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Marius Daniel Popescu | Café Romand, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Marius Daniel Popescu | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Du bist mehrere hundert Mal hier gewesen. Mit René-Luc, der dir von Gustave Roud erzählte, ihr habt Weißwein aus der Gegend getrunken. Mit Dominique, er erzählte dir von seinen Schülern und seinen Gedichten, ihr habt auf die Gesundheit aller Bewohner der Rue de Maupas angestoßen. Mit Marie-José, Sarah und Oana, ihr habt Fondue moitié-moitié gegessen und ihr seid zusammen größer geworden. Mit Michel und Véronique, ihr habt über Bücher und über das Schreiben gesprochen. Mit Pierre Louis, ihr seid von Zeit zu Zeit bis zur Sperrstunde geblieben. Mit François, da habt ihr über die Jagd gesprochen und Bier getrunken. Mit Jean-Christophe, ihr habt an eine nächste Nummer der Literaturzeitschrift « le persil » gedacht. Mit Daniel und Vincent, ihr habt Gedichte aus dem Alltagsleben aufgesagt. Mit Jean-Louis, genannt «Le Papillon» (der Schmetterling). Mit Béatrice, ihr habt der Welt die Finger und eure Augen gezeigt. Mit Isaac, ihr seid in euren News und Kurzgeschichten geschwommen. Mit Dominique und Véronique, ihr habt über die in einer Gitarre versteckten Worte gelächelt. Mit Victor, ihr habt mit Bob Dylan gelebt. Mit Francine, Ingrid, Robert und seiner Frau, mit Ramon, Philippe und Sergueï. Mit vielen anderen Frauen und Männern aus Lausanne und von anderswo. 

Du trittst ein, du hast zwei Plätze für mittags reserviert, du schaust ins Lokal, du siehst die Kellnerinnen und die Kellner hinten im Saal, du gehst zwischen den Tischen durch, du gehst auf sie zu, du grüsst sie, sie sagen «Guten Tag», eine der Kellnerinnen kümmert sich um dich, sie begleitet dich zu eurem Tisch, sie zeigt darauf, sie sagt «Hier ist es». 

Heute bist du mit Alain hier, ihr werdet Papet vaudois essen (würzige Würste auf Lauch und Kartoffeln an einer typischen Sauce), ihr werdet über euer Leben reden, über das, worauf ihr Lust habt, über eure m und eure d und eure i. Hier wird Alain von dir Fotos machen. Du wirst ihn anschauen: als nähmen Times New Roman, Calibri, Garamond und Bahnschrift zusammen ein Calamin-Bad. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Marius Daniel Popescu: Leben erfassen Leben erschaffen Leben schenken Leben überraschen Leben denken Leben sehen Leben hören Leben vermitteln Leben vergehen lassen Leben bringen Leben lenken Leben zeigen Leben erfinden Leben weitergeben Leben überleben Leben gewinnen Leben verdienen Leben behalten Leben vervielfachen Leben hervorbringen Leben verstehen Leben nähren Leben ankurbeln Leben zur Blüte bringen Leben aussprechen Leben lang dauern  Leben fortsetzen Leben ankündigen Leben schützen Leben schreien Leben leben Leben lernen Leben lehren Leben erhalten Leben sichern Leben entwickeln Leben teilen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MDP: Allein sein und mit den andern sein. Allein sein. Mit den andern sein. Die anderen sein. Mich selbst sein. Ankommen. Sprechen. Schauen. Essen. Trinken. Sprechen. Schauen. Weggehen. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
MDP: In den Wohnungen und den Häusern. In den Cafés den Bars den Restaurants. Im Blick der anderen. In den Worten. In den Büchern. In den Träumen. In den Straßen. In den Wäldern. Auf den Feldern. In den Bussen Zügen U-Bahnen Flugzeugen. In meinem Gedächtnis. In den Wörtern. 

 

BIO

Marius Daniel Popescu wurde am 10. Juni 1963 in Rumänien geboren und lebt seit dem 01.08.1990 in der Schweiz. 
Als Lyriker und Romanautor französischer Sprache hat er zahlreiche Literaturpreise erhalten. Den Rilke-Preis, Sierre/Siders, 2006 für «Arrêts déplacés» (Editions Antipodes, Lausanne); den Walser-Preis Biel/Bienne für «La Symphonie du Loup» (Editions José Corti, Paris – deutsch von Michèle Zoller, Die Wolfssymphonie, Engeler, 2013); den Waadtländer Literaturpreis, Lausanne 2008; den Grand Prix Littéraire du Web, Paris, 2012; den Prix de l’Inaperçu, Paris, 2012; den Eidgenössischen Literaturpreis, Bern, 2012, für «Les Couleurs de l’hirondelle» (Editions José Corti, Paris, 2012, deutsch von Yla von Dach, Die Farben der Schwalbe, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017).

Alexandre Caldara | Bistrot Chauffage Compris, Neuchâtel (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Caldara | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

zarte bruchstücke eines schweizerischen westerns im dämmerlicht 

der fotograf der unbekannte Barbero kommt um meine wenigkeit Caldara in meinem bistrot le chauffage compris* zu sondieren an diesem 14. januar in Neuchâtel erzählt er mir seine geschichte als kinofan als kinokind seine sicht auf den film mauvais sang** von léos carax trifft meine wenigkeit und flickt meine flüchtige kinoerfahrung das alles sickert schimmert durch in meinem bistrot und reaktiviert „stimmen alter kinofilme“ wie man sie gerade in mauvais sang hört 

oh geplagter leser 
lass dich mitreißen zu den zombie-zonen der theke so nehme ich meinen abdrift wieder auf an diesem 14. januar mein bistrot gedenkt seiner 30 jahre es präsentiert eine schiefertafel ein tagesmenue concassage von aromen zum anbeißen und da kommt der fotograf der unbekannte er spricht über sein leben bevor er bahnbeamter wurde der den dunklen kinosaal mehr liebt als die Schiene   

eines nachts als er mehr sieht

lässt er sich vom schrei des films mauvais sang durchdringen am nächsten morgen zittrig nach einer schlaflosen nacht macht er es sichtbar auf der schiefertafel seiner arbeitsstelle das beben die neuralgie er trägt mauvais sang in goldenen lettern ein das macht seine Kollegen sprachlos und katapultiert ihn auf die Schienen seines zukünftigen lebens als fotograf 

die beiden schiefertafeln die des chauffage compris und die des unbekannten fotografen stoßen zusammen

meine wenigkeit empfängt das alles über den körper und ich tanze im auge des objektivs der fotograf derjenige der mit einem kleinen digital-apparat verewigt und die tonnen von nostalgischen negativen in seinem schwarz-weiß-gepäck setzt eine bestimmte Geschwindigkeit in gang die die bewegung wieder aufnimmt 

die tafeln erhalten ihre eigenschaft als dunkle materie zurück meine wenigkeit denkt wieder an das bistrot le chauffage compris wo ich eine apfel-tarte gegessen habe sie hängt mir nach wie der film mauvais sang
das alles nur wegen mir
der fotograf Barbero und ich Caldara sind nun keine unbekannten mehr wir sind also jetzt verbunden verknotet befreit politisiert ästhetisiert durch das warme mauvais sang und die chauffage compris wo man zum teufel nicht friert
schließlich enthält mauvais sang eine anthologische szene einer rasierschaumschlacht feinfühlige hommage an den big shave von martin scorsese mein treffen mit Barbero ähnelt dem rasierschaum aus mauvais sang es tanzt fröhlich

*Heizung inbegriffen (Anm. Übers.)
**schlechtes/ böses Blut (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Alexandre Caldara: Sie beginnt, wenn sie sich vom Machtwort abwendet. Sie hält dem Lektüreverschlingen die Wange hin. Oder anders ausgedrückt, die wunderbare Nicht-Macht der Literatur erlaubt uns, „Die wilden Detektive“, eine leuchtende Romanhöhle, von Roberto Bolaño, im Gegenwind zu öffnen, egal auf welcher Seite, und dieses Gefühl zu spüren, das notwendig ist, um aus der Banalität auszubrechen. Dieser Hauch viszeraler Poesie. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AC: Ich empfinde Cafés wie Kokons, wie Sandburgen, wie Wartesäle, wie ein Aufenthalt. Die Bistrots, die ich mag, tragen ein Stückchen zerknitterte Anonymität in sich, das im Dialog mit der Masse steht.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AC: Allein indem ich die Gesellschaft anderer gründe. Im Angesicht zweier Flamenco-Gitarren, die meine Free Jazz-Bibliothek schützen. 

 

BIO

Alexandre Caldara, Poet, Performer, Journalist, geboren in Neuchâtel, 1977, lebt in dieser Stadt nach Umwegen über die Seine und den Ganges. Improvisator zerbrechlicher Silben auf der Zunge, schreibt er, seit er sich erinnern kann. Er veröffentlicht seit 2015 ein knappes Dutzend Werke, darunter L’Emacié, Volubiles Nudités und Mystère Bouffe bei edition Samizdat; Peseux Paterson bei D’autre Part; Demi-Nuit bei éditions A Côté de cela und Pulp Vendage bei éditions du Griffon. Die Zeitschrift Belles Lettres hat seine Beiträge über Dadaismus und die écrits bruts veröffentlicht. Seine Tanzbewegungen sind vor allem seiner regelmäßigen Beschäftigung mit Butoh und anderen würdigen Meistern des stillen Schreis wie Kazuo und Yoshito Ohno zu verdanken.     

Fanny Saintenoy | Les Pères Populaires, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Fanny Saintenoy | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Das Café Les pères populaires oder auch Les pères pop oder das PP, wie man hier im Viertel sagt, ist ein Zufluchtsort, eine Art Zweitwohnung, es ist ein Ort für Treffen und ein Schreibraum … Das « Les pères pop » trägt seinen Namen auf jeden Fall zu Recht, es ist ein geschützter und schlichter Ort.

Die Deko ist aus Ramsch und Trödel: alte, durchgesessene Sofas, Schulstühle, kleine rote Fliesen, ein Transistorradio und Bücher auf einem wackeligen Regal, eine Toilette mit tausend Graffitis. Leute arbeiten dort stundenlang, während man nur einen einzigen Kaffee trinkt, der früher nur einen Euro kostete (inzwischen 1,20). Auf der Terrasse ist Selbstbedienung und an Sommerabenden quillt der Bürgersteig an der Ecke der Straßen Buzenval und Grands Champs geradezu über.

Das PP ist tagsüber immer gut besucht, in der Woche und an den Wochenenden: Mütter, die gerade aus der Schule kommen, solche, die sich verlaufen haben, Junge und Alte, die die gleichen Lieder mitsingen, wenn sie über die Anlage laufen. Es gibt feste Gruppen, die zugleich offen sind, und man kann sich von einer zur anderen bewegen. Es ist der Treffpunkt für die lockeren Leute aus dem Viertel, bei Fußballspielen, Wahlen und all den Veranstaltungen, die uns zusammenführen. Das PP würde es sicher nicht unbedingt mögen, wenn man das so sagt, aber es ist zu einer Art Institution geworden.

Ich habe oft in diesem Café geschrieben und werde auch weiterhin hier schreiben, vor allem, wenn es mir zu Hause nicht gelingt; dann weiß ich, in diesem Raum, der manchmal laut und geruchsintensiv ist, kann ich neu beginnen. Dieser Ort ist vor allem der Ort der ersten Seite für ein neues Buch, eben das, was uns Autoren besonders viel Angst macht. Es ist das einzige Café in Paris, in dem ich jemals diese Notiz im Fenster gesehen habe: „Dieser Film oder jenes Buch wurde zum Teil hier geschrieben“.

Das Les Pères pop hat eine Seele, eine besondere Identität; ohne das PP wären wir in unserem Zuhause verloren.

 


Interview mit der Autorin

Kann Literatur die Welt noch retten? / Warum noch schreiben und lesen?
Fanny Saintenoy: Die Literatur wird, ebenso wie die Schönheit, die Welt nicht retten können. Angesichts der Übermacht der menschlichen Dummheit bedarf es viel mehr, und die Literatur allein wird kaum genügen, um die Welt zu retten. Dennoch kann die Literatur, ebenso wie die Musik oder die Malerei, bestimmte Orte oder auch Menschen, uns sehr helfen: sie kann nämlich diejenigen retten, die die Lust und das Bedürfnis haben, Schönheit zu erfahren und uns für einen Moment aus dieser Welt herausholen.
Das ist der Grund, warum wir lesen und immer noch schreiben. Wir lesen, um zu träumen, zu lernen, zu bewundern, zu staunen, zu lachen oder zu weinen, während wir uns in einer Blase befinden, die uns gleichzeitig die Welt besser verstehen lässt. Und ich denke, dass wir mit einer Art diffusen und verrückten Hoffnung schreiben, um an diesem Prozess teilzuhaben, dass wir einen Moment der Flucht und der Verbindung anbieten, der allein uns Autoren eigen ist.

Wo fühlst du dich zu Hause ?
FS: Ich habe eine ziemlich seltsame Beziehung zu dem Gefühl, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Wenn mir ein Ort auf Anhieb gefällt, manchmal sogar sehr gefällt, fühle ich mich dort sofort zu Hause. Ich fühle mich mit diesem Ort verbunden und denke manchmal (irrtümlicherweise, zumindest kommt es mir manchmal so vor), dass ich diesen Ort viel besser verstehe als die Menschen, die dort leben. Ich fühle mich zu Hause, sobald ich von einem Ort „gefangen“ werde. Das kann ein Land sein, wie Indien oder eine Stadt, wie Granada, ein Haus (in dem ich glaube, zehn Jahre lang gelebt zu haben), ein paar Berge oder selbst ein See.

 

BIO

Fanny Saintenoy begann erst spät mit der Literatur. Sie war Lehrerin für Französisch als Fremdsprache, Assistentin der Geschäftsleitung, in der Politik und in der Kultur tätig. Ginge es nach ihr, müsste die Arbeitswelt so organisiert sein, dass Raum für das Schreiben und Reisen bleibt, um Leser und andere Autoren zu treffen.
Seit 2011 hat sie vier Romane veröffentlicht, darunter ein Roman mit drei anderen befreundeten Autoren sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem SGDL-Preis ausgezeichnet wurde. Sie schreibt ebenso Gedichte, vornehmlich in Zusammenarbeit mit Fotografen.
Bibliographie:
Juste avant, 2011, éditions Flammarion, ins Hebräische übersetzt bei Keter Books
Qu4tre, 2013, éditions Fayard, mit Sébastien Marnier, Caroline Lunoir und Anne-Sophie Stefanini
Les Notes de la mousson, 2015, éditions Versilio
Jai dû vous croiser dans Paris, 2019, Parole éditions, Prix SGDL du recueil de nouvelles 2020
Les clés du couloir, 2023, éditions Arlea

Kersten Knipp | Café Bauturm, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Kersten Knipp

 

Und dann strömt diese Brise herein, nachmittags um vier, und mit ihr das Licht. Es gleitet heran über die breiten Rücken der Sonnenschirme draußen auf dem Bordstein, mühelos und spielerisch, hier oben, zwei Meter über dem Boden, ist nichts, was es aufhielte, und so umgibt es dich, nicht ohne sich mit dem Schatten des Raumes zu verweben, dessen eines Ende sich zur Straße hin öffnet, den Blick freigibt auf die Menschen etwas unter dir, die anderen Gäste an den Tischen draußen, während du selbst die paar Stufen nach oben genommen hast, in den höheren Teil des Cafés, an jenen zum Glück unbesetzten Platz, der dich immer in einen Zwiespalt stürzt, da du nicht weißt, wie dein Verhältnis zu den anderen Gästen ist: Bist du einer von ihnen, Teil der Masse in diesem Café, oder durch die leichte Erhöhung getrennt von ihnen, isoliert als sitzender Flaneur, die anderen im Blick, sich dessen bewusst und darum von ihnen getrennt? Dabei ist das Café Bauturm an der Aachener Straße ein fast schon zeitloser Ort der Kommunikation, Vorreiter und Schrittmacher jenes urbanen Lebensgefühls, das in Köln inzwischen (es war nicht immer so) selbstverständlich ist das Café und das ihm verbundene Theater: für dich Treffpunkt seit langer (nicht zu langer) Zeit, zugleich aber eben auch Ort, den anderen beim Leben zuzuschauen, etwas zu erhaschen von dem, was Gegenwart ist, was sie sein kann. All dies am liebsten, aber nicht nur im Sommer, wenn, wie du dir gerne einbildest, das Meer direkt um die Ecke ist, seine Brise heranweht, all die warme Luft, die doch nichts anderes ist als glühende Gegenwart. Das Café Bauturm, Ort des Schauens, des Empfindens, der Dankbarkeit. 

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Kersten Knipp: Literatur erschließt neue Welten. War da nicht gerade etwas auf der Seite: eine Idee, eine Empfindung, eine Andeutung? Ja, doch, und so lässt du dich treiben, in dem Text vor dir, in anderen Texten, die wiederum zu anderen führen, eine Reise auf alle Tage, Borges‘ „Unendliche Bibliothek“. Literatur, ein warmer Hauch – vielleicht der Ewigkeit?

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
KK: Du sitzt, du trinkst und du schaust. Du saugst die Welt auf, Gesichter, Bewegungen, Verhaltensweisen. Im Café bündelt sich die Zeit, hier kannst du sie beobachten, ihren Geist schnuppern. Da weht etwas durch die Luft, der Hauch des Kaffees, aber auch noch ein anderer. Das Café ist Begegnung, mit was und wem auch immer.

Wo fühlst du dich zu Hause?
KK: Ein Haus: ein durch Wände abgeschiedener Raum. Nimmst du das wörtlich, fühlst du dich zuhause an deinem Schreibtisch: abgeschieden, allein mit dir und deinen Büchern, ein stummer Dialog. Am Schreibtisch entsteht etwas Neues. Und ist das nicht das Wichtigste an vertrauten Orten: Dass du in ihnen etwas Neues schaffst?

 

BIO

In erster Linie wahrscheinlich Romanist, den romanischen Ländern auf der Spur, dem, was sie mit Deutschland, ihre Vergangenheit mit unserer Gegenwart verbindet. Hoffnung: Wir sind verbunden durch die Eleganz, deren Pariser Ursprüngen ich zuletzt ein Buch gewidmet habe („Die Erfindung der Eleganz“, 2022); auch durch die Kunst des Gesprächs, der ich ebenfalls nachgespürt habe („Im Gespräch“, 2024)

Alexandra Badea | Brasserie Au Comptoir, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandra Badea | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich schreibe gerne in Cafés. Textschnipsel, Gedankenschnipsel. In die Notiz-Funktion meines Smartphones oder in die kleinen Hefte, die sich in meine Taschen verirren. Ich stelle meinen Computer nicht mehr auf die Café-Tische, dieses Terrain bewahre ich mir allein für das Umherschweifen und das Konstruieren zukünftiger Projekte auf. Die letzten Notizen, die ich in diesem Café geschrieben habe, sind hier: 
„Die Frage, die sich heute stellt, ist einfach. Was tun? Was können wir tun, wir, als Bürgerinnen und Bürger im alltäglichen Leben, um durch unsere Taten und Worte ein anderes Narrativ zu schreiben? Wenn wir überhaupt kein Vertrauen mehr in die politischen Vertreter haben, die wir kennen, die uns verraten haben, die die Situation eskalieren ließen, damit es zu diesem Aufstieg der extremen Rechten kommt, was bleibt uns da noch zu tun? Außer unserer Stimmabgabe? Reicht das in einem solchen Kontext noch? Es gibt gewichtige Stimmen unter den Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten, die eine andere Weltsicht anbieten, die Denkweisen, Debatten und eine Dialektik entwickeln, aber diese Sprache wird nicht genug gewürdigt, der faschistische Diskurs hat mehr Resonanzraum, mehr mediale Oberfläche. Mehr denn je müssen wir das Wort ergreifen und uns Gehör verschaffen.
Noch können wir miteinander reden, auf diejenigen zugehen, die nicht wie wir denken, ihnen zuhören, um diese manipulativen Diskurse zu demontieren, diejenigen überzeugen, die zögern, ohne sich ihnen gegenüber als Belehrende zu positionieren. Wir dürfen nicht darauf verzichten, Gedanken zu erschaffen, auch wenn wir Gegenwind haben. Wir dürfen nicht aufgeben. Nicht jetzt. Vor allem, nicht jetzt.“

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Alexandra Badea: Eine andere Vorstellungswelt schaffen, Klischees und Gemeinplätze umkehren, Gedankengerüste bauen, Emotionen erzeugen, heilen.

Was bedeuten Cafés für dich?
AB: Es sind Orte, wo ich in meinem Kopf auf Reisen gehe, eine Pause einlege, gedanklich umherziehe, über das Leben Unbekannter phantasiere, organisiere, was ich noch zu tun habe.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AB: Überall, wo ich schreiben oder mich ins Imaginäre flüchten kann. Auch, oder besonders, in Hotelzimmern, Flughafenhallen, Zügen, Schiffen, Parks, an Stränden, auf Waldwegen.

 

BIO

Alexandra Badea, in Rumänien geboren, ist Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Filmemacherin. Ihre Stücke werden bei L’Arche Éditeur veröffentlicht und in Frankreich von ihr selbst, aber auch von anderen Regisseuren inszeniert und in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist außerdem Autorin zweier Romane – Zone d’amour prioritaire und Tu marches au bord du monde. 2013 erhält sie den Grand Prix de Littérature dramatique für ihr Stück Pulvérisés. Und 2023 den Prix du Théâtre de l’Académie française für ihr Gesamtwerk. Sie ist Chevalière de l’ordre des Arts et des Lettres (Ritterin des Ordens der Künste und der Literatur)

François Debluë | Brasserie La Coupole 1912, Vevey (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: François Debluë | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Am Tisch nebenan

 

Am Tisch nebenan diskutiert ein junges Paar heute Morgen nicht über Gott und die Welt, sondern über ihr Leben als Paar in einem Moment, da dieses wohl auseinanderzubrechen droht.
Das errate ich am Ton des Wortwechsels, an den Argumenten, die brockenweise zu mir herüberdringen. 
Ich spitze nicht die Ohren, möchte nicht indiskret sein, aber nun ja, das Café ist von bescheidener Grösse, die Tische stehen nah beieinander und die beiden sprechen laut genug, um mich daran zu hindern zu lesen, was ich lesen möchte: » – Ich, sagt er, bin bereit zu…  – Du musst verstehen, dass…, entgegnet sie – Ja, aber ich habe keine Wahl… – Und ich will dich nicht belügen…«
Die Einzelheiten verlieren sich im Gemurmel von ringsum und man nimmt seine Lektüre wieder auf oder tut wenigstens so. 

An einem anderen Tisch pendelt eine Frau, allein, zwischen ihrem Computer und dem Smartphone hin und her. 
Der männliche Teil des Paars hat inzwischen schärfere Töne angeschlagen, er spricht jetzt vom Fünfer und vom Weggli, will sagen man könne nicht alles haben. 
Weiter weg sitzen zwei Frauen sich gegenüber, durch die Bildschirme ihrer Compis getrennt, und sagen kein Wort, jede in ihre eigene Welt und ihr Ding versunken. 
Gleich neben mir rechts kratzt sich ein Mann an der Nase, sitzt in schweigendem Nachsinnen da, vor sich eine zusammengefaltete Zeitung, deren Lektüre ihn vielleicht bedrückt hat, es sei denn, dass er noch gar nicht damit begonnen hat. 

Das ist es, was uns die Cafés der Welt und insbesondere dieses hier heute Morgen zu bieten haben: Fragmente lebendigen Lebens, Zwiegespräche, Begegnungen oder Kostproben bitterer Einsamkeiten. 

Die Café-Zeit ist auch dies: Zeit, um zur Ruhe zu kommen, die nötigen Kräfte zu sammeln, um die grossen und kleinen Geschäfte des Tages weiterzuverfolgen.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
François Debluë: Sie kennt zur Genüge ihre Ohnmacht angesichts des Bösen, der Gewalt, der Ungerechtigkeit.
Manchmal hat sie indessen die Pflicht, Zeugnis abzulegen. 
Ich arbeite im Moment an Gedichten in Zeiten des Kriegs, nachdem ich unlängst Dreiunddreissig Gedichte in Zeiten einer Pandemie veröffentlicht habe. Ich weiss, wie lächerlich ein solches Vorhaben ist. Aber habe ich die Wahl? Würde ich schweigen, hätte ich ein schlechtes Gewissen, mehr noch als beim Schreiben dieser Zeilen. 
Immerhin kommt es auch vor, dass ich die Schönheit der Welt, die Schönheit einer menschlichen Beziehung, die Schönheit eines Kunstwerks besinge. 

Es handelt sich hier um ein konkretes Vorgehen, nicht um eine Literaturtheorie  

Wie wichtig sind Cafés für dich? 
FD: Ich besuche sie gelegentlich. Nur ab und zu. Aus Naschhaftigkeit. Aber auch, weil ich die Nähe der Männer und Frauen um mich herum geniesse. Ich beobachte sie, höre ihnen zu… 
Im Gegensatz zu Georges Haldas mit seiner Légende des Cafés, der fast ausschliesslich in den Cafés schrieb, schreibe ich hier kaum. Ich bin lieber in meiner Zelle zuhause, vor Lärm und Blicken geschützt und inmitten meiner Bücher. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
FD: Bei mir zuhause. Aber auch auf der Bühne der Welt, in Buchhandlungen, in Konzert- oder Theatersälen.

 

BIO

François Debluë kam 1950 in der Nähe von Lausanne (Schweiz) zur Welt. Er hat Prosawerke, Erzählungen, Reflexionen und zahlreiche Gedichtbände veröffentlich. Dazu gehören: Conversation avec Rembrandt, Pour une part d’enfance (Gedichte, auszugsweise in der Übersetzung von Yla von Dach veröffentlicht im Jahrbuch der Schweizer Literaturen viceversa 17 unter dem Titel: Der Kindheit in dir, Rotpunktverlag Zürich, 2023), La seconde mort de Lazare, Schweizer Literaturpreis 2020 oder Le livre des reflets et des ombres. In der Übersetzung von Yla von Dach ist 1993 auch sein Prosatext Troubles Fêtes – Jubel Trubel – erschienen (Benziger, Zürich). Für sein Gesamtwerk wurde er mit dem Schiller Preis und dem Edouard-Rod-Preis ausgezeichnet. 

Léa Wiazemsky | Café Fleurus, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Léa Wiazemsky | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Im Fleurus gibt es diese Geräuschkulisse um uns herum, wie sie in allen Bistros üblich ist, und die mir fast so lieblich vorkommt wie Vogelgezwitscher, so sehr hat sie mir eine Geschichte zu erzählen. 
Das Zischen der Kaffeemaschine, das Klappern der Gläser auf der Theke, das Klirren des kleinen Metalllöffels in der Kaffeetasse, den eine zerstreute Hand darin herumdreht, die geflüsterten oder etwas zu laut geführten Gespräche der anderen Gäste, die Geräusche von der Strasse her mit dem Lachen von Kindern, die aus der Schule kommen. Ich höre gerne hin, im Café, schaue mich gerne um. Denke mir gerne Geschichten aus, nähere mich dem Leben der Leute an, ohne dass sie es merken. Denn ist ein Bistro nicht an sich eine ganze Welt?
Auf diesem Foto schaue ich auf die Strasse hinaus, beobachte, was da passiert, was sich abspielt. Ich versuche, das Objektiv zu vergessen. Ich mag es nicht, fotografiert zu werden, mich zu zeigen. Allmählich fliegen meine Gedanken weg, ich entspanne mich. Ich denke an all die Cafés, die zu meinem Leben gehört haben. Ich habe oft das Gefühl, sie seien ein zweites Zuhause, ein Versteck. Ohne sie wäre das Leben ziemlich blass. Ich verdanke ihnen viel, den Bistros.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Léa Wiazemsky: Für mich nimmt die Literatur einen zentralen Platz ein. Ich schwimme darin seit meiner Geburt, aufgrund meiner Familiengeschichte. Und doch habe ich lange gebraucht, bis ich mich ihr zu nähern wagte. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr war es mir eine Qual, ein Buch aufzuschlagen. Ich war Legasthenikerin und die Letzte meiner Klasse. Dann kam, zur grössten Freude meiner Eltern, ein Aha-Erlebnis. Ein Buch in der Hand zu halten, bereitet mir heute eine unvergleichliche Freude. 

 

BIO

Mein erster Beruf, bevor ich Schriftstellerin wurde, ist jener der Schauspielerin. Ich übe ihn immer noch mit Freude aus. Immer diese Beziehung zu den Wörtern.

Isabelle Germain | La Coupole, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Isabelle Germain | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In der Mitte eines Arbeitstages eine Pause im La Coupole. Eine Pause, um sich in Pose zu werfen oder auch nicht? In die Ferne schauen, ins Objektiv blicken, lächeln, eine ernste Miene aufsetzen, entspannt wirken, den sehr diskreten Anweisungen von Alain folgen oder nicht folgen? 
Ich kann mein Bild nicht von dem trennen, das mit meinem Engagement als Journalistin und Autorin verbunden ist: der Medienlandschaft einen feministischen Blick auf die Aktualität aufzuprägen (in LesNouvellesNews.fr). Den Blick ändern, den die Medien auf die Feministinnen haben. Feministinnen haben nun mal  schlechte Presse. „Ich bin keine Feministin, aber …“, sagen immer noch zu viele Menschen – und demonstrieren das Gegenteil im Satz, der darauf folgt. Die französischen Medien haben den Feminismus zu etwas Schändlichem gemacht. Sehr lange Zeit haben sie Feministinnen nur spärlich gezeigt und sie als hysterisch dargestellt. Ich erinnere mich an ein langes Video-Interview für einen nationalen Fernsehsender Anfang der 2000er Jahre, nach einer Untersuchung und einem Buch über die geringe Sichtbarkeit von Frauen in den Medien. Der Journalist versuchte mich auf die Palme zu bringen. Ohne Erfolg. Ich antwortete ruhig, mit Zahlen und Fakten … Bis zu dem Punkt, an dem er schließlich sagte: „Aber regen Sie sich auf!“. In seiner Reportage wurde nur eine ganz kurze Sequenz dieses Interviews festgehalten. Ich bin nie als „gute Kundin“ betrachtet worden, von diesen Medien, die Feministinnen nur für ein Spektakel heranziehen, in dem sie als Punchingball dienen. Ein mise en abyme der Unsichtbarkeit des Feminismus und derer, die sich zu ihm bekennen. Lächeln, wütend sein, ein entspanntes Gesicht aufsetzen, nachdenken? Wie kann man auf einem Foto sagen, dass der Feminismus ein politischer Kampf ist? 

 

Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Isabelle Germain: Einen anderen Blickwinkel bieten, die Sichtweise ändern, neue Fragen aufwerfen, falsche Evidenzen  einreißen. Immer einen Schritt zur Seite machen, nachdem man geschrieben hat. Und nochmal anfangen … Oder auch nicht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
IG: Sie sind vor allem Orte der Begegnung. Ob berufliche oder freundschaftliche Treffen, sie symbolisieren die Öffnung gegenüber anderen, die Versprechen angenehmer Momente oder schöner Projekte. Ich mag die geschichtsträchtigen Pariser Cafés. Ich sehe gerne die Touristen in Entzücken geraten. Sie erinnern mich an das Glück, das ich habe, in Paris zu leben. 

Wo fühlst du dich zu Hause? 
IG: Überall, wo ich mich mit meinem wertvollen kleinen Computer niederlassen kann. Ein Zug, ein Hotel, eine Sofaecke, unter einem Baum, im Schatten eines Sonnenschirms. Ich fühle mich in diesem Gerät zu Hause, das mein Berufsleben und einen Teil meines Privatlebens enthält, und das mich mit dem globalen Dorf verbindet.

 

BIO

Isabelle Germain ist Journalistin und Autorin. Nach einer über 25jährigen Laufbahn in den Bereichen Wirtschaftspresse und politische und allgemeine Information, gründete sie die Nachrichten-PlattformLesNouvellesNews.fr., le regard féministe sur l’actualité“ (der feministische Blick auf die Aktualität). Sie war Vorsitzende des Journalistinnen-Verbandes (2001-2006) und Mitglied des Rates für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2013-2016).
Sie schrieb: Si elles avaient le pouvoir… Larousse Collection (2009), 18 ans Respect les filles ! mit Isabelle Fougère und Natacha Henry, la documentation française (2009), Le Dictionnaire iconoclaste du féminin mit Annie Batlle und Jeanne Tardieu, Bourin Editeur (Februar 2010), Journalisme de combat pour l’égalité des sexes. La plume dans la plaie du sexisme, LNN édition (2021).

Tristan Ranx | Le Progrès Marais, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Tristan Ranx Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Wenn ich mich recht erinnere, als ich Gymnasiast war, hatten wir unser Café, etwa wie unser „QG“, Stammcafé, und ich nehme an, das ist nicht eine rein französische Tradition, denn diese Café-Kunst wird in Europa und außerhalb geteilt, außer in England, wo die Pubs gegenüber Gymnasiasten offensichtlich feindlich eingestellt sind.

Traditionell gab es, lange vor den Cafés, die Tavernen; wie Perez-Revertes Figur Hauptmann Alatriste, der die Taverne „des Türken“ in Madrid besuchte, die sich nicht von den Tavernen der drei Musketiere unterscheidet. 

Ein Café ist eine Universität „in taberna“, man lernt dort alles, das Beste wie das Schlechteste, was immer am besten zusammenpasst, genau wie Alkohol und Poesie, die Trunkenheit und der Roman, indianischer Rauch, die Schwaden des Film noir, der Jazz und der Ohrwurm.

Das Le Progrès ist mein aktuelles Café und hier erfahre ich immer das Beste und das Schlechteste, Verführung oder Abwesenheit, Abenteuer oder Langeweile, und die kommenden Nächte, so wie die, die in der Vergessenheit der Pariser Partys verbracht wurden.

Le Progrès ist ein literarisches Café, wenn man so will, wie alle Cafés, denn in allen Cafés gibt es Verrückte und Betrunkene; selbst wenn sie Heraklit oder Platon heißen, sind sie weder deren Avatare noch deren Schüler.

Ein Café muss zuerst ein Pfeiler sein, eine Stütze, ein Fels in Raum und Zeit. Stellen wir uns vor, es handelte sich um das Tigillum Sororium des Janus-Kultes, Janus, der Gott des Anfangs und des Endes, der Wahlmöglichkeiten und Ausgänge. Die Worte „Approche, Approche“ (Komm näher, komm näher!), die sich virtuell hinter der Bar befinden, scheinen auf eine Art Verflechtung zweier Universen hinzuweisen, die für die Wagemutigen sichtbar sind. Das Verb „approcher“ (annähern) meint „im Begriff sein, an einen Ort zu gelangen“. Das ist der Grund für den „Progress“. 

Das Le Progrès ist meine „Taverne des Türken“ und auch, wenn ich dort nicht auf Quevedo treffe, so finde ich dort Musen, Vorübergehende und Menschen guten Willens, Anonyme, Freunde und Phantome. 

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Tristan Ranx: Die Literatur bewirkt, in den allermeisten Fällen, nichts, nicht mehr als Erdnüsse zum Aperitif. Aber im besten wie im schlimmsten Falle, kann sie die Zukunft beeinflussen, verändern, erschüttern und entflammen. Dafür braucht man keine Preise oder kritische Anerkennung. Kleine Romane wie Tarzan oder Zorro können, wie Umberto Eco bemerkte, moderne Mythen für die kommenden Jahrhunderte schaffen, dort wo bewundernswert gut geschriebene Literaturpreise innerhalb von sechs Monaten im Papierkorb landen werden. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
TR : Die Cafés, seit der Französischen Revolution, wo die Ideen der Aufklärung verdeckt zirkulierten, die Cafés von Turin und Genf, wo Garibaldi die Einigung Italiens vorbereitete, die dadaistischen Cafés von Zurich, die Schwabinger Cafés in München, wo Otto Gross Gusto Gräser und Erich Mühsam traf, die Cafés von Buenos Aires, wo Che Guevara lernte, die Voraussetzungen für seine revolutionäre Bestimmung am Schopfe zu packen. Unter diesen Umständen sollten Cafés in jedem Land der Welt verboten werden. Und in Wahrheit sind sie das bereits, denn nach und nach verschwinden sie, werden durch Pappbecher-Filialen und Überwachungskameras ersetzt. 

Wo fühlst du dich zu Hause? 
TR : In einem Café in Belgrad, Budapest oder Cluj-Napoca, unter anderen Cafés und anderen Städten, mit „Le Mondes des Ā“ von Vant Vogt vor mir. (ich habe vor, es wieder zu lesen)

 

BIO

Tristan Ranx ist ein französischer Schriftsteller und Journalist. Er studiert Geschichte an der Pariser Universität VII. Er wohnt in Transsilvanien, wo er an der Universität Cluj Napoca den Zirkel von Professor François Breda (Breda Ferenc) – genannt „der letzte Transsilvanier“,   spezialisiert auf ungarisches Theater – kennenlernt und regelmäßig besucht. 2016 erhält er mit seiner These über den Mythos von Eldorado ein Doktorat für Geschichte an der Universität von Oradea.

Er beginnt für verschiedene Zeitschriften wie Supérieur inconnu und Bordel zu schreiben, sowie Artikel für Libération, Standard, Chronic’art Technikart und Transfuge. 2009 veröffentlichte Ranx seinen ersten namhaften Roman La cinquième saison du monde über die letzten Piraten der Adria in Fiume 1919. In seinem Schreiben zeichnet er sich durch das Verflechten von Abenteuer und Reisen, Gelehrtheit und Immersion aus, vor allem in Nuevo Dorado (Gallimard, 2021), wo er die Suche nach der goldenen Stadt als Bericht einer Reise erzählt, die durch die äquinoktialen Wälder von Guyana führt, auf den Spuren der Eroberer.

Tristan Ranx spielt auch heute noch eine aktive Rolle durch seine literarischen Chroniken im Transfuge Magazin. 

Anicée Willemin | Brasserie de Montelly, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Anicée Willemin | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach

 

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Anicée Willemin: Die Literatur kann alles, die Poesie kann alles. Sie ist der einzige Ort absoluter Freiheit. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
AW: Die Cafés sind ein Katalysator, eine Art teilnehmendes Beobachten, das seinen Namen nicht nennt. Die Cafés sind ein Adjuvans. Manchmal sind sie das Leben selbst. Manchmal sind sie ein poetischer Moment. Manchmal nur ein blasser Abglanz. In jedem Fall laden sie zum Beobachten ein. Ein Beobachten ausserhalb seiner selbst und in sich selbst, wie ein tiefer Singsang, ein schwindelerregender Abstieg, eine nie endende Entropie.

Wo fühlst du dich zu Hause? 
AW: Ich fühle mich an gewissen Orten zu Hause, hauptsächlich aber in mir selbst, meiner grössten Zugangsquelle zur Aussenwelt. Wenn ich mich innerlich gut fühle, werde ich mich auch draussen gut fühlen. Dann fühle ich mich überall gut. Der Ort, an dem ich mich am meisten zu Hause fühle, ist jedoch die Poesie. 

 

BIO

Anicée Willemin ist a-ni-c. Sie ist und wird, was sie gerade wird. Getragen vom dröhnenden Atem des Absoluten hat sie den Blick vor allem auf poetisch-fragmentierte Räume gerichtet und ihre Musik genährt, während diese sie nährte. Sie kommt aus einem kleinen Juradorf und ist eine frische Vierzigerin, die sich durch Feld und Wiesen tollt und tummelt und ohne Unterlass das Leben ausprobiert, desgleichen das Leben des grünenden Schreibens. Ihr erster Gedichtband, Les balcons étaient comme des roses d’eau entêtantes (Die Balkone waren wie betörend duftende Wasserrosen) ist im März 2023 bei den Editions du Griffon in Neuenburg (Schweiz) erschienen.