden muss, womit die Bestellung direkt an die Theke übertragen wird. O tempora, o mores. Das nächste Mal trinken wir ein Glas im alten Café am Place Jourdan, wo ich mich zu Hause fühle. Heute gibt es Gelegenheit, ist vielleicht epischer, Erfahrung mit etwas Neuem zu machen, aber im doppelten Sinn: die Begegnung mit dem Ort und dem Fotografen.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Philippe Lafitte: Immer noch ein Mysterium und eine Offenbarung sein. Eine unerschöpfliche Quelle an Fragen, der Neugier und einzigartiger Welten: Ich spreche hier von meinen Schwestern und Brüdern im Schreiben. Jeder hat mir auf seine Weise seine Welt geöffnet und mein Gefühl für die Existenz verstärkt. Schreiben und Lesen, das heißt tausend Leben leben.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PL: Es ist die Bedeutung des Unbekannten bevor man die Tür aufstößt. In eine Atmosphäre eintauchen, sei sie nun cool, energetisch oder sogar langweilig. Orte, an die man sich flüchtet, wenn es unmöglich ist, zu schreiben, man über seine Einsamkeit hinausgehen will: allein inmitten der Menge sein. Aber Cafés sind vor allem Bereiche der Beobachtung, des Notierens, selten des langen Schreibens.

Wo fühlst du dich zu Hause?
PL: In meinem Arbeitszimmer natürlich, der wichtigste Ort für diese Art des Schreibens, die mich nach 20 Jahren Praktizieren noch immer beeindruckt. Aber von Café zu Café gehen, je nachdem, wohin meine Schritte mich zufällig führen, ein neues Viertel entdecken, eine unbekannte Straße, das ist ein Ritual, das ich mit stets neuem Vergnügen pflege, seit ich in Brüssel lebe. Wenn die Brüsseler Cafés so zahlreich sind wie die belgischen Biere, dann habe ich ja noch Luft nach oben

 

BIO

Philippe Lafitte ist Autor zahlreicher Romane, besonders zu erwähnen Étranger au paradis (Buchet/Chastel), Celle qui s’enfuyait (Grasset) und Vies d’Andy (Le Serpent à Plumes), für den er die Filmadaptation zusammen mit dem Regisseur Laurent Herbiet vorbereitet. Bei Mercure de France erschien Périphéries, sein siebter Roman, der davon handelt, welchen Preis man für seine soziale Emanzipation bezahlt. Der Autor wohnt jetzt in Brüssel, wo er an seinem achten Werk schreibt.