Sandrine Malika Charlemagne | Le Surcouf, Paris
Foto: Alain Barbero | Text: Sandrine Malika Charlemagne | Übersetzung aus dem Französischen: Christiane Barabas & Daniela Gerlach
Ich sah ihm dabei zu, wie er sich irgendwie unbeholfen auf den hohen Hocker hievte, eine zarte Silhouette in seiner Lederjacke, die er trotz der prallen Sonne draußen trug. Er lehnte seinen Stock gegen die Theke, versuchte das Gleichgewicht zu finden. Seine mandelförmigen, gletscherfarbenen Augen kreuzten sich einen Augenblick, in dem ich glaubte, die Nostalgie einer Zeit flackern zu sehen, deren einziger Hüter er wäre, mit den meinen.
Die Sanftheit, die von diesem durch die Jahre gebleichten Gesicht ausging. Ein Einheimischer? Ich war ihm in dem Café noch nie begegnet. Er hatte das Profil eines Adlers, seine lichten, blassgrauen Haare in Flaumfedern. Den Rücken gebeugt, die Beine in seiner Hose aus grobem Stoff schlotternd, fixierte er einen Punkt in der Ferne. Der kleine Mann deutete ein Lächeln an, in seiner ruhigen Einsamkeit. Ich hatte plötzlich Lust auf ihn zuzugehen, seine Hand zu nehmen, die Wärme seiner Haut zwischen meinen Fingern zu spüren. Woran dachte er? Ich fragte mich, ob er merkte, dass ich ihn beobachtete. Und dann, das Trugbild des Lebens. Ich sah den Mann am Ausgang eines Bahnhofs auf einem alten Koffer sitzen, wo eilige Menschen an ihm vorbeiliefen, ohne ihn überhaupt zu sehen. Ich sah wie er die Hand ausstreckte. Auf eine Geste des Mitgefühls, des Wohlwollens, einer flüchtigen Freundschaft wartete. Aber nur die Vögel sammelten sich mit einem Anschein von Zuneigung um ihn. Er, auf seinem Koffer, mitten unter den Tauben, er lächelte, ein Lächeln, das die Feinheit seiner abgemagerten Züge zur Geltung brachte. Er lächelte dem Leben zu, das bald, wie in einem Buch, sich wieder über ihm schließen würde.
Interview mit der Autorin
Was kann Literatur?
Sandrine Malika Charlemagne: Sie zeigt Welten – vom Alltäglichsten bis zum Barocksten – sie hilft einem, sich zu konstruieren – wach zu bleiben – zu staunen – und manchmal heilt sie die leidende Seele. Sie ist auch der Ort des Geheimnisses. Eine Leinwand, auf der man tausendundeine Landschaft entdeckt. Mit der Literatur kommt man überall hin. Ein bisschen wie in einem Film. Die Figuren sind ewig. Man fühlt sich lebendig, wenn man liest. Man atmet anders. Man denkt anders. Man diversifiziert unseren Zugang zur Sprache. Vielleicht lieben wir auch anders.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SMC: Durchgangsorte, wo man die Leute beobachten, ihrem Reden oder Schweigen zuhören kann. Von den Menschen um uns herum träumen.
Wo fühlst du dich zu Hause?
SMC: Angesichts der Grenzenlosigkeit der Natur. Berge. Wälder. Wüsten. Ozeane.
BIO
Sandrine Malika Charlemagne begann eine Schauspielausbildung am Cours Nordey, spielte vor allem am Theater Gérard Philippe in Saint-Denis unter der Leitung von Jean-Claude Fall, schrieb Anastasia, das in France Culture gesendet wurde, veröffentlichte drei Romane, zwei Theaterstücke und zwei Gedichtbände, leitete Workshops in Vitry-sur-Seine, Sevran-Beaudottes, Cergy-Saint-Christophe, Saint-Denis und reiste hier und dort herum.
Die Stalkerin (Edition Velvet) erscheint im November 2023.