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Watson Charles | Café associatif La Commune, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Watson Charles | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Café de La Commune libre d’Aligre

In einem gleichzeitig schlichten und atypischen Dekor beschert das Café La Commune denjenigen, die auf ein Glas oder zum Diskutieren kommen, heitere Ruhe inmitten des Lärms und des erstickenden Geruchs, die Paris kennt. Vor der mit Plakaten tapezierten Wand, die zur Revolte oder zum Kampf gegen die Ungerechtigkeiten aufrufen, erzählt mir Guillaume von seinem nächsten „Poesie in Freiheit“ genannten Abend, den er einmal pro Monat im Café organisiert. Er lädt Menschen hierher ein, um ihre Gedichte vorzulesen oder auch um Brel oder Ferrat zu interpretieren. Sie an diesem Ort zu befinden ist die beste Möglichkeit, dieser Welt zu entkommen, die wir mitleidslos als schlecht oder als grotesk verurteilen. La Commune ist der Ort, durch den ich die Welt aufgeladen von Melodien wahrnehme, und wo ich länger bleibe, um der Stimme dieses Mannes zuzuhören, der von anderswo kommt und mir von seinem Exil erzählt, von seiner langen, beinahe fantasierten Reise, oder um meinen Kaffee an einer Schulbank zu trinken, während ich einen Blick in die Ecke der Bar werfe, die auch als Küche dient, mit ihren an der Wand hängenden Geräten und dem Kellner mit seiner metallisch-rauen Stimme, der seine Gäste und die Bewohner des Viertels warmherzig empfängt. Der Großstadtlärm rund um das Café d’Aligre erinnert mich an Port-au-Prince. Dieser Ort, an den ich regelmäßig komme, um Freunde zu treffen, ist die Tür geworden, durch die ich die Welt betrete, und ich verirre mich dort tatsächlich. Auf dem alten, an der Wand stehenden Klavier spielt ein Mann Noten, als würde er die diskrete und schöne Stimme einer Frau begleiten, die ein Lied aus ihrer fernen Heimat summt, das von der Arbeit der Menschen auf den Feldern erzählt. In meinem Heft beginne ich meine Gedichte niederzuschreiben, um das Bild dieses gleichzeitig einfachen und erhebenden Moments festzuhalten. 

 


Interview mit dem Autor

Welche Bedeutung haben die Dichtung und das Schreiben von Romanen?
Watson Charles: Ich glaube, dass die Dichtung und der Roman, wie ich es immer gesagt habe, eine der künstlerischen und intellektuellen Formen sind, die uns erlauben, die Realität und das menschliche Wesen in seiner umfassendsten Dimension zu erfassen. Ich lehne jede Hierarchisierung der Genres ab, wie das historisch seit der Antike festgelegt wurde. Auf diese beiden literarischen Genres zurückzugreifen erlaubt es mir, die Welt in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Es stimmt, dass ich durch die Dichtung zur Literatur gekommen bin, aber ich räume auch der Fiktion größte Wichtigkeit ein.

Kann man heute von Engagement in der Literatur sprechen?
WC: Wenn auch das Engagement in der Literatur historisch betrachtet zu einem bestimmten Zeitpunkt als Infragestellung der Souveränität eines Landes und seiner dominanten Kultur aufgetreten ist, so ist es heute nichtsdestoweniger durch die Federn von Schriftstellern präsent, die die Ungleichheiten der kapitalistischen Gesellschaft kritisieren. Ich denke, dass das Schreiben für einen Schriftsteller ein politischer Akt ist. Der Blick, den er auf die Wirklichkeit wirft, erlaubt es, die Welt zu hinterfragen und zu verändern. Ich glaube, Schreiben ist ein Katalysator, der den Menschen sowohl ein individuelles als auch kollektives Bewusstwerden ermöglicht.

 

BIO

Watson Charles hat Literatur an der École Normale Supérieure von Port-au-Prince (Haiti) studiert. Er ist Autor des Sammelbandes Seins noirs (éditions Aethalidès 2022), des Romans Le ciel sans boussole (éditions Moires 2021), der im Rahmen des Prix Senghor du premier roman francophone et francophile mit einer « Mention spéciale » ausgezeichnet wurde, sowie des Novellenbandes Le Goût des ombres (éditions Unicité 2024), für den er den Preis Christiane Baroche de la Société des Gens de Lettres erhielt.

Baya Streiff | Le Murmure fracassant, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Baya Streiff | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Alles beginnt mit einem Ende der Nacht wie ein Schattentheater, mit seinen weißen Wolken, die aussehen wie Hängeleuchten. Ist es der schwere Duft der Buchsbaumblüten, der das Nasenloch packt, oder diese schlichte Freude, den Klang dieser Klarinette aus der Métro entwischen zu hören, die mich dazu bringt, meine Schritte auf dem lockeren Pflaster laut hallen zu lassen? Die Stadt frohlockt. Die Luft verströmt einen berauschenden Duft nach warmer Brioche. Überall, auf dem Asphalt, ein Festspiel bunter Silhouetten, wie ein riesiges Kaleidoskop. Darüber tirilieren hunderte Vögel ihre fröhliche Morgenkantante. In den Gastgärten schwadronieren Großsprecher schon vor ihren Schönen. Auf dem Tisch, vergessen, laue Cocktails … Gegengenüber laufen ängstliche Menschen in alle Richtungen über den Boulevard, wie geköpfte Hühner. Einem Floristen begegnen, vor dem sich alte Blumenstrauß-Auskenner anstellen, mit Händen wie Marionettenspieler, in widerstreitenden Erinnerungen verloren. Draußen der Himmel, wie eine Kuppel. Von wo mir dieses Bedürfnis kommt, ein wenig im lüsternen Frühlingslicht zu bummeln, bevor ich mich endlich hinsetze, schlotternden Herzens, um mir den ersten Kaffee des Morgens in der Bar „Le Murmure fracassant“ schmecken zu lassen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann die Literatur?
Baya Streiff: Die Literatur hat mich seit jeher begleitet. Sie verleiht dem Leben Eleganz und ist außerdem eine treue Freundin. Schreiben ist ein bisschen wie rückwärtsgehen, um die Zeit umzukehren… Die Literatur lässt mich an einen Riss in der Zeit denken, der alle Geschichten möglich macht.


Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BS: Die Cafés stehen für die glücklichen Stunden, oft auch für die des Wartens. Manchmal kann dieses Warten quälend werden und sich in eine Ungeduld verwandeln, die mich durchschüttelt und die mir gefällt. Es ist schwindelerregend zu sehen, wie eine Abwesenheit den Raum einnehmen kann. In diesen Momenten wollen meine Gedanken nicht dorthin, wo ich sie haben will!


Wo fühlst du dich zuhause ?
BS: Hier in diesem Café, in dem sich die ganze Unruhe der Stadt verabredet zu haben scheint. Alles Gemurmel der Welt ist hier vereint. Es wirkt auf mich wie eine Pforte des Möglichen. Man kann Bücher lesen oder seine Schallplatte mitbringen, um für Stimmung im Café zu sorgen. Ich habe hier schon Bücher verlassen oder welche gefunden, auf der Bank im Stich gelassen. Sein traumhaftes Universum gefällt mir, mit seinen monumentalen Toren des Paradieses, der Hölle und der Abgründe. Alles regt hier zum Träumen an und kitzelt die Phantasie.

 

BIO

Baya Streiff arbeitet in Paris bei der Jugendgerichtshilfe. Ihre Leidenschaft fürs Reisen, die Photographie und die Literatur speisen ihre Phantasie und ihre romanhafte Sicht auf das Leben.
Ihr erster Roman « Les hasards exagérés » („Die übertriebenen Zufälle“), bei den Éditions du 7e Ciel veröffentlicht, zeichnet die Geschichte Monas nach, in der sich Geheimnisse und Gewissensbisse andeuten und uns von hier nach dort auf dem Schachbrett des Lebens führen, um auf den weißen und schwarzen Feldern des Wegs zur Reife voranzuschreiten. Dieser Roman fragt danach, wie man die Desillusionierungen des Erwachsenenalters vorausahnen kann.
Das Buch fiel dem Regisseur Philippe Faucon auf, der es verfilmen wird.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Georg Renöckl, Café Z, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Georg Renöckl | Café Z, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Georg Renöckl

 

Das Ende der Nachkriegszeit

Als sie alle weg waren oder tot – die Großzügigen, die Neureichen, die Verschwender –, musste die Dekoration eben angepasst werden. Der Stuck von der plötzlich zu prächtigen Fassade gehämmert, die Decke abgehängt, der weite Raum gekonnt verengt. Rustikal-resopalerne Nachkriegsgemütlichkeit, typisch Wien, von nun an. Immerhin keine Bankfiliale. Und dann plötzlich – nur gut zwanzig Jahre später als man hätte erwarten können – wurde es anders.

Wie immer, wenn gelüftet und entrümpelt wird, jammerten diejenigen, die nicht zwischen Grind und Patina unterscheiden können. Der schöne Mief!

Die anderen essen jetzt Crêpes.

 


Interview mit dem Autor

Warum schreibst du?
Georg Renöckl: Weil ich nicht immer nur lesen kann. Weil mir meine Gedanken sonst irgendwann auf die Nerven gehen. Weil ich das Zeichnen längst aufgegeben habe.

Warum gehst du ins Kaffeehaus?
GR: Ins Kaffeehaus zu gehen bedeutet Zeit zu haben. Ich habe drei Kinder. Will ich ins Kaffeehaus gehen, muss ich daher zuerst das schlechte Gewissen überwinden, dann ist es wie ein Kurzurlaub. Sollte ich einmal versuchen.

Warum hast du das Café Z gewählt?
GR: Das Café Z war eine der schönsten Entdeckungen, als ich für mein Buch „Wien abseits der Pfade“ kreuz und quer durch die Stadt wanderte. Die Crêpes und Kuchen sind fantastisch, Christa Ziegelböck wählt Zutaten und Rezepte sehr bewusst aus und man sieht von der Eingangstür bis zum Wienerberg.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
GR: Kochen, Gutenachtgeschichten erzählen, vom Kaffeehaus träumen.