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Assaf Alassaf | Eckkneipe, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Assaf Alassaf | Freie Übersetzung: Rim George Hachicho & Daniela Gerlach

 

Und die Ampel ist rot (der Halt) 

Ich stehe an der Verkehrsampel, warte zusammen mit den anderen, um die Seite zu wechseln, jene betrachtend, die mich in ihrem Warten umgeben: die junge Frau, die Griffe ihres Trolleys haltend, im Gespräch mit ihrer Freundin, der junge Mann mit orientalischen Gesichtszügen, der damit beschäftigt ist, auf sein Telefon zu schauen und seine Augen von Zeit zu Zeit auf die Ampel richtet, der große schlanke Mann in seinem eleganten Anzug, mit seiner schwarzen Ledertasche, der mit einer Handbewegung seine Armbanduhr unter dem Hemdsärmel hervorzieht, vier oder fünf Jugendliche mit ihren lauten Stimmen und ihrem Gelächter; wir teilen uns das gleiche Warten ohne uns über die vergehende Zeit zu beklagen.
Ich erinnere mich an die erste Zeit nach meiner Ankunft hier. Ich überquerte die Straße, das Rot ignorierend; aus keinem anderen Grund als dem der Weigerung, zu diesem Ort zu gehören, verstieß ich gegen seine unzähligen Regeln.
Das Überqueren der Straße war ein kleiner Test für das Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen mir als Individuum und der Gemeinschaft, in der ich lebe, zwischen dem freien Willen und der Unterordnung unter das Gesetz der Gemeinschaft. In diesem Moment des Aufbegehrens wurde ein kleiner skandalöser Akt, wie die Straße zu überqueren und dabei die Ampel zu missachten oder achtlos eine Zigarettenkippe auf den Boden zu werfen, unbewusst zu einem Akt des Widerstandes gegen das wachsende Gefühl des Identitätsverlustes und gegen das Zerrinnen der eigenen Seele, sodass die Identifikation mit den anderen und der Umwelt erschwert, zu einem Stachel, wurde, der in die verwundete Identität stach und dieses verdammte Ungleichgewicht noch vertiefte.

Die Ampel hat uns noch keine Erlaubnis gegeben!

Ich erinnere mich an eine andere Art von Aufbegehren, die ich in einem seichten Film gesehen habe, der die Geschichte eines bösen Prinzen erzählt, der mit Gewalt und Zwang bekam, was er wollte: Geld und Macht, Frauen und Kinder. Aber in dem Moment, als er eine Frau wirklich liebt, identifiziert er sich mit der allgemeinen menschlichen Natur und wünscht sich, so wie die anderen zu sein, also jemand, der sich den Normen der Gemeinschaft unterwirft; und so bittet er die Frau um ihre Einwilligung, ihn zu heiraten und ihre Kinder zu legitimieren, was dann sein Freibrief auf dem Weg hin zur Zugehörigkeit zur Gruppe, zur Nation und zum Volk, ihren Bräuchen und ihren Gesetzen wäre.
Auf dem Höhepunkt des Films, als die Frau versucht, dem Prinzen zu entkommen, nähert sich ihr seine Mutter, eine Hexe, berührt deren Lende mit ihren Fingern und sagt zu ihrem Sohn: Nimm sie jetzt gegen ihren Willen. Sie hat ihren Eisprung und ist mehr als an jedem anderen Tag fruchtbar und bereit für die Schwangerschaft.

Die Ampel ist immer noch rot!

Mich hat immer die Fähigkeit einiger Menschen erstaunt, die Natur und die Lebewesen, ihre Tagesabläufe, ihr Verhalten und ihre Handlungen sowie ihre kleinen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen detailliert zu beobachten, als ob sie ganz auf den verborgenen Rhythmus des Lebens lauschten; und sie gestalten aus ihren Lauten und ihrem Schweigen und dem kosmischen Wissen heraus etwas, womit sie die Welt, die Leute und ein Stück Zukunft lesen, fernab der Pseudowissenschaft, des okkulten Wissens „al-mandab“ und der Alchemie. 

Meine deutsche Freundin liest Wolken und Winde und weiß, ob jene ferne Wolke Regen bringen wird oder nicht, wann sie kommt und wie lange es regnen wird, ganz ohne GPS oder Google-Wetter! Dieses Wissen hat sie aus ihren langen Beobachtungen von Wolken und Regen in ihrer kleinen Stadt gewonnen.
Meine Freundin sagt über ihren Vater: Er hat ein Auge, „das sich nicht täuscht“. Es bestimmt das Geschlecht des Fötus im Mutterleib, noch bevor es ein Arzt und ein Ultraschallgerät bestätigen.
In meinem Dorf Muhassan gab es Anfang des letzten Jahrhunderts einen kultivierten Mann, einen Führer, der Deir ez-Zor und die ganze syrische Wüste kannte; es genügte, ihm die Farbe des Erdbodens und die Form ihrer Bäume und Felsen zu beschreiben, um zu wissen, um welche Gegend es sich handelte. Er las die Sterne und Windrichtungen während der Jahreszeiten, um die Hirten zu ihren abgelegenen Weiden zu führen, um die Spur von verloren gegangenen Menschen und Vieh zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen. Er starb in den frühen fünfziger Jahren, und dieses Jahr wurde nach ihm benannt (das Jahr des Ali Kusa)
Nach seinem Tod gab es niemanden mehr wie ihn. 

Es tritt ein kurzes Schweigen ein, die beiden Freundinnen hören auf zu reden und blicken gemeinsam zur Ampel, der elegante Herr sieht alle zwei Sekunden auf seine Uhr, der Mann mit den orientalischen Zügen lässt seine Hand mit dem Telefon sinken, und auch die Jugendlichen sind verstummt und haben ihre Hände aus den Jackentaschen genommen, des Lärms und des Wartens überdrüssig geworden. 

Ich nähere mich dem Bordstein und meine Füße nehmen schon den Farbwechsel der Ampel vorweg, endlich bewege ich mich fort zwischen den Passanten, die wieder in ihr Stimmengewirr verfallen, und ich erinnere mich, mitten auf der Straße, dass ich – als ich Kind war – einem dieser Wahrsager begegnete, der mir etwas prophezeite, was mir damals nicht gefiel. An jenem Tag nahm ich mir vor, hart daran zu arbeiten, dass seine Prophezeiung sich nicht erfüllt. Ich habe mit diesem Unterfangen über Jahre Erfolg gehabt, aber je weiter ich auf dem guten Weg voranschritt und ohne es zu beabsichtigen, habe ich auch andere Menschen enttäuscht, besonders andere Frauen.

 

Original (Arabisch)

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Assaf Alassaf: Die unilaterale Literatur war schon immer ein Mittel, dieser Welt um mich herum einen Sinn zu geben. Sie ist wie ein kleines Werkzeug, das sich in die komplexen und überlagerten Schichten des Lebens gräbt, um sie  zum Zweck der Betrachtung, Analyse, des Dialogs und des Verständnisses in Form von Fragen und Ideen an die Oberfläche zu holen; und zum anderen, um der heutigen Komplexität unseres Lebens und seines Drucks gegen einen scheinbar sicheren Raum – wo aber letztendlich die ganze Gefahr liegt – zu entfliehen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AA: Um die Wahrheit zu sagen, ich habe eine kindliche und verträumte Vorstellung vom Café als alternativem Ort zum Zuhause und für eine kurze Zeit des Tages. Ein Ort, der es dem Individuum erlaubt, eine kleine Ecke zu finden, in der es sich nach Belieben einrichtet, wo es entdeckt, was es will und tut, was es will. Nach zahlreichen Erfahrungen und Besuchen in Cafés verschiedener Länder, scheint mir ein Gedanke die Zunge herauszustrecken und zeigt mir und meiner Wahrnehmung seinen ganzen Sarkasmus: Ihr geht hier an einen Ort, der nur von Vorübergehenden frequentiert wird.

Warum hast du das Eckkneipe-Café ausgewählt?
AA: Wenn die Corona-Pandemie die Welt geschlossen hat und uns in die Häuser ein-, mitsamt sozialer Distanz und Zoom-Meetings, dann hat sie leider und unglücklicherweise auch das Café in Kreuzberg geschlossen, in das ich früher gegangen bin. Also bin ich auf die nächstgelegene Alternative in meiner Umgebung ausgewichen – das war das Café Eckkneipe.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
AA: Ich habe viele Aufgaben und viel Verantwortung, die an mein Leben geknüpft sind: für meine Arbeit, die Familie und all die, die gerade in meinem Alltag wichtig sind. Und ich gehe dreimal pro Woche zum Volleyballspielen, das einen vorrangigen Platz in meiner Terminliste einnimmt.

 

BIO

Assaf Alassaf, geboren 1976 im syrischen Deir ez-Zor, studierte Zahnmedizin in Damaskus. Er arbeitete hauptberuflich als Zahnarzt und nebenbei als Journalist. Seit 2007 hat er zahlreiche Artikel in arabischen Tageszeitungen wie Al Hayat und Al Mustakbal veröffentlicht. 2013 zog er von Damaskus nach Nouakchott in Mauretanien, wo er als Zahnarzt tätig war, und 2014 nach Beirut, wo er in einem medizinischen Zentrum für syrische Flüchtlinge arbeitete. Heute wohnt er in Berlin. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Auf Facebook schreibt Assaf Alassaf seit 2013 literarische Anekdoten über die Revolution und den Krieg in seiner Heimat, über seine Reise nach Mauretanien, sein Leben im Libanon und die Zahnarztpraxis. Posts und Geschichten über „Abu Jürgen“, den deutschen Botschafter, entstanden in der Zeit zwischen November 2014 und Februar 2015 und wurden 2015 in der Übersetzung von Sandra Hetzl unter dem Titel „Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“ (Roman) im verlag mikrotext veröffentlicht. Anfang Januar 2016 erhielt er ein Stipendium für einen Gastaufenthalt im Literarischen Colloquium Berlin, von Mai bis Juli 2016 war er Stipendiat auf Schloss Solitude.