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Anne Morelli | Brasserie Verschueren, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Anne Morelli | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach  

 

Ich habe mich für dieses Treffen mit Alain Barbero in der Brasserie Verschueren verabredet. Ihr Geschäftsführer, Bertrand Sassoye, ist mir sympathisch und wir teilten eine Reihe von Ideen. Doch eines Tages trennten sich unsere Wege …
Ich habe 100 Mal in meinem Leben gegen die Banken und ihre Betrügereien gedonnert, indem ich gesagt habe: „Man sollte denen eine Bombe reinwerfen“. 
Trotz dieser Behauptung habe ich es nie getan, aber Bertrand Sassoye schon! 
Die Gruppe, der er angehörte (die „Cellules communistes combattantes“) achtete darauf, nur die wenig vertretbaren Symbole des Kapitalismus anzugreifen: Unternehmen, die Waffen produzierten, Banken, Räumlichkeiten der NATO oder der Gendarmerie, das Rekrutierungsbüro der Armee. Diese Anschläge (etwa zwanzig) waren so geplant, dass sie niemals Unschuldige treffen sollten.
Doch am 1. Mai 1985 führt ein Übermittlungsfehler zum Tod von zwei Feuerwehrmännern.
Die Gruppe wird Ende desselben Jahres verhaftet und 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt. 
Als das Datum ihrer möglichen bedingten Haftentlassung erreicht ist, bleiben sie jedoch bis 2000 und 2003 in Haft. 
Mörder, die Frau und Kinder getötet haben, werden nach sieben oder acht Jahren Haft wegen guter Führung freigelassen, aber sie mussten beweisen, dass sie ihren Ideen abgeschworen hatten.
Vielleicht durch eine öffentliche Erklärung, dass der Kapitalismus von nun an moralisch sei?
Ich bin einem ganz anderen Weg als sie gefolgt.
Durch das Unterrichten an der Universität und die Populärwissenschaft der Kämpfe der Vergangenheit versuchte ich, ganze Generationen (1200 Studenten besuchten jedes Jahr meinen Kurs über historische Kritik an der Universität Brüssel) für kritisches Denken und Handeln zu sensibilisieren. 
Meine Art, bei jungen Menschen die Samen gegen Verzweiflung und das Gefühl der Ohnmacht, die sie allzu oft befallen, zu säen.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Weltlage noch gemütlich in einem Café sitzen? 
Anne Morelli: Während Tausende unschuldiger Menschen aus ihrem angestammten Land vertrieben, deportiert, bombardiert, ausgehungert und ermordet werden, vor unseren Augen, kann es sicherlich unpassend erscheinen, sich gemütlich in ein Café zu setzen, um dort sein Lieblingsgetränk zu genießen. 
Aber das Café kann auch – fernab der Überwachung durch unsere Mobiltelefone – ein Ort der Begegnung, des Gesprächs, der Entwicklung von Projekten sein. Ein Ort des Widerstands gegen lügende Medien,  gegen mitschuldige Politiker. Ist die Französische Revolution etwa nicht in Cafés gereift?

Kann Literatur noch die Welt retten? / Warum noch schreiben und lesen? 
AM: Tausende von Büchern – und sei es nur auf Französisch – werden zu jedem „literarischen rentrée“ veröffentlicht. Und jedes Jahr werden Hunderttausende von Exemplaren dieser Bücher in den Reißwolf geschickt. 
Jeder Autor glaubte, ein geniales und einzigartiges Werk geschrieben zu haben. 
Der „Markt“ des Verlagswesens hat nur die „rentablen“ Bücher behalten, die ihre Werbung zum Erfolg führt. 
Künstliche Intelligenz ist, wie es scheint, in der Lage, Romane zu schreiben. Ich bezweifle das nicht (die Regale der Buchhändler sind voller Unsinn), aber wird sie mit „Krieg und Frieden“ konkurrieren können? Bescheiden gesagt, ich freue mich, dass einige meiner Bücher einen politischen Einfluss hatten: gegen die nationalistische Dummheit zum Beispiel, die in jedem Land die Geschichte verdreht, um sich selbst als besonderes Volk darzustellen. 
Oder um die Leser vor Kriegspropaganda zu warnen, indem sie deren immer ähnliche, immer wirksame Mechanismen entlarvt.

Kann es eine literarische Sprache für Aktivismus geben? Oder ist das (bei dir) getrennt? 
AM: Es gibt keine spezielle Sprache für den Aktivismus, aber für ein breites Publikum verständlich zu schreiben und zu sprechen ist unerlässlich, wenn man seine Ideen verbreiten will. Das bedeutet nicht, dass man seine Gedanken extrem vereinfachen muss, aber man muss sie so ausdrücken, dass sie gehört werden. Eine Anstrengung, die nicht alle „Intellektuellen“ auf sich nehmen …

 

BIO

Anne Morelli ist Historikerin und Honorarprofessorin an der Universität Brüssel (ULB). 
Die von ihr herausgegebenen Sammelbände bieten eine andere Geschichte als die klassische Version des Nationalismus: die Geschichte der Rebellen, der Subversiven, der Ausländer, der emigrierten Belgier und Kriegsflüchtlinge … Ihr kleines Buch „Principes élémentaires de propagande de guerre“ (Elementare Prinzipien der Kriegspropaganda) ist zu einem Klassiker geworden, der regelmäßig aktualisiert und in acht Sprachen übersetzt wurde, darunter Japanisch und Esperanto.

Beata Umubyeyi Mairesse | La Diplomate, Bordeaux

Foto: Alain Barbero | Text: Beata Umubyeyi Mairesse | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Es gibt Orte, deren bloßer Name die Erinnerung an einen bestimmten Augenblick hervorrufen, so erging es mir mit dem Teesalon „La Diplomate“.  Dabei ging ich dort nur sporadisch hin. Das erste Mal beeindruckte mich der Teesalon 2014.  Ich war mit zwei Freundinnen verabredet, um ihnen ein Projekt vorzustellen, das mir schon lange am Herzen lag: in Bordeaux einen afro-karibischen Lesezirkel ins Leben zu rufen. Es war Spätsommer, und diese Marguerite Duras-Atmosphäre, gedämpft und kühl (wegen der Steinmauern der Altstadt-Gebäude), das schien wie geschaffen für eine flammende literarische Unterhaltung. Sie teilten meine Leidenschaft und unsere unterschiedliche Herkunft bot einen unendlichen Horizont an Lesestoff. Ich war hochschwanger und deshalb vereinbarten wir, dass die Treffen des neuen Buchclubs im Herbst beginnen sollten. Mein Sohn kam am nächsten Tag zur Welt, und der Lesekreis wurde im November gegründet. 
Ich ging wieder in den Teeladen „La Diplomate“, um Tees und Kräutertees zu kaufen, hatte aber keine Zeit mehr, um zu verweilen, und so schwor ich mir, es nachzuholen, wenn die Kinder älter wären. Ich verließ den Laden mit Duftsäckchen, deren Namen von Städten aus aller Herren Länder den Hauch der großen weiten Welt verströmten und deren Besitzer diese poetische Beschreibungen hinzugefügt hatten. Am meisten liebe ich diese hier wie:

Kigali (Grüner Rooibos, Eisenkraut, Orangenschalen, ganze Himbeeren, Johannisbeeren, Ringelblumenblüten, Passionsblume, Apfelstücke): „Land der tausend Hügel, der endlich wiedergefundene Frieden, eine Hommage an die Zärtlichkeit der Seele, in der die Weiblichkeit Mutter und Licht ist“.

Sansibar (Grüner Tee Sencha, Erdbeerstückchen, ganze Himbeeren, Rosenblätter und Rosenknospen): „Afrika, Asien, die Feluken warten auf die Abfahrt nach Ceylon, die Segel blähen sich“.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur tun?
Beata Umubyeyi Mairesse: Als ich mit dem Schreiben meines ersten Buches begann, bin ich in einem Text von Zadie Smith über David Foster Wallace auf diese schöne Antwort gestoßen, die ich mir zu eigen gemacht habe „Gute Literatur ist dazu da, gestörte Menschen zu trösten und bequeme Menschen zu stören“.

Wie wichtig sind Kaffeehäuser für dich?
BUM: Es ist ein uneingelöstes Versprechen. Ein Buch, ein Tee, wiedergefundene Zeit.

Wo fühlst du dich zu Hause?
BUM: Dort, wo mich niemand fragt, woher ich (in Wirklichkeit) herkomme.

 

BIO

Beata Umubyeyi Mairesse ist in Ruanda geboren und aufgewachsen. 
Sie hat 15 Jahre lang Projekte zur Gesundheitsprävention in Frankreich und im Ausland koordiniert. 
Seit 10 Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Gedichte und mehrfach ausgezeichnete Romane. Zuletzt erschienen: ein Album für junge Leser (Peau d’épice, Éd. Gallimard jeunesse, 2023), ein Gedichtband (Culbuter le malheur, Éd. Mémoire d’encrier, 2004) und eine Erzählung, Le Convoi (Flammarion, 2024). Letztere wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix de l’essai France Télévision und dem deutsch-französischen Franz Hessel-Preis.

Stephen Clarke | Les Eiders, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Stephen Clarke | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Ich liebe es zu reisen, neue Orte zu entdecken, unseren Planeten zu erforschen. Ich suche ständig nach neuen Stränden, um Bodyboarding zu machen. Eines meiner größten Vergnügen ist  es, mit meiner Maske und meinem Schnorchel im tropischen Meer zu tauchen, um das Unsichtbare zu sichten – die unter der Oberfläche versteckten Fische und Korallen.
Aber gleichzeitig mag ich auch zu Hause im 19. Arrondissement sein, den gleichen Tee zum Frühstück trinken, die gleiche Amsel (ein Weibchen mit schokoladebraunem Gefieder), die jeden Tag den Innenhof besucht, beobachten.
Früher ging ich jeden Morgen in das gleiche Café und ließ mich an der Theke nieder. Ich brauchte nicht mal etwas zu bestellen. Ich sagte Bonjour und bekam einen Espresso. Dort begegnete ich wie immer den Nachbarn, Jacqueline und Michel, die seit Jahrzehnten im Viertel wohnen. Getrennt. Jacqueline lebt mit ihrem Ehemann in den Hochhäusern gegenüber, Michel mit seiner Freundin in einer der Straßen da vorne. 
Sie beschrieben mir das Leben hier vor dem großen Abriss in den 80er Jahren. Ich erzählte ihnen meine Abenteuer als englischer Schriftsteller in Paris – und besonders interpretierte ich die letzten Kapitel des Epos von der englischen Königsfamilie. 
Dann, gleich nach dem Lockdown, wurde dieses Café von neuen Besitzern abgekauft, die all diejenigen verabscheuen, die es wagen zu lange mit nur einem Getränk an der Bar zu schwatzen. Also boykottieren wir es.
So bin ich ein bisschen nomadisch in meinem Viertel. Es gibt die gewohnten Begegnungen nicht mehr. An Markttagen gehe ich da lang. An sonnigen Tagen auf eine der Terrassen dort. Mittags komme ich regelmäßig hierher, ins Eiders, ein Café, wo die Besitzer gastfreundlich sind, wo das Tagesgericht in Ordnung ist und ich mein Glas Chardo bekomme ohne es bestellen zu müssen. Das schafft Kontinuität im Leben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Stephen Clarke: Ablenken und informieren. Zum Lachen bringen, wenn möglich. Allem voran kommunizieren. Die nettesten Bemerkungen, die meine Leser gemacht haben: „Am Ende Ihres Buches sagte ich mir, dass die Welt doch nicht so schlecht ist“; „ich fände es schön, wenn Geschichte an der Schule so gelehrt würde, wie Sie sie erzählen.“
Ich lese meine Texte – Romane und Essays – immer wieder laut, um sicherzugehen, dass der Rhythmus stimmt, die Sätze nicht zu lang sind, die Gedanken fließen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SC: „Café“ als Getränk ist für mich lebenswichtig. Vor dem ersten Kaffee des Tages funktioniert mein Gehirn nicht. Das Café als Institution ist also zunächst mal meine Tankstelle. Dann ist es ein Ort, wo ich mich gerne mit Freunden und Nachbarn treffe, um herauszufinden, was so in der Welt passiert. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
SC: Überall und nirgends. Ich passe mich schnell an einen neuen Ort an, ich nehme schnell neue Gewohnheiten an, trotzdem werde ich mich immer ein bisschen wie ein Outsider fühlen. Denn als ich neun Jahre alt war, verkündigte meine Mutter mir und meiner Schwerster eines Morgens, dass wir „abreisen“, und ich habe meine Freunde nie wiedergesehen.  

 

BIO

Stephen Clarke ist ein Pariser Engländer und ein englischer Pariser. Er ist Autor von etwa zwanzig Büchern, die in etwa zwanzig Sprachen übersetzt sind. Von seinem ersten Roman „Ein Engländer in Paris“ wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Sein erstes Geschichtsbuch „Liberté, Egalité, Fritten zum Tee: Warum die Engländer Frankreich erfunden haben“ war Nummer 1 in England und hat ein Museum in Frankreich inspiriert, das Centre Culturel de l’Entente Cordiale, im Château d’Hardelot.
Er spielt Bass und komponiert Chansons. 

 

Celia Walden | Cafe Phillies, London

Foto: Alain Barbero | Text: Celia Walden | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson 

 

Es ist erstaunlich schwierig, in London ein lokales und gemütliches Café zu finden. Mittlerweile gibt es eine Reihe von charakterlosen Kaffeehausketten, aber mein Lokal, das Café Phillies, ist eines jener Orte, wie es sie früher einmal gab, wo „jeder jeden kennt“ und wo du stundenlang bleiben kannst, um zu schreiben oder um in einer Ecke zu lesen, wo du nur ab und zu von Bekannten gegrüßt wirst.
Früher konnte ich nicht an öffentlichen Orten schreiben, aber mittlerweile beruhigen mich die Hintergrundgeräusche, besonders wenn ich an einem Roman schreibe. Mit einem journalistischen Text ist die Sache einfacher, da man nicht bei jedem Satz, den man notiert, mit der eigenen Fantasie konfrontiert wird; geht es indessen um fiktive Texte, scheint es mir lebenswichtig zu sein, sich während des „Prozesses“ nicht zu viele Regeln aufzuerlegen. Diese Regeln können sehr schnell zu Aberglauben (und Spleens) werden, die einen bei jedem Schritt behindern:   „Oh, ich kann   nicht   schreiben,  wenn  mein  Tisch  nicht  nach  Osten / Norden  ausgerichtet
ist …“. Wenn ich jedoch in einem Café wie diesem sitze, wo alle um einen herum entspannt und frei sind, dann kann mich das davon abhalten, über jeden erdenklichen Unsinn nachzudenken – und das macht mich frei zum Schreiben.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur bewirken?
Celia Walden: Es heißt, dass Literatur uns an ferne Orte bringt und uns Dinge erleben lässt, die die meisten von uns zu Lebzeiten nie erleben würden, und ich glaube fest daran, dass uns die Literatur alle fest miteinander verbindet. Dieses Gefühl, wenn wir uns mit einem Gedanken oder einer Erfahrung in einem Buch identifizieren, ist eines der verbindendsten Dinge, die es gibt.

Wie wichtig sind für dich Cafés?
CW: Schriftsteller neigen dazu, viele unerwünschte Stimmen in ihrem Kopf zu haben. Meistens ist das eine Stimme, die einem sagt, dass man nicht gut genug ist und dass man jetzt besser aufgeben sollte. Die angenehmen und freundlichen Stimmen eines Cafés um sich herum zu haben, kann ein Gegenmittel sein. Es kann die widersprüchlichsten Stimmen in deinem eigenen Kopf zum Schweigen bringen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
CW: Ich fühle mich am wohlsten an meinem Schreibtisch, mit einer Katze auf meinem Schoß und einer anderen, die in dem Bettchen schläft, das ich ihr hergerichtet habe, nur wenige Zentimeter von meiner Tastatur entfernt: Ich bin aus einem einzigen Grunde da, im Hier und im Jetzt – das hat etwas Beruhigendes für mich.

 

BIO

Celia Walden, geboren und aufgewachsen in Paris, hat in Cambridge französische und italienische Literatur studiert und ist bekannt geworden mit Artikeln über Frauenthemen, Gesundheit und Schönheit. Sie ist Schriftstellerin und Journalistin für den Daily Telegraph und schreibt für Glamour, GQ, Elle, Harper’s Bazaar, Grazia, Stylist, Standpoint, The Spectator und die russische Vogue. Sie tritt in TV-Shows wie The Andrew Neil Show, BBC News, Sky News und auf ITV auf.
Von ihr erschienen „Harm’s Way“ (Bloomsbury Publishing, 2008), „Babysitting George“ (Bloomsbury Publishing, 2011), das für den William Hill Sports Book of the Year Award (2011) nominiert war sowie „Payday“ (Sphere, 2021).
Sie lebt zwischen Los Angeles und London.

Pia Petersen | La Belle Hortense, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Pia Petersen | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach

 

Vor der Belle Hortense diskutieren die Leute miteinander, ihr Glas in der Hand. Einige rauchen. Drinnen ist die Bar brechend voll. Hinter der Theke ist Brigitte sehr damit beschäftigt, alle zu bedienen, A hilft ihr dabei. Sie nimmt sich immer Zeit, mich zu begrüssen., genau wie A, der zwischen dem Petit Fer à Cheval und der Belle Hortense hin- und her pendelt. Das Lokal ist winzig, langgezogen, links vom Eingang die Bar mit Weinflaschen bis zur Decke und rechts die Bücherregale, ebenfalls bis zur Decke. Davor zwei Bistrot-Tische. 
An den Wänden Fotos der Ausstellung von David Turnley. Die Barhocker sind immer besetzt. Manchmal gruppiert Brigitte die hier sitzenden Leute um, um mich in der Mitte unterzubringen. Ich sage mit Absicht »unterbringen«, weil ich mich hier zuhause fühle, sozusagen im Familienkreis. Wein und Bücher an ein und demselben Ort. Vor Jahren hatte ich in Marseille eine Café-Buchhandlung eröffnet, denn ich wünschte mir einen solchen Ort für meine Verabredungen. Damals gab es das nicht. Mir scheint, es seien ein paar Leute aus Paris hergekommen, um einen Augenschein zu nehmen. So bekamen sie eine Vorstellung davon, von einer Buchhandlung mit Weinbar. Ich sage mir gerne, es sei die Belle Hortense gewesen, und vielleicht war sie es auch.
Schreibe ich, wenn ich in die Belle Hortense komme? Nein, nicht wirklich. Eher lebe ich mit ihr. Ich habe meinen Schreibtag abgeschlossen und trinke zur Entspannung ein Glas mit diesen Büchern, die nicht meine sind, und mit Freunden. Es tut gut, ein fertiges Buch zu sehen, das in die Welt hinausgegangen ist, um sein eigenes Leben zu leben. Wenn ich über meinem Manuskript sitze, denke ich nicht an das fertige Buch. Es existiert nicht. 

Die Bücher sind meine natürliche Umgebung. Wenn ich das Manuskript liegen lasse, an dem ich arbeite, um an der Welt teilzunehmen, gehe ich gern an einen Ort, an dem die Bücher ihr Après-Schreiben-Leben haben. In einer Weinbar sind sie so lebendig. Sie stehen zwar nicht immer im Mittelpunkt, der Wein ist ein starker Konkurrent, sind aber doch sehr präsent. Wer in der Belle Hortense verkehrt, liebt Bücher. Worte und Ideen flirren noch und noch durch das kleine Lokal.
Die Bücher beruhigen mich, in der Belle Hortense hole ich jedoch nur selten eins aus dem Regal, um darin zu blättern. Man muss sich ausruhen können, absehen, Abstand nehmen können.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Pia Petersen: Ohne Worte, ohne Sprache gibt es keine Welt. Die Literatur erfindet Möglichkeiten, schafft Durchblicke. Sie lässt existieren, was nicht mehr existiert, was noch nicht existiert, was eines Tages existieren wird. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PP: Ich arbeite gern in Cafés. Sie sind Orte der Begegnung, im Zentrum der Gesellschaft. Hier treffen sich die Menschen, sprechen miteinander, können sich manchmal nicht ausstehen. Es geht darum, sich in die Lage zu versetzen, schreiben zu können, ohne etwas von der Welt zu verpassen, die ringsum lebt und vorbeigeht. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
PP: Nirgends.

 

BIO

Pia Petersen kam in Dänemark zur Welt. Sie schreibt auf Französisch und auf Englisch. 
Ihr letztes Buch La vengeance des perroquets (Die Rache der Papageien) ist bei den Editions Les Arènes erschienen. 
Sie hat zwölf Romane publiziert, sechs davon bei Actes Sud. 
Pia Petersen hat die Buchbranche erkundet, indem sie in Marseille das Buchhandlungs-Café Le Roi Lire eröffnete.
Sie wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix de la diffusion de la langue et de la littérature françaises, Académie française, 2014, und kürzlich, 2024, mit dem Internationalen Rotary-Preis des französischsprachigen PEN-Clubs.
Sie hat an mehreren Residenzen teilgenommen: Haiti, China, Chaumont, Lille.
Website: www.piapetersen.net

 

Mamadou Mahmoud N’Dongo | Bar Bukowski, Amsterdam

Foto: Alain Barbero | Text: Mamadou Mahmoud N’Dongo | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Charles Bukowski (1920-1994) war der erste Schriftsteller, dessen Biographie ich las, als ich auf dem Gymnasium war. Eine pittoreske Figur der Westküste, Underground-Poet des Suffs, des Sex, Novellist und Erzähler des Gothisch-Absurden, ein Romancier des Lumpenproletariats. Ein großzügiger Schriftsteller, der sich der Selbstironie und des Humors bediente. Chronist des künstlerischen L.A. – so lernte ich durch ihn das Werk von John Fante kennen. Bukowski war der talentierte Porträtist eines anderen Amerikas aus Kneipengängern, himmlischen Pennern, ätherischen Schönheiten, wunderbar verkörpert von Faye Dunaway in dem großartigen Film Barfly von Barbet Schroeder, wo Mickey Rourke Chinaski ist, also Bukowski! 

Einige Jahrzehnte später, Freude und Überraschung, als ich in meinem neuen Viertel in Amsterdam die so passend benannte Bar Bukowski entdecke. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Mamadou Mahmoud N’Dongo: Schlechte Schriftsteller machen 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
MMN: Es gibt eine Erzählung von Borges mit dem Titel „Das Aleph“,  in der man diesen Satz findet: „(…) und mir schwindelte und ich weinte, weil meine Augen dieses geheime und auf Vermutungen beruhende Objekt gesehen hatten, dessen Namen die Menschen sich aneignen, aber das nie ein Mensch geschaut hat: das unfassbare Universum. (…)“*
Ist es dir schon mal passiert, dass du durch ein Land, eine Stadt, ein Viertel oder auch nur durch eine Straße spazierst, und du zufällig um die Ecke biegst und auf ein Café triffst? Du siehst an seiner Architektur, seinem Licht, seinem Dekor und den Menschen, die dort sind, dass du nicht mehr in einer Straße, einem Viertel, einer Stadt oder einem Land bist, sondern dass dieses Café ein ganzes Universum ist, und manchmal, ich sage manchmal, hast du den Eindruck, die Figur, der Erzähler des „Aleph“ zu sein …, so kann dieses Café, diese Bar, eine Art „Horizont der Ereignisse“ sein; wenn du die Schwelle überschreitest, tauchst du ein!

Wo fühlst du dich zu Hause?
MMN: In meinem Innersten. 

 

BIO

Mamadou Mahmoud N’Dongo, 1970 im Senegal geboren, ist Schriftsteller, Dramaturg, Fotograf und französischer Filmemacher, der in Drancy und Amsterdam lebt. Seine ersten Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Berichte veröffentlichte er ab 1997. Neben seinem literarischen Werk ab 1991, wurde er Dokumentarfotograf und drehte experimentelle Filme. 

*Freie Übersetzung aus dem Spanischen El Aleph von Jorge Luis Borges (Seix Barral)

Guillaume Métayer | Le Select Montparnasse, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Guillaume Métayer | Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Unterweger

 

Im Café Select

Ich sitze auf der Terrasse des Sélect, und es ist spät, sehr spät, als ich glaube zu sehen, dass eine kleine Nähmaschine auf dem Boden vorbeifährt. Ganz rund ist sie und winzig, nicht größer als der Bizeps eines kleinen Großmauls. Der Muskel bewegt sich, als ob nichts dabei wäre, im gleichmäßigen Rhythmus eines Reißverschlusses, eines Elektroautos, ohne je davon abzuweichen. Diese Gleichmäßigkeit ist seine Zauberformel für Unsichtbarkeit. Seine Vogel-Strauß-Politik. Ab und zu stoppt der Zipp, um dann ganz plötzlich wieder, aber ohne Ruck, weiterzufahren. Diese aufmerksame Schneiderin flickt da im Stillen, ganz auf ihre Arbeit konzentriert, etwas unter den Tischen, repariert ein Stück Welt im Hintergrund. Die Maschine erstarrt, fährt wieder los, wie ein Spielzeugauto, das sich selbst aufzieht. Sie erscheint ebenso erratisch wie regelmäßig, als ob der Mechanismus verrückt spielte. Andererseits wirkt sie alles andere als kaputt. Im Gegenteil, sie ist völlig glatt, von einem perfekten Hellgrau, ohne Muster. Von ihrem aufmerksamen, pünktlichen Hin-und-her geht eine Atmosphäre der Ruhe und Gelassenheit aus. Ich stelle mir vor, dass sie – indem sie immer eines nach dem anderen ansteuert: Stuhlbein nach Stuhlbein, dann die Körner des Langustenrisottos, das zur Kippe verkohlte Pommes, einen Krümel Brot –, etwas auf den Boden zeichnet, etwas, das nur von oben sichtbar ist. Sie erledigt die Arbeit einer unauffälligen Müllsammlerin wie ein automatisierter Staubsauger, und ich bin stolz darauf, diese Mischung aus Roboter und Klabauter wahrgenommen zu haben. Paris ist noch voll von diesen Kleinereignissen, diesen kleinen Wundern, Skandälchen, für die man wie eine müde Katze nur halb die Augen öffnet. Schon heute Morgen war ich da, in meinem Lieblingscafé: als der Angorakater des Besitzers, ein pensionierter Jäger, über die Bar-Relings von Tisch zu Tisch strolchte. Dieser Oger lungert zu dieser Stunde wohl irgendwo weiter oben herum, in einem der himmlischen Stockwerke dieses Feen-, dieses Kaffeehauses. Keinerlei Aufmerksamkeit schenkt er der potenziellen Beute hier, dem kleinen Däumling, der von Brösel zu Brösel segelt, um einen Großen Bären darzustellen, dessen schlaftrunkenem Faden ich zu folgen versuche, ohne daran zu glauben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Guillaume Métayer: Alles, und zwar mehrfach. Sie kann die Welt erschaffen und wieder erschaffen, ohne Unterlass. Aber all das geschieht im Plural und im Konjunktiv, und das macht es erträglich.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
GM: Sie flößen mir ein bisschen Angst ein, wie Treibsand: die Angst, nicht mehr zu wissen, wo man zu Hause ist. Daher besuche ich sie nicht so häufig, wie ich wohl sollte. Natürlich trinke ich Kaffee mit Freunden und Kollegen, aber es ist nicht wirklich meine Gewohnheit, im Café zu arbeiten. Ich mag das Select, weil sein zeitloser Chic wie eine Nicht-Zeit wirkt, die Freundlichkeit seiner Kellner und die Abwesenheit von Musik wie ein Nicht-Ort. Ich fühle mich beschützt von dieser Zeitlosigkeit.

Wo fühlst du dich zu Hause?
GM: In gewissen Métro-Zügen, zu gewissen Jahreszeiten. Ich sitze und warte, bis die Bahn aus dem Untergrund steigt und wieder über der Seine schwebt, vorbei an den Haussmann’schen Balkonen… Dann drehe ich den Kopf, genau in jenem Moment, in dem in der Zahnlücke zwischen zwei Gebäuden der Taj Mahal des Montmartre als Silhouette auftaucht. Das billige Parfum, das in der Luft liegt, erinnert mich an die Sonntage meiner Jugend. In solchen Momenten gibt es nichts Komfortableres als einen Klappsitz.

 

BIO

Guillaume Métayer ist Lyriker, Übersetzer und Literaturhistoriker. Sein letzter Gedichtband, „Mains positives“, ist eben bei Rumeur libre éditions (2024) erschienen. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er selbst überträgt zahlreiche mitteleuropäische Stimmen ins Französische, sowohl zeitgenössische wie István Kemény, Aleš Šteger, Krisztina Tóth oder Andreas Unterweger als auch romantische und moderne wie Attila József, Ágnes Nemes Nagy, Sándor Petőfi sowie die Gedichte von Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer.

Bessora | La Demeure Monceau, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Bessora | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Marco Polo und ich

Wie sein Name nicht vermuten lässt, ist Marco Polo ein Tee. Schwarz, grün oder weiß wird er in den Cafés serviert, um Sie zu einem unbeweglichen Globetrotter zu machen. Seine Aromen von Blumen und Früchten aus China und Tibet verwandeln Sie in einen kaiserlichen Abgesandten in Zentralasien. Wie Marco Polo sind Sie nun Botschafter des Papstes in China, abendländischer Reisender vor dem Ewigen und vor dem großen Kublai Khan.
Das alles, ohne den Hintern von Ihrem Sessel zu bewegen.
Ihr kleiner Arsch hat es schön warm in den gepolsterten Sesseln der Demeure Monceau, Paris. Dieses Restaurant nimmt Sie in eine andere Zeit mit, ins neunzehnte Jahrhundert, mit den Tönen eines bürgerlichen Hauses, in dem Marco Polo seine Reiseberichte vortragen könnte. Nur, dass er seit 1324 tot ist.
Also gut, Winter 2023, ihre Hände werden von einem Vintage-Teapot aus den 30ern gewärmt, den schmerzlich vermissten, so photogenen 1930er Jahren.
In der Teekanne zieht der marvellous fruity & flowery black tea, voll wehmütiger Erinnerung an bestimmte Zeiten und vielleicht bestimmte Vorherrschaften. Wie soll man dem netten Fotografen gegenüber eine Pause machen, der sich so bemüht, Ihr Porträt aufzunehmen?
Sich daran erinnern, dass man einst die Cafés mochte.
Dort den Großvater treffen, der dort seine gewohnte Kartenrunde hatte, mit seinen Freunden, den Stammgästen. Es war entweder das Dôme oder die Bergerie, neben dem Laden der Großeltern.
Wir tranken eine Limonade, Sinalco, Grapillon oder Rivella.
Als Jugendliche gingen wir in die Rhumerie, das chemische Orangenfanta färbte einem die Zunge. Hin und wieder geselliges Zusammensein in einer Kaschemme in Cap Lopez mit Freunden, die sich mit Reisschnaps oder Palmwein besoffen.
Später, in den Cafés des Abendlandes von Marco Polo, wundern sich Arglose: Tu trinkst nichts? Warum… bist du Muslimin?
Nein.
Wir sind gar nichts. Aber jemand, der nicht trinkt UND dessen Haut zu braun ist, gibt den idealen Verdächtigen für islamistische Tendenzen ab. Vor allem, wenn er einen Lindenblütentee bestellt. Sehr eigenartig.
Und unversehens wird das Café zum Banner der Zivilisation gegen die Barbarei. Der Barbar, das ist die Kanakenfresse, die nicht ins Café geht und die Kräutertee trinkt.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur machen?
Bessora: Nicht viel, aber das ist besser als nichts.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
B: Ich mag sie nicht mehr besonders. Aber ich habe sie auch nicht völlig von der Karte gelöscht. Meine Großtante betrieb ihr ganzes Leben lang ein Café-Restaurant. Und ich habe sie zu oft im Nyfnegger in Lausanne getroffen, als dass das Motiv „Café“ aus meinem Leben verschwinden könnte. Vor allem hat sie mir Bonbons geschenkt. Sugus-Kaubonbons. What else.

Wo fühlst du dich zuhause ?
B: Dort, wo ich bin.

 

BIO

Bessora veröffentlicht seit 25 Jahren Literatur, Jugendbücher und Comics, und sie schreibt für Persönlichkeiten, die Zeugenberichte und Dokumentationen verfassen. Sie sitzt auch der Nationalen Gewerkschaft der Autoren und Komponisten vor (Syndicat National des Auteurs et des Compositeurs, SNAC).
Ihr vorletzter Roman Les Orphelins (Lattès-Harper Collins) wurde auf Deutsch übersetzt (Ihr werdet glücklich sein, Peter Hammer Verlag).
Neuester Roman: Vous, les ancêtres  (Lattès, Harper Collins)
Preise und Auszeichnungen : Best European Fiction 2016, English Pen 2016, Grand Prix Filiga d’Honneur 2022, Chevalier des Arts et des Lettres 2022, Prix Kourouma 2024, Prix Suisse de Littérature 2024.

Catherine Cusset | L’Élephant du Nil, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Catherine Cusset | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

        Es gibt viele Cafés auf dem Platz bei der Métrostation Saint-Paul, fünf Minuten von meinem Haus entfernt. L’éléphant du Nil hat mich angezogen, weil das ein echtes Pariser Café ist, mit Zinktheke, kleinen dunklen Holztischen, Bistrostühlen und alten Fliesen. Ich fühle mich dort wohl. Eine Durchreiche öffnet sich zur Küche, wo der Koch gutes und preiswertes Essen zubereitet. Die Kellner sind jung und freundlich, und sie lächeln – im Gegensatz zum Klischee des typischen Pariser Kellners.
        Hier komme ich in Paris an, wenn ich aus New York anreise. Dreißig Jahre lang landete ich drei- oder viermal im Jahr in Roissy, holte meinen Koffer ab, nahm den RER, stieg in Châtelet um und stieg in Saint-Paul gegenüber dem L’éléphant du Nil aus. An der Theke bestellte ich einen Grand Crème, im Stehen, neben Stammgästen, die gerade einen Espresso oder ein Glas Wein tranken. Manchmal blieb ein Croissant übrig, buttrig und knusprig. Es ist Mittag in Paris und 6 Uhr morgens in New York. Der heiße, süße Milchkaffee läuft durch meine Kehle, ich schlucke einen Bissen Croissant hinunter, diese vertrauten Geschmäcker sagen mir, dass ich angekommen bin, dass ich zu Hause bin.
        Im Café lese ich, aber ich schreibe nicht. Zum Schreiben brauche ich Stille und einen abgetrennten Raum. Virginia Woolf hatte nicht Unrecht, als sie auf der Notwendigkeit eines eigenen Zimmers bestand. Ich gehe vom Bett zum Schreibtisch, vom Schlaf und von den Träumen zum Schreiben, ohne Übergang. Ich beginne den Tag nie mit einem Frühstück im Éléphant du Nil, obwohl ich den Grand Crème und die Croissants so sehr liebe. Nur, wenn ich aus New York ankomme.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur leisten?
Catherine Cusset: Kafka schreibt, dass sie die Axt für das gefrorene Meer in uns sein muss. Ja. Sie öffnet uns – uns selbst, dem anderen, der Welt. Sie macht uns größer, reicher, bewegt uns fort. Es gibt zwei Arten von Literatur: in der einen geht es um Unterhaltung, in der andern um Suche. Obwohl ich diejenigen bewundere, die Bücher schreiben, die von Teenagern verschlungen werden, bevorzuge ich die andere Art. Ich lese nicht für die Handlung, sondern für die Bedeutung, für die lebendige Anwesenheit eines menschlichen Geistes. Gute Bücher sind solche, bei denen man das Ende bereits kennt und die man noch einmal lesen kann, ohne sich je zu langweilen. Ich lese und schreibe, weil ich auf der Suche bin – nach Wahrheit, nach Sinn, nach Verbindung, nach Kohärenz, nach Andersartigkeit, nach mir selbst.
        Es fällt mir schwer, ohne schreiben zu leben. Ich werde sehr schnell depressiv. Nur das Schreiben macht mein Leben erträglich. Weil es vereint, sammelt, Bedeutung schafft, die Erinnerung bewahrt, Zugang zum Anderen und zum Besten von einem selbst gibt. Schreiben ist eine einsame Tätigkeit, aber das einzige echte Mittel, die Einsamkeit zu verlassen.

 

BIO

Catherine Cusset, geboren 1963 in Paris, ist Autorin von fünfzehn Romanen, die zwischen 1990 und 2021 bei Gallimard erschienen und in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt wurden, darunter Janes Roman (Grand Prix des lectrices d’Elle 2000), Hockneys Leben (Prix Anaïs Nin) und Die Definition von Glück. Als ehemalige Studentin der École Normale Supérieure in der Rue d’Ulm, Absolventin der klassischen Philologie und Autorin einer Dissertation über Sade unterrichtete Cusset zwölf Jahre lang in Yale, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach dreißig Jahren in New York lebt sie heute zwischen Paris und der Halbinsel Crozon in der Bretagne.

Béatrice Riand | Cafè de l´Òpera, Barcelona

Foto: Alain Barbero | Text: Béatrice Riand | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack

 

Bringt mir Erinnerung Gewinn, fragt Apollinaire, wenn er die Seine und die Mirabeau Brücke besingt… komme du Nacht, Stunden schlagt sacht, die Tage vergehen, ich bleibe bestehen. Und auch die Erinnerungen, immerfort die Erinnerungen. Wenn ich durch die Tür des Café de l’Opéra in Barcelona gehe, begebe ich mich auf die ungewisse Brücke der Erinnerung. Und ich suche, suche die Silhouetten vergangener Zeiten. Die schützenden Schatten, die meine Kindheit umfassen, sie bei der Hand nehmen, um sie jeden Sonntag in den Genuss von churros con chocolate zu bringen. Ins Ohr flüstern zärtliche Stimmen, du bist Katalanin, Kleines, vergiss das nicht, vergiss das nie. Ich vergesse nicht. Und ich vergesse sie nicht. Weder meinen tapferen Großvater, der sich weigert, auf seine Brüder zu schießen, als der Bürgerkrieg das Land und die Herzogsstadt auseinanderreißen, noch meine schwache Urgroßmutter, die ihr eigenes Leben riskiert, um für viele Jahre drei verängstigte Klosterschwestern hinter einer falschen Mauer in einem Weinkeller zu verstecken, noch meine siebzehnjährige Großmutter, die über die Gewalt der Männer weint und inmitten der Trümmer einer vereitelten Existenz Klavier spielt. Die churros aus dem Café de l’Opéra sind meine Madeleine von Proust, mein Erbe. Ich schließe die Augen, greife zu einem gezuckerten Krapfenteig und sehe sie wieder, sie lächeln mir zu. Ich höre ihre Stimme. Ihrem Atem auf mir. Und die Tage vergehen, die Wochen vergehen, die Jahre vergehen, was spielt Zeit, ihr Zerfasern, für eine Rolle, glaubt mir, ich sehe sie wieder. Sie sind hier. Pedro und seine gepunktete Krawatte, Eulàlia und ihr Kranz aus Rosenblüten, Maria und ihre fächernde Milde. Und ich feiere aus meinem tiefsten Inneren den Mut jener, die damals den Krieg kennenlernen mussten. Oder die heutigen Grausamkeiten erfahren. Und ich sage euch, die Gestorbenen sterben nie. Ich sage euch, ja, komme du Nacht, Stunden schlagt sacht, die Tage vergehen, Erinnerungen bestehen.

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Béatrice Riand: Literatur bedeutet ein Luftholen, das zwischen Realem und Plausiblen schwebt, zwischen Wahrem und Wahrhaftem. Und dieser ungewisse Atem ermöglicht allen einen anderen Blick auf die Welt zu erfahren. Aber Achtung, nicht falsch verstehen: „die Literatur dient nicht dazu, besser zu sehen. Sie dient nur dazu, die Dicke des Schattens besser einzuschätzen.“ (William Faulkner)

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
BR: Auf die Gefahr hin, dass ich dich enttäusche, muss ich zugeben, dass ich nicht viel in Kaffeehäusern schreibe, nicht in Kaffeehäusern lese. Die einzigen Einrichtungen, in die ich regelmäßig gehe, sind mit alten Erinnerungen verbunden.

Wo fühlst du dich zuhause?
BR: Ohne Zweifel in meiner Bibliothek. Wenn ich mich an meinen Schreibtisch setze, von Büchern umgeben, die mich seit Jahren begleiten, eingehüllt in Worte von anderen, empfinde ich einen echten inneren Frieden. Ich kenne weder Einsamkeit noch Stille.

 

BIO

Béatrice Riand wuchs als Tochter eines Schweizer Vaters und einer katalanischen Mutter zwischen zwei Kulturen und drei Sprachen auf. Nach einem Master in französischer Literaturwissenschaft und Psychologie widmet sie sich dem Schreiben. Sie wurde zwei Mal mit dem Prix du Jury des Arts et Lettres de France ausgezeichnet, drei Mal mit dem Prix du Jury de la Société des Écrivains Valaisains, darunter erst unlängst für ihren Roman Si vite que courent les crocodiles (BSN Press), der sich mit Problematiken der Pubertät beschäftigt. Im Oktober 2023 erschien ihr dritter Roman Ces jours-là (Editions Slatkine), der sich mit dem Thema des Inzests auseinandersetzt.