Bessora | La Demeure Monceau, Paris
Foto: Alain Barbero | Text: Bessora | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl
Marco Polo und ich
Wie sein Name nicht vermuten lässt, ist Marco Polo ein Tee. Schwarz, grün oder weiß wird er in den Cafés serviert, um Sie zu einem unbeweglichen Globetrotter zu machen. Seine Aromen von Blumen und Früchten aus China und Tibet verwandeln Sie in einen kaiserlichen Abgesandten in Zentralasien. Wie Marco Polo sind Sie nun Botschafter des Papstes in China, abendländischer Reisender vor dem Ewigen und vor dem großen Kublai Khan.
Das alles, ohne den Hintern von Ihrem Sessel zu bewegen.
Ihr kleiner Arsch hat es schön warm in den gepolsterten Sesseln der Demeure Monceau, Paris. Dieses Restaurant nimmt Sie in eine andere Zeit mit, ins neunzehnte Jahrhundert, mit den Tönen eines bürgerlichen Hauses, in dem Marco Polo seine Reiseberichte vortragen könnte. Nur, dass er seit 1324 tot ist.
Also gut, Winter 2023, ihre Hände werden von einem Vintage-Teapot aus den 30ern gewärmt, den schmerzlich vermissten, so photogenen 1930er Jahren.
In der Teekanne zieht der marvellous fruity & flowery black tea, voll wehmütiger Erinnerung an bestimmte Zeiten und vielleicht bestimmte Vorherrschaften. Wie soll man dem netten Fotografen gegenüber eine Pause machen, der sich so bemüht, Ihr Porträt aufzunehmen?
Sich daran erinnern, dass man einst die Cafés mochte.
Dort den Großvater treffen, der dort seine gewohnte Kartenrunde hatte, mit seinen Freunden, den Stammgästen. Es war entweder das Dôme oder die Bergerie, neben dem Laden der Großeltern.
Wir tranken eine Limonade, Sinalco, Grapillon oder Rivella.
Als Jugendliche gingen wir in die Rhumerie, das chemische Orangenfanta färbte einem die Zunge. Hin und wieder geselliges Zusammensein in einer Kaschemme in Cap Lopez mit Freunden, die sich mit Reisschnaps oder Palmwein besoffen.
Später, in den Cafés des Abendlandes von Marco Polo, wundern sich Arglose: Tu trinkst nichts? Warum… bist du Muslimin?
Nein.
Wir sind gar nichts. Aber jemand, der nicht trinkt UND dessen Haut zu braun ist, gibt den idealen Verdächtigen für islamistische Tendenzen ab. Vor allem, wenn er einen Lindenblütentee bestellt. Sehr eigenartig.
Und unversehens wird das Café zum Banner der Zivilisation gegen die Barbarei. Der Barbar, das ist die Kanakenfresse, die nicht ins Café geht und die Kräutertee trinkt.
Interview mit der Autorin
Was kann die Literatur machen?
Bessora: Nicht viel, aber das ist besser als nichts.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
B: Ich mag sie nicht mehr besonders. Aber ich habe sie auch nicht völlig von der Karte gelöscht. Meine Großtante betrieb ihr ganzes Leben lang ein Café-Restaurant. Und ich habe sie zu oft im Nyfnegger in Lausanne getroffen, als dass das Motiv „Café“ aus meinem Leben verschwinden könnte. Vor allem hat sie mir Bonbons geschenkt. Sugus-Kaubonbons. What else.
Wo fühlst du dich zuhause ?
B: Dort, wo ich bin.
BIO
Bessora veröffentlicht seit 25 Jahren Literatur, Jugendbücher und Comics, und sie schreibt für Persönlichkeiten, die Zeugenberichte und Dokumentationen verfassen. Sie sitzt auch der Nationalen Gewerkschaft der Autoren und Komponisten vor (Syndicat National des Auteurs et des Compositeurs, SNAC).
Ihr vorletzter Roman Les Orphelins (Lattès-Harper Collins) wurde auf Deutsch übersetzt (Ihr werdet glücklich sein, Peter Hammer Verlag).
Neuester Roman: Vous, les ancêtres (Lattès, Harper Collins)
Preise und Auszeichnungen : Best European Fiction 2016, English Pen 2016, Grand Prix Filiga d’Honneur 2022, Chevalier des Arts et des Lettres 2022, Prix Kourouma 2024, Prix Suisse de Littérature 2024.