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Klaus Berndl | Café Steinecke, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Klaus Berndl

 

Es könnte auch anders sein. Wäre es 1312, dann wüchse hier struppiges, stachliges Gras, dann wäre, was hohle Holzdekoration ist, ein heller Birkenhain, und jene drei Handwerker da drüben, in Arbeitshosen, wären Bauern, und sie sprächen hevellisch und nicht polnisch, und sicher säßen wir zusammen, denn man sitzt zusammen, 1312, man isst zusammen, damit man einander nicht umbringt, denn die, mit denen man speist, tötet man nicht. Die drei gehen, lassen eine Tasche stehen – dass würde ihnen 1312 nicht passieren; ich rufe ihnen hinterher.

Ich könnte auch die Frau da drüben sein, Mittvierzigerin: Dann wäre ich dick geschminkt – fast schon maskiert – und ich wöge wohl doppelt so viel und streckte den Arm viel behäbiger zur Tasse, als ich es tue, nähme einen Schluck, spülte mit dem Kaffee den Mund, setze die Tasse wieder ab und läse weiter: Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Ein paar Sätze, dann kommt meine Verabredung: Meine Tochter? Nein. Wir begrüßen uns aber mit Umarmung, sie setzt sich, wir plaudern, und dann schiebe ich ihr einige Medikamentenschächtelchen zu, lege den Finger auf die erste und erkläre – wie lang mein violetter Nagel ist! – dann auf die nächste, und sie nickt. Ich weiß genau, sie wird es sich nicht merken. Doch es sind keine Beipackzettel darin, in diesen Schachteln ist anderes als draufsteht.

Wäre es 2312, wäre hier wieder Wiese, Stille – kein Vogel, keine Fliege – und ich säße auf einer steinernen Rundbank, die Teil des Denkmals wäre für jenes längst vergessene Attentat von 2020 – geblieben davon wäre nur ein kleiner Park, ein Aussichtspunkt, über den die schiffgroßen Wolken gemächlich trieben, trudelten – die Palmenzweige über mir raschelten rauh, und da träte ein bleicher Mann auf den Rasen, hager. Er käme direkt auf mich zu, raschen Schrittes. Fixierte mich.

Es könnte auch anders sein, wo- oder wannanders. Es könnte gar nichts sein. Ich könnte schweigen.

 


Kurzinterview mit dem Autor 

Was bedeutet Literatur für Dich?
Klaus Berndl: Literatur ist die einzige Form der Kommunikation, die wirklich sinnvoll ist. Nur hier kann man etwas so sagen, wie man es wirklich sagen will, und also alles zum Ausdruck bringen, was man ausdrücken möchte. Nur diese Kommunikation ist wirklich vollständig; nur sie bereitet wirklich Freude.

Welche Bedeutung haben Cafés für Dich?
KB: Wärme. Ruhe. Kaffee, Kaffeeduft. Und lauter Menschen, die einen in Ruhe lassen: Ruhebänkchen im Würfelspiel des Lebens. Orte des Seins. Orte.

Sein.

Warum hast Du das Café Steinecke ausgewählt?
KB: Für die meisten Gäste ist es kein Aufenthaltsraum, sondern Treffpunkt zwischen S-Bahn-Station und Baumarkt. Hier trifft man sich, holt man sich ab, hier handelt man etwas aus. Niemand bleibt hier lange. Niemand hebt den Kopf und sieht die Schönheit dieses Raumes: diese Höhe, diese Kopffreiheit; eine Ahnung der Unendlichkeit. Hier sieht man die Sonne im Norden untergehen.

Hier bleibe ich unbemerkt. Hier bin ich sicher.

Was machst Du, wenn Du nicht im Café bist?
KB: Ich denke, dann bin ich auch.

 

BIO

1966 geboren in Mayen, aufgewachsen in Bayern, lebhaft in Berlin. Spätantike, Frühmittelalter. Hoch- und Spätmittelalter. Frühneuzeit. (18. Jahrhundert). 20. Jahrhundert. (Gegenwart)
www.klausberndl.de  www.wortrandale.de  www.889fmkultur.de

Feindberührung: Hamburg, 2004. (Hg.) Wenn im Norden das Licht schmilzt: Tübingen, 2020. Der Brand: Berlin, 2022. Martha-Saalfeld-Preis, Agatha-Christie-Preis usw., Burgschreiber zu Beeskow 2016.