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Sorour Kasmaï | Lili et Riton, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Sorour Kasmaï | Übersetzung aus dem Französischen: Anna Robinigg

 

Ich liebe die Stadt, so wie andere das Land lieben. «Dieses steinerne Meer ist ebenso Natur wie die Natur, die Berge oder die See, und der Mensch, der dort zur Welt kommt ist auf gewisse Weise von ihr erdacht»*. Ich liebe die Stadt, ihre Vorstellungswelt, ihre Geschichten, ihre Poetik. Die Geschichte derjenigen, die sie bewohnt, sie geformt, sie erträumt haben.

Um die Vorstellungswelt einzufangen, die sich hinter ihren Steinen verbirgt, schlendere ich durch ihre Straßen. Die Stadt setzt sich zusammen aus Orten und Objekten, die so viele Anwesenheiten angesammelt haben, so viel kollektives Innen und Außen. Im Laufe meiner Spaziergänge enthüllen mir die Stadt und ihre Bewohner nach und nach ihre Träumereien.

Es gibt Oasen in der Stadt, in denen die Zeit stillsteht. Mehrdeutige Orte, halb Stadt, halb Dorf, an der Grenze zwischen Heute und Gestern gelegen, zwischen Literatur und Zeitgeschehen… Aus dieser Mehrdeutigkeit entsteht die Poesie, entspringt der Traum.

Einer dieser vieldeutigen Orte ist ein kleiner schattiger Platz, an der Kreuzung mehrerer Epochen, wo sich die Gegenwart mit einer manchmal weit zurückliegenden Vergangenheit vermischt. Nur ein paar Schritte vom Rausch des Bahnhofs entfernt, ein kleines Dorf am Fuße eines modernen Turms. Auf der einen Seite geht der Blick auf die Rue de la Gaîté und ihre Schenken aus dem 19. Jahrhundert, die im 20. Jahrhundert zu Theatern wurden, und auf der anderen Seite auf die Rue d’Odessa und ihre bretonischen Crêperies. Der Boulevard Edgar Quinet, früher verrufen und Hochburg für Prostitution und Verbrechen, verläuft immer noch entlang der Mauer des alten Friedhofs, auf dem Baudelaire begraben liegt, nicht weit vom Montparnasse der 20er-Jahre und seinen Künstlern und Malern. In der Rue Delambre logierten Gauguin und Breton im selben Haus, wenn auch zu anderen Zeiten. Hemingway und seine Lost Generation befanden sich gerade gegenüber, in der Dingo Bar, die es heute nicht mehr gibt. Sartre und Malraux geistern immer noch durch die Gegend.

An diesem Ort verlangsamt sich der ungezügelte Rhythmus der großen Metropole, man bekommt Lust, einen Moment lang anzuhalten, sich an einen Tisch auf einer Terrasse zu setzen, oder sich bei schlechtem Wetter hinten im Saal eines der unzähligen Bistros zu verkriechen. Lili et Riton ist das kleinste von allen.

Ein Ort, der ebenso doppeldeutig ist, halb Bistro, halb Café. Bistro, weil man dort als Stammgast begrüßt wird, die Hand gedrückt, man gefragt wird, was es Neues gebe. Café, weil man sogleich nach der Anbiederei den Freiraum zurückbekommt, alleine zu träumen. Man sucht sich also seinen Tisch. Einige davon sind mit metallenen Schildern verziert, auf denen irgendein Name steht. Wahrscheinlich der eines anderen Stammgastes, treu wie man selbst, der nicht mehr kommt, weil seine Heimstatt nun im Friedhof auf der anderen Seite des Boulevards liegt. Aber die Tische und Stühle bleiben, stumme Zeugen von anderen Leben und von anderen Schicksalen. Aber welche Schicksale? Was sind die Geschichten, die intimen Worte, die hier gesprochen oder erzählt wurden? Wer sind die Lilis und die Ritons, die sich hier getroffen oder verlassen haben?

In meinem Heft halte ich Satzfetzen von den Gesprächen fest, die ich hier zu hören vermeine. Ich betrachte die Menschen, die draußen mit zögerndem Schritt vorbeigehen, gedankenverloren. Wohin gehen sie? Woher kommen sie? Hinter meinem Rücken ertönt das Lachen einer Frau. Ich drehe mich nicht um, so bin ich frei, mir das Gesicht vorzustellen, das ich mir wünsche. Worüber lacht sie so bitter? Wie alt ist sie? Welche Illusion hat sie gerade für immer verloren? Ich höre noch einige Sekunden hin, aber ich nehme nichts mehr wahr. Ich drehe mich um. Da ist niemand. Also lade ich sie ein zu existieren. Ich schreibe ein Wort, einen Satz… Ich schreibe die Frau, die eines Tages am Tisch ganz hinten saß…

*Pierre Sansot in Poétique de la Ville

 


BIO

Sorour Kasmaï ist Romanautorin, Übersetzerin und Herausgeberin. Geboren in Teheran in einer frankophonen Familie, Schulzeit im franko-iranischen Lycée Razi. Nach der iranischen Revolution flieht sie 1983 aus dem Land. Studium der russischen Literatur und Sprache in Paris. 1987 kann sie dank eines universitären Stipendiums nach Moskau reisen und russisches Theater studieren. Fasziniert vom Theater wird sie Übersetzerin und Dolmetscherin für Russisch für Theater und an der Pariser Oper.

Parallel dazu beschäftigt sie sich mit der oralen Literatur der Tadschiken und veröffentlicht eine Reihe von CDs mit populärer und traditioneller Musik aus Tadschikistan, sowie Werke populärer und traditioneller iranischer Musik.

2002 erscheint ihr erster Roman, Le cimetière de verre, beim Verlag Actes Sud. Ebenfalls bei Actes Sud gründet und leitet sie die Reihe «Horizons persans», die sich der iranischen und afghanischen Literatur widmet. Seither hat sie weitere Bücher veröffentlich, La Vallée des Aigles, l’autobiographie d’une fuite (Prix Adelf 2007) und Un jour avant la fin du monde (Robert Laffont). Zusätzlich hat sie mehrere Romane und Kurzgeschichten ihrer Landsleute übersetzt, unter anderem Mon oncle Napoléon von Iraj Pezechkzad. Sorour Kasmaï schreibt und veröffentlicht ihre Romane auf Persisch und auf Französisch. Seit September 2016 ist sie Jurymitglied des Prix du Jeune Ecrivain de langue française

 

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Giovanni Del Franco | Le Bouquet de Grenelle, Paris

Fotositzung für Alain. Ich bin besorgt, dass er nicht zufrieden sein könnte. Ich versuche, dem schwarzen Blick des Objektivs zu entkommen. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Sie werden eingefangen vom Geist einer Frau. Verschwunden vor zweiundvierzig Jahren, in Italien, dem Land meines Vaters. Eine Frau, deren Schicksal mich fasziniert. Über die ich zu schreiben versuche. Sie führt mich von den erträumten Höhen der mexikanische Sierra Madre zu den bekannten Landschaften Umbriens. Ich hätte sie kennen können, hätte ihre Stimme hören, ihren Blick schauen, ihr Schweigen atmen können. Sie ist zu früh gegangen. So also sind es wenige Bilder, mit deren Hilfe ich sie zu erreichen versuche: Fotos von ihr, davon eines mit zwanzig Jahren. Ihre würdevolle Schönheit ist geprägt von Melancholie. In ihren Zügen suche ich nach den Fäden ihrer Geschichte. Aber Alain wartet. Ich werde später zurückkehren.

 


Interview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Giovanni Del Franco: Zuerst einmal Flucht. In der Literatur suche ich mir Welten, die mich vom Alltag unserer formatierten Gesellschaft entfernen. Und Erinnerung. Die Weitergabe von Erinnerung. Ich schreibe viel über die UreinwohnerInnen Amerikas. Wer ist weiter von uns entfernt als ein Apache des 19. Jahrhunderts? Ich lese Werke zu diesem Thema, oder zu historischen Themen (die Erinnerung…). Vor kurzem habe ich begonnen, mich für Krimis zu interessieren, vor allem für die nordischen (vermutlich aufgrund der Fremdheit).

Was bedeuten Cafés für dich?
GDF: Eine Pause. Ein Moment, in dem die Zeit nicht mehr so schnell läuft. Und ein Abbild der Welt, in der wir leben. Zahlreiche soziale Schichten verkehren hier miteinander.
Ich setze mich nie alleine hin, sondern an die Bar, wo die Menschen miteinander reden. Meistens über unbedeutende Dinge. Aber sie reden. In einem hypervernetzten System sind Orte selten, an denen das möglich ist.

Warum hast du «Le Bouquet de Grenelle » gewählt?
GDF: Ganz einfach aus dem Grund, dass es das Café ist, in dem ich mich am meisten aufhalte, und das seit rund zwanzig Jahren. Da es nah bei einem meiner Arbeitsorte ist, habe ich früher dort regelmäßig einen kleinen Schwarzen getrunken, bevor ich meinen Arbeitstag begonnen habe. Mittlerweile tue ich das nur noch gelegentlich, aber gerade heute war ich wieder dort, um auf der Terrasse ein Glas mit meiner Cousine zu trinken, die zu Besuch bei mir war.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
GDF: Vor allem schreibe ich. Ich kann nur bei mir zuhause schreiben, in der Ruhe, in der Stille. Ich versuche, etwas zu veröffentlichen (und das Vermarkten braucht ebenfalls viel Energie). Ich mag das Kino, Ausstellungen, Reisen (ich bereise alle Hauptstädte Europas). Und um meinen Lebensunterhalt zu verdienen (das Schreiben bringt nicht genug ein), höre ich mir Geschichten an. Ich bin Arzt.

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Sylvie | Brasserie À la Tour Eiffel, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Barbara Rieger

 

Ich will niemals verstehen,
wie man so hassen kann.