Evelyn Schalk | Die Scherbe, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Evelyn Schalk

 

nische und bühne, geschichte in sesselfugen, tischplatten, die sprachwelten beherbergen. das einst bürgerliche kaffeehaus ist rasch zum gegenort des sakralen wohnzimmers geworden. eine bleibe für all jene, die den eigenen vier wänden entfliehen wollen, müssen oder dürfen. weil der platz fehlt, zuviel lärm herrscht oder erstarrte stille, erinnerungen alles leben ersticken oder leere sich in die unendlichkeit zu dehnen droht. um mit anderen oder allein zu sein. das kaffeehaus ist zufluchtsort und manchmal der einzige kleine luxus. allein dieses bewusstsein ist überlebensmittel.
im gegensatz zu vielen cafés ist die Scherbe ein ankerpunkt über viele jahre geblieben, zu nahezu jeder tages- und nachtzeit. denn ein kaffeehaus hebt normzeiten auf, nachmittags frühstücken, über mitternacht schreiben, bis in den morgen diskutieren, in der zeitlosigkeit wird die zeit individuell. gleich um die ecke der Scherbe habe ich meine ersten tage in einer redaktion verbracht, im selben haus, in dem jahrzehnte zuvor drei frauengenerationen meiner familie auf engstem raum lebten, als die gegend noch nicht hip war, sondern ein arme-leute-viertel. ein foto meiner uroma zeigt sie im einzigen raum der wohnung sitzend, neben sich die aufgeschlagene tageszeitung, darauf eine große lupe. „ihr interessiert’s euch viel zu wenig!“, hatte sie, der neben all der arbeit kaum zeit blieb und wenn, dann zum lesen, immer gemahnt, erinnerte sich meine mutter. bei ebendieser zeitung habe ich später, am stadtrand, journalismus von der pike auf gelernt. ins kaffeehaus sind alle gegangen. ungezählte paare haben sich dort gefunden und wieder verloren. eine politische und private institution gleichermaßen. ein wahrlich öffentlicher salon und ein salon der öffentlichkeit. genau deshalb – und nicht aus einem verstaubten, verrauchten klischee – entsteht hier literatur.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Evelyn Schalk: bei nah alles.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
ES: das kaffeehaus ist einer der ersten orte, die ich in einer noch fremden stadt besuche und das erste ziel, wenn ich wieder zurückkomme. es bedeutet ankommen und unterwegs sein gleichzeitig, nur so kann ich entfliehen, und nur so in eine bis dahin unbekannte geographie eintauchen. da sein. am rand, im zentrum. ins café zu gehen heißt immer, etwas zu teilen, eine stillschweigende übereinkunft, code über grenzen. anonymität und vertrautheit. raumnahme und fluchtort. frei raum. widerstand gegen die verprivatisierung des seins. und genau deshalb auch schreibort. nicht immer, aber immer und immer wieder. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
ES: in bewegung.

 

BIO

Evelyn Schalk ist Journalistin, Autorin, Kulturarbeiterin; Mitherausgeberin und Chefredakteurin des ausreißer – Die Wandzeitung und tatsachen.at; Studium der Romanistik, Germanistik und Medienfächerkombination. Kolumnistin bei perspektive – hefte für zeitgenössische literatur; Reportagen, Artikel, Essays für Frankfurter Rundschau, Standard, mare, Megaphon, Datum, Beton International, jungle world u.a.;  Publikation des Bandes Graz – Abseits der Pfade (2018); Literaturprojekt nacht.schicht quer durch Europa. Aktuelle Serie: About War – Die Sprache des Krieges