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Jean Portante | Café La Liberté, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Jean Portante | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In Luxemburg war ich ein eifriger Cafégänger. Es gab eins, das mythischste, in der Zwischenzeit verschwunden, das mein zweites Zuhause war, jeden Abend oder fast jeden, bis zum Morgengrauen; das Bier floss da in Strömen. Das war in den Siebziger Jahren. Es gab endlose Diskussionen zu führen. Nach unseren Träumen kam die Zukunft. Die Utopie in Reichweite der Wünsche. Liebeleien für eine Nacht keimten da auf und erstarben. Es hieß „Chez Malou“. Studierende, Künstler, Politiker, Anwälte vermischten sich dort. Ich habe dort meinen ersten Dichter getroffen: Edmond Dune.
Der Autor von „Je vous écris d’un café triste“. Ich denke oft an ihn. Der traurige Poet. Er ist es wohl, der mir den ersten Stupser gab, der mich hin zur Poesie trieb. Dann ging ich weg. Nach Paris. Ich wollte Dichter werden. Schriftsteller. Ich schrieb meine ersten Bücher. Danach die anderen. Aber ich brauchte keine Cafés mehr. Außerdem waren die legendären Orte im Niedergang. Es gab noch in den Achtziger Jahren das Saint-Claude auf dem Boulevard Saint-Germain, wo man Dichtern begegnen konnte, aber ganz schnell hat es einem Geschäft für schicke Kleidung Platz gemacht. In den anderen, Les Deux-Magots, le Flore, Lipp, La Closerie des Lilas trieben die Touristen die Preise in die Höhe. 
Und ich war ein Sans-le-sou, ohne einen Pfennig. Wie alle meine Dichter- und Künstlerfreunde. Man traf sich mal bei dem einen, mal beim anderen, trank Wein für drei Groschen, ins Café ging ich nur zu Verabredungen. Das Sarah Bernhardt vor allem, in Châtelet, denn alle Metros führten dorthin. La Liberté schließlich, an der Edgard Quinet, näher bei mir zu Hause. Da, wo Sartre am Ende seines Lebens hinging. Aber weder die Kellner noch die Kunden wissen das. Ich schon. Deswegen setze ich mich nie an den selben Tisch. Als wäre ich auf der Suche nach dem Stuhl, den er ausgewählt hätte. 

 


Interview mit dem Autor

Kann Literatur noch die Welt retten? 
Jean Portante: Die Literatur erzählt die Welt. Sie schafft eine Welt. Sie bereichert die Vorstellungskraft für die Welt. Aber gegen das Auseinanderdriften der Welt hat sie keine Waffen. Sie hat keine Waffen gegen die Kriege, die Hungersnöte, die Diktaturen, das Geld, den ethischen Bankrott, die Lüge, die Entmenschlichung, den zunehmend allgemeiner werdenden Sinnverlust … Ein Gedicht, ein Roman, eine Novelle, ein Theaterstück sind nur intime Momente, die sich an das Innerste des Lesers wenden, ihm Vergnügen bereiten, ihn manchmal warnen, ihm helfen zu verstehen, ihn menschlicher machen, ihm Horizonte eröffnen, aber an seiner sozialen Lage ändern sie nichts. Was ist eine Bibliothek wert gegen eine Bombe, die in Gaza, in der Ukraine oder anderswo auf das Gebäude fällt, das sie beherbergt. Wenn die Menschheit sich eine Zukunft geben will, muss sie eine soziale Utopie schaffen. Auf diesem Boden könnte die Literatur vielleicht ihre Samen pflanzen, aber ob sie die Zeit hat. Es gibt jetzt eine Dringlichkeit. Das Haus brennt schon.  

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JP: Ich weiß, dass es Schriftsteller gibt, die sich in die Ecke eines Cafés setzten, um Notizen zu machen, und sogar um zu schreiben, oder einfach, um ihrem Geist zu erlauben,  abzuschweifen,  ich nicht.  Beziehungsweise nicht mehr.  Oder nicht mehr in Paris.  Wenn ich woanders bin,  mache ich mich  systematisch  auf die  Suche  
nach den Cafés,  die andere Schriftsteller vor mir frequentiert haben.  Ich suche dort die Stadt zu lesen,  bevor ich sie mit Schritten durchmesse.  Und ich mache mir Notizen …

Wo fühlst du dich zu Hause?
JP: Um zu schreiben: bei mir, an meinem Schreibtisch, in Paris, umgeben von meinen Büchern. Ansonsten, auf der ganzen Welt.

 

BIO

Jean Portante wurde 1950 als Sohn italienischer Eltern in Differdange (Luxemburg) geboren. Er lebt in Paris. Sein reiches Werk, bestehend aus ungefähr fünfzig Büchern – Poesie, Romane, Essays, Theaterstücke – wurde weitgehend übersetzt. In Frankreich ist er Mitglied der Academie Mallarmé. 2003 erhielt er für sein Buch L’étrange langue den Prix Mallarmé. 2011 wurde er in Luxemburg mit dem Prix national geehrt. Seit 2018 schreibt er seine Bücher in zwei Sprachen, Französisch und Italienisch. Seit mehr als 30 Jahren übt er eine Tätigkeit als literarischer Übersetzer aus.

Nora Bouazzouni | Café du Coin, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Nora Bouazzouni | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

 

Ich mag das Gewirr der Stimmen in Bars, Cafés und Restaurants, weil es mein eigenes, mein inneres Stimmengewirr zum Schweigen bringt. Tagsüber würde es mich von der Arbeit abhalten – ich brauche Ruhe, um zu schreiben –, aber abends hält es mich vom Grübeln ab. Ich atme das Stimmengewirr ein, sauge es auf, es umhüllt und beruhigt mich. Andere meditieren, um den Kopf frei zu bekommen oder negative Gedanken zu vertreiben. Ich hingegen setze mich allein an die Bar, bestelle ein Glas Wein oder einen Negroni und höre hin. Jeder Ort hat sein eigenes Stimmengewirr, eine eigene akustische Signatur. Darum könnte ich die Geräusche meiner Lieblingsbars und -restaurants unter Tausenden wiedererkennen: das Geräusch der Zapfanlage, der sich öffnenden Kühlschränke, die Art, wie die Stimmen von den Wänden abprallen, sich Stühle und Hocker über den Boden schieben. Ich lausche den Gesprächen und Fragen der Kunden und Kundinnen, nehme Seitenblicke wahr, die verschränkten Arme, die hinters Ohr gekämmten Haare, die neuen Schuhe, den Lidstrich, die Bücher, in denen jemand blättert, während er auf eine Verabredung wartet. Ich versuche zu erraten, wer ein Kollege ist, wer eine Freundin, vielleicht auch Geliebte oder ein bereits Verliebter ist, der seine Frau betrügt; wer sich langweilt, wer nur auf der Durchreise ist in diesem Café, dieser Bar, diesem Restaurant, dieser Stadt, diesem Land. Ich höre alles, ich sehe alles. Ich werde unsichtbar.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Lage der Welt noch gemütlich in einem Café sitzen?
Nora Bouazzouni: Erlauben Sie mir, diese Frage mit einer anderen zu beantworten: Was würde sich an der (verzweifelten) Lage der Welt ändern, wenn wir aufhören würden, Cafés zu besuchen?

Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
NB: Beides! Eine halbe Stunde lang an derselben ausgepressten Orange nippen; eine Vorspeise oder zwei Nachspeisen bestellen; seinen Kummer in Chenin Blanc ertränken … Das könnte man auch zu Hause tun, aber es würde sich anders anfühlen. Man geht in ein Café, um zu trinken oder zu essen, aber auch um zu sehen (oder gesehen zu werden), sich auszutauschen, zuzuhören, zu riechen … Die soziale Interaktion beginnt, sobald man durch die Tür tritt, unabhängig davon, ob man sich entscheidet, andere Gäste anzusprechen oder nicht.

Hat das Café heute noch eine soziopolitische Bedeutung? Wenn ja, welche?
NB: Cafés haben zahllose soziale und darum auch politische Funktionen: Sie durchbrechen die Isolation, fördern Begegnungen und Diskussionen … Sie sind Orte der Geselligkeit, der Pause oder des Feierns, aber auch der militanten Organisation und damit der politisch gefärbten Geselligkeit: Anfang des 20. Jahrhunderts trafen sich die Arbeiterbewegungen mangels geeigneter Räumlichkeiten in Cafés!

 

BIO 

Nora Bouazzouni, geboren 1986, lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Videos und Podcasts vor allem mit den Themen Ernährung, Gender und Serien. Ihr letztes Buch, „Violences en cuisine, une omerta à la française“, ist im Mai bei Stock erschienen. Außerdem hat sie drei Essays im Nouriturfu-Verlag veröffentlicht: „Mangez les riches – La lutte des classes passe par l’assiette“ (2023), „Steaksisme – En finir avec le mythe de la vege et du viandard“ (2021) und „Faiminisme – Quand le sexisme passe à table“ (2017).

Lauren Malka | Le Gourbi Palace, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Lauren Malka | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Als ich klein war, verliebte ich mich in die Schlingel. Aber was ich an ihnen mochte, war nicht ihre „Schurkenhaftigkeit“. Im Gegenteil, ich wollte sie auf sanfte Weise in flagranti erwischen und malte sie mir mit vor Anstrengung herausgestreckter Zunge akribisch aus.
Genau so habe ich mich in das Gourbi verliebt. Diese Spelunke, in der ich seit vielen Jahren, allein oder in Begleitung, die besten Momente meines Lebens verbringe. Es ist diese Mischung aus Verlassenheit und Sorgfalt. Die Stühle sind schlecht verkeilt, sie zerfallen fast unter unserem Hintern. 
Die Buchhaltung wird mit Bleistift (groß wie ein Kohlestift) in einem unleserlichen Notizbuch geführt. Aber ob die Bar nun leer oder zum Bersten voll ist, Alex wählt mit einer wahnsinnigen Hingabe die Musik aus, entschlossen, wirklich alle zu ergötzen. Und vor allem gibt es da diese Schiefertafel, die ich lächelnd betrachte, während Alain das Foto schießt, ungeduldig ihm zu sagen, was mich zum Lachen bringt (ich muss es ihm „in meinem Kopf“ sagen, hat er gemeint): Diese Tafel ist ein Juwel. Sie ist mit den einstudierten Rundungen einer Grundschullehrerin beschrieben.
Alex, der übergroße Sportklamotten trägt, der keinen Arzt aufsucht, wenn er sich den Fuß bricht, wird äußerst pedantisch, wenn er „hausgemachte Pommes“ auf die beiden Tafeln schreibt, die in seiner Bar hängen. Von Zeit zu Zeit, sagen wir einmal alle drei Monate, schafft er es, die Karte eines Chefs zu kreieren, auf der Pastinakencreme-Suppe, Seelachstartar oder Acras angeschlagen sind, alles von ihm selbst liebevoll zubereitet. Und während ich diese Tafel betrachte, hebe ich es mit für später auf, Alain zu fragen, warum sein Blog „Entropie“ heißt. Zeigt diese Tafel nicht auf das Schönste genau die „Negentropie“? Der Kampfbegriff gegen das Chaos und der spannungsgeladenen, auf das Leben gerichteten Dynamik? Alain weist mich darauf hin, dass ich die Stirn runzle. Ich muss wieder an die Lausbuben meiner Kindheit denken.  

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Lauren Malka: Die Literatur (und Gebäck) haben mir zum Beispiel ermöglicht, mit meiner Großmutter mütterlicherseits (die ich vergötterte) bis in die letzten Tagen ihres Lebens hinein zu diskutieren. Sogar, als sie den Verstand verlor und ich die Einzige war, die mit ihr kommunizieren konnte. Mein Zaubertrick war einfach: ein Roman, den sie auswendig kannte, aus dem ich ihr die ersten Zeilen vorlas, und ein mit Schokolade gefüllter Windbeutel. Von da an war meine Großmutter bei mir!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LM: Ich bin sehr wählerisch, was Cafés angeht. Normalerweise mag ich nur ein einziges während eines langen Zeitraums von sieben bis acht Jahren. Der Moment in der Woche, den ich am liebsten mag, ist der Freitag, wenn ich gerade auf die Person warte, mit der ich mein erstes Glas Wein trinken werde. Ich komme eine Stunde oder zwei Stunden vorher, um weiterzuarbeiten, aber auf eine mehr entspannte Art und Weise. Es ist, als wäre ich zu Hause geblieben und würde mich dehnen, indem ich meine Füße bis zu meinem Lieblings-Café hin ausstrecke. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
LM: Überall, wo ich eine Wärmflasche, ein Notizbuch habe, und wo ich mich zurückziehen kann, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden.

 

BIO

Lauren Malka, geboren 1983 in Paris, ist Autorin von Büchern, die wie Slow Food langsam „gekocht“ werden, das letzte Buch mit dem Titel „Mangeuses. Histoire de celles qui dévorent, savourent ou se privent à l’excès“ (bei Pérégrines). Geschrieben und mit realisiert hat sie auch den Dokumentarfilm „La France aux fourneaux“ (90 Minuten Archivmaterial, präsentiert von François Morel für France 5), eine Reihe von Erzählungen „Le lexique du dyslexique“ für Canal+, und sie hat drei Literatur-Podcasts ins Leben gerufen (für die Bibliothèque du Centre Pompidou, für Livres Hebdo und für l’école Les Mots).

Fanny Saintenoy | Les Pères Populaires, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Fanny Saintenoy | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Das Café Les pères populaires oder auch Les pères pop oder das PP, wie man hier im Viertel sagt, ist ein Zufluchtsort, eine Art Zweitwohnung, es ist ein Ort für Treffen und ein Schreibraum … Das « Les pères pop » trägt seinen Namen auf jeden Fall zu Recht, es ist ein geschützter und schlichter Ort.

Die Deko ist aus Ramsch und Trödel: alte, durchgesessene Sofas, Schulstühle, kleine rote Fliesen, ein Transistorradio und Bücher auf einem wackeligen Regal, eine Toilette mit tausend Graffitis. Leute arbeiten dort stundenlang, während man nur einen einzigen Kaffee trinkt, der früher nur einen Euro kostete (inzwischen 1,20). Auf der Terrasse ist Selbstbedienung und an Sommerabenden quillt der Bürgersteig an der Ecke der Straßen Buzenval und Grands Champs geradezu über.

Das PP ist tagsüber immer gut besucht, in der Woche und an den Wochenenden: Mütter, die gerade aus der Schule kommen, solche, die sich verlaufen haben, Junge und Alte, die die gleichen Lieder mitsingen, wenn sie über die Anlage laufen. Es gibt feste Gruppen, die zugleich offen sind, und man kann sich von einer zur anderen bewegen. Es ist der Treffpunkt für die lockeren Leute aus dem Viertel, bei Fußballspielen, Wahlen und all den Veranstaltungen, die uns zusammenführen. Das PP würde es sicher nicht unbedingt mögen, wenn man das so sagt, aber es ist zu einer Art Institution geworden.

Ich habe oft in diesem Café geschrieben und werde auch weiterhin hier schreiben, vor allem, wenn es mir zu Hause nicht gelingt; dann weiß ich, in diesem Raum, der manchmal laut und geruchsintensiv ist, kann ich neu beginnen. Dieser Ort ist vor allem der Ort der ersten Seite für ein neues Buch, eben das, was uns Autoren besonders viel Angst macht. Es ist das einzige Café in Paris, in dem ich jemals diese Notiz im Fenster gesehen habe: „Dieser Film oder jenes Buch wurde zum Teil hier geschrieben“.

Das Les Pères pop hat eine Seele, eine besondere Identität; ohne das PP wären wir in unserem Zuhause verloren.

 


Interview mit der Autorin

Kann Literatur die Welt noch retten? / Warum noch schreiben und lesen?
Fanny Saintenoy: Die Literatur wird, ebenso wie die Schönheit, die Welt nicht retten können. Angesichts der Übermacht der menschlichen Dummheit bedarf es viel mehr, und die Literatur allein wird kaum genügen, um die Welt zu retten. Dennoch kann die Literatur, ebenso wie die Musik oder die Malerei, bestimmte Orte oder auch Menschen, uns sehr helfen: sie kann nämlich diejenigen retten, die die Lust und das Bedürfnis haben, Schönheit zu erfahren und uns für einen Moment aus dieser Welt herausholen.
Das ist der Grund, warum wir lesen und immer noch schreiben. Wir lesen, um zu träumen, zu lernen, zu bewundern, zu staunen, zu lachen oder zu weinen, während wir uns in einer Blase befinden, die uns gleichzeitig die Welt besser verstehen lässt. Und ich denke, dass wir mit einer Art diffusen und verrückten Hoffnung schreiben, um an diesem Prozess teilzuhaben, dass wir einen Moment der Flucht und der Verbindung anbieten, der allein uns Autoren eigen ist.

Wo fühlst du dich zu Hause ?
FS: Ich habe eine ziemlich seltsame Beziehung zu dem Gefühl, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Wenn mir ein Ort auf Anhieb gefällt, manchmal sogar sehr gefällt, fühle ich mich dort sofort zu Hause. Ich fühle mich mit diesem Ort verbunden und denke manchmal (irrtümlicherweise, zumindest kommt es mir manchmal so vor), dass ich diesen Ort viel besser verstehe als die Menschen, die dort leben. Ich fühle mich zu Hause, sobald ich von einem Ort „gefangen“ werde. Das kann ein Land sein, wie Indien oder eine Stadt, wie Granada, ein Haus (in dem ich glaube, zehn Jahre lang gelebt zu haben), ein paar Berge oder selbst ein See.

 

BIO

Fanny Saintenoy begann erst spät mit der Literatur. Sie war Lehrerin für Französisch als Fremdsprache, Assistentin der Geschäftsleitung, in der Politik und in der Kultur tätig. Ginge es nach ihr, müsste die Arbeitswelt so organisiert sein, dass Raum für das Schreiben und Reisen bleibt, um Leser und andere Autoren zu treffen.
Seit 2011 hat sie vier Romane veröffentlicht, darunter ein Roman mit drei anderen befreundeten Autoren sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem SGDL-Preis ausgezeichnet wurde. Sie schreibt ebenso Gedichte, vornehmlich in Zusammenarbeit mit Fotografen.
Bibliographie:
Juste avant, 2011, éditions Flammarion, ins Hebräische übersetzt bei Keter Books
Qu4tre, 2013, éditions Fayard, mit Sébastien Marnier, Caroline Lunoir und Anne-Sophie Stefanini
Les Notes de la mousson, 2015, éditions Versilio
Jai dû vous croiser dans Paris, 2019, Parole éditions, Prix SGDL du recueil de nouvelles 2020
Les clés du couloir, 2023, éditions Arlea

Marcelle Ratafia | Le Buisson Ardent, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Marcelle Ratafia | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Bücher schreiben? Ich? Darauf hätte ich ja nie gewettet. Mein Arbeitsleben bestand aus Abenteuern, aus Zufällen, die mich von den Zeichenateliers in die Straßen des Montmartre, von einem Restaurant in der Avenue Georges V bis in den Lehrberuf brachten … Als ich, völlig unerwartet, dabei war, meine 30 Geburtstagskerzen auszublasen, kam die Buchbranche wie ein Schlag über mich. Wie hätte ich dieses ABC des Argot, mein Hätschelkind der Gossensprache schreiben können, wenn es nicht die Bistros gegeben hätte? Es ist im Mouffetard, wo ich, noch ganz absorbiert vom Schreiben ausgedachter Slang-Zitate, trödelte, um einen weiteren Kaffee zu bestellen. Es ist an der Theke des Verre à Pied, als ich an einem regnerischen Tag, an dem mein dunkler Zweiteiler sogar den Champion der Freude dazu gebracht hätte, sich zu erhängen, meinen Caoua* soff, während ich ohne eine Miene zu verziehen den witzigen Ausfällen der Stammkunden zuhörte, die so richtig in Schwung waren. Es ist unter den goldenen Lichtern des Louis-Philippe, im Schatten der ehrwürdigen Treppe, wo ich meinen Café crème auf das Wohl meiner ersten Verträge schlürfte. Und schließlich ist es im Schutz der Fresken aus dem Jahr 1900 meines geliebten Buisson Ardent, wo ich das Erscheinen dieses Buches feierte und anderer Bücher, die ich im Schatten der Ca-Feen weiterschreibe. Dort ist es, wo Alain, genau so eine Quasselstrippe wie ich, dieses Porträt von mir geschossen hat, während wir, ohne uns zu kennen, Paris, alte Filme, meine geliebten Bistros und die Kinos im Quartier Latin (ein weiterer strategischer Rückzugsort) durchhechelten. Mit seinem Blick eines Knirpses und seiner leidenschaftlichen Redseligkeit, ließ mich der listige Fotograf vergessen, dass er ja jenen nachdenklichen Ausdruck aufstöbern wollte. Zweifellos das typische Gesicht meiner anhaltenden Aufenthalte in meinem Wahlcafé, wo die Zeit wie Kaffee aus dem Perkolator fließt. 

*Caoua, aus dem Arab. „qahwa“ – Kaffee, etwa mit einem „kleinen Schwarzen“ vergleichbar

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Marcelle Ratafia: Auch wenn die Literatur leider nicht viel für den Weltfrieden tun kann, sie wird immer die Aufgabe haben, einen wegzutragen, unbedingt!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Ein Schlupfwinkel, ein Obdach, ein Lebensraum, ein Ort, der mich auf eine Weise schützt, dass ich meinerseits nicht wünsche, ihn entstellt zu sehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: An der Theke: das ist eine Pariser Eigenart, der Kaffee ist nicht teuer, man beobachtet die Bedienungen, die sich dort tummeln, die Leute, die vorbeigehen, während sie den frisch gemahlenen Kaffee riechen.

 

BIO

Marcelle Ratafia ist mit ihrer Leidenschaft für genießbare Etymologien Autorin, Journalistin und kulinarische Kritikerin.
Unter ihrem aus einem Lied der Négresses vertes entnommenen Pseudonym hat sie Les ABC de l’argot, du foot et de la mode geschrieben, bei Le Robert sind 150 drôles d’expressions de la cuisine und Parlons vin, parlons bien erschienen, für das sie 2023 den Preis Prix Curnonsky 2023 du vin erhielt. In der Branche nennt man sie La Bectance (die Fressalien/ evtl. die Futternde, Anm. der Übers.), also ist es besser, sie zum Abendessen im Porträt zu haben!

Alexandra Badea | Brasserie Au Comptoir, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandra Badea | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich schreibe gerne in Cafés. Textschnipsel, Gedankenschnipsel. In die Notiz-Funktion meines Smartphones oder in die kleinen Hefte, die sich in meine Taschen verirren. Ich stelle meinen Computer nicht mehr auf die Café-Tische, dieses Terrain bewahre ich mir allein für das Umherschweifen und das Konstruieren zukünftiger Projekte auf. Die letzten Notizen, die ich in diesem Café geschrieben habe, sind hier: 
„Die Frage, die sich heute stellt, ist einfach. Was tun? Was können wir tun, wir, als Bürgerinnen und Bürger im alltäglichen Leben, um durch unsere Taten und Worte ein anderes Narrativ zu schreiben? Wenn wir überhaupt kein Vertrauen mehr in die politischen Vertreter haben, die wir kennen, die uns verraten haben, die die Situation eskalieren ließen, damit es zu diesem Aufstieg der extremen Rechten kommt, was bleibt uns da noch zu tun? Außer unserer Stimmabgabe? Reicht das in einem solchen Kontext noch? Es gibt gewichtige Stimmen unter den Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten, die eine andere Weltsicht anbieten, die Denkweisen, Debatten und eine Dialektik entwickeln, aber diese Sprache wird nicht genug gewürdigt, der faschistische Diskurs hat mehr Resonanzraum, mehr mediale Oberfläche. Mehr denn je müssen wir das Wort ergreifen und uns Gehör verschaffen.
Noch können wir miteinander reden, auf diejenigen zugehen, die nicht wie wir denken, ihnen zuhören, um diese manipulativen Diskurse zu demontieren, diejenigen überzeugen, die zögern, ohne sich ihnen gegenüber als Belehrende zu positionieren. Wir dürfen nicht darauf verzichten, Gedanken zu erschaffen, auch wenn wir Gegenwind haben. Wir dürfen nicht aufgeben. Nicht jetzt. Vor allem, nicht jetzt.“

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Alexandra Badea: Eine andere Vorstellungswelt schaffen, Klischees und Gemeinplätze umkehren, Gedankengerüste bauen, Emotionen erzeugen, heilen.

Was bedeuten Cafés für dich?
AB: Es sind Orte, wo ich in meinem Kopf auf Reisen gehe, eine Pause einlege, gedanklich umherziehe, über das Leben Unbekannter phantasiere, organisiere, was ich noch zu tun habe.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AB: Überall, wo ich schreiben oder mich ins Imaginäre flüchten kann. Auch, oder besonders, in Hotelzimmern, Flughafenhallen, Zügen, Schiffen, Parks, an Stränden, auf Waldwegen.

 

BIO

Alexandra Badea, in Rumänien geboren, ist Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Filmemacherin. Ihre Stücke werden bei L’Arche Éditeur veröffentlicht und in Frankreich von ihr selbst, aber auch von anderen Regisseuren inszeniert und in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist außerdem Autorin zweier Romane – Zone d’amour prioritaire und Tu marches au bord du monde. 2013 erhält sie den Grand Prix de Littérature dramatique für ihr Stück Pulvérisés. Und 2023 den Prix du Théâtre de l’Académie française für ihr Gesamtwerk. Sie ist Chevalière de l’ordre des Arts et des Lettres (Ritterin des Ordens der Künste und der Literatur)

Natacha Henry | Les Bancs Publics, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Natacha Henry | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach  

 

Kühn stellt die Rue de Nantes eine Verbindung zwischen der großen Avenue de Flandre und dem freundlichen Kanal de L’Ourcq her. Man ist im bescheidenen 19. Arrondissement von Paris, mit seinen Hochhäusern, seinen An- und Verkaufsläden für recycelte Telefone, dem Fastfood Chicken’s King mit seinem intriganten Apostroph. Am Ufer des Kanals sitzt Les Bancs publics, das Café-Restaurant des Viertels. Jahrelang konnte man nicht in sein Inneres hineinsehen. Eines schönen Morgens begannen sie mit ehrgeizigen Renovierungsarbeiten, bauten eine riesige Glasfront ein. Boboïsation*  vielleicht. Vor hundert Jahren beförderten Arbeitskähne Kohle und Tonnen von Ziegelsteinen über denselben Wasserarm. Man hörte die Schlachthäuser wüten. Die Männer bogen sich unter dem Gewicht der Kadaver, die Frauen verdarben sich die Augen beim Aussortieren der Schweineborsten, aus denen Haarbürsten gemacht wurden. Heutzutage führt man hier lebendiges Straßentheater auf und Alternativ-Treffpunkte  sind zur „Petite Ceinture“** hin geöffnet. Es gibt Punsch in Einmachgläsern, Bio-Viognier, ein Menü auf der Kreidetafel. Alain Barbero und ich besetzten den Platz über Stunden. Wir teilten uns einen Café crème und einen Cappuccino, sprachen über Bildbände und europäische Hauptstädte, als wir feststellten, dass Homeoffice nicht vom Arbeiten abhält – die anderen Gäste hatten sich nach und nach in Luft aufgelöst. Auf dem goldenen Wasser des Kanals segelte ein weißer Schwan in Richtung der Place Stalingrad. 

* Bem.: etwa wie „Gentrifizierung“
** Petite Ceinture: alte Bahnlinie, die die Stadt im 19. Jh umrundete

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Natacha Henry: In der Jugendliteratur, in der ich meine letzten Bücher veröffentlicht habe, kann man viel tun. Ich schreibe über Figuren, die alles gegeben haben, junge Menschen, deren Ambitionen Realität werden. Marie und Bronia (über die Jugend der Marie Curie), Rosa Bonheur l’audacieuse* … Vorbilder! Ein Schüler sagte mir kürzlich: „Ich habe nie ein Buch gelesen, bevor die Lehrerin uns zwang, Ihres zu lesen, und ich habe es in einer Nacht beendet.“ Das ist großartig.

*Beide bei Albin Michel Jeunesse

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
NH: Das Café, das ist Freiheit. Das kommt noch aus der Gymnasialzeit, als wir uns nach dem Unterricht ins Café des Arts stahlen. Man nahm einen Entkoffeinierten, das billigste Zeug, und dieses Wort „Entkoffeinierter“ klang erwachsen. Wir saßen bei der Jukebox, legten Je ne t’écrirai plus (Ich werde dir nicht mehr schreiben, Anm.) von Claude Barzotti auf. Die Jungs spielten Flipper. Meine Freundin verkündete mit ernster Miene: „Ich bin sicher, er wird ihr trotzdem wieder schreiben.“ In dem Lied gibt es diesen schrecklichen Satz „la tempête a cessé, j’ai fini de t’aimer“  – Der Sturm hat aufgehört, ich habe aufgehört (hier: Ich bin fertig damit, Anm.), dich zu lieben. Das heißt dann, dachte ich mit 15 Jahren, dass man damit fertig sein kann, jemanden zu lieben?   

Wo fühlst du dich zu Hause?
NH: Zu Hause, das sind die Orte, zu denen ich eine langfristige Beziehung habe: der Gare du Nord, der Terminal 2D in Roissy, das Bassin de la Vilette, Southbank in London, eine Bar in Florenz, ein Café in Spanien, irgendeine Bibliothek, die meisten Theater, Buchhandlungen, Wälder und Schwimmbäder.

 

Bio

Natacha Henry hat ziemlich früh verstanden, dass man etwas Nützliches tun sollte, um sich Beständigkeit zu verschaffen. Diplomiert an der Paris IV Sorbonne und der London School of Economics, schrieb sie 12 Bücher, Essays, Biographien und Jugendromane. Sie preisen die Vorzüge des Optimismus´ und der Solidarität. Gleichzeitig ist sie internationale Beraterin in sexistischen Fragen beim Europarat. Sie hat ihren Platz in der kosmopolitischen, feministischen und aufgeklärten Welt gefunden.
natachahenry.com

Matthieu Garrigou-Lagrange | L’Estampe, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Matthieu Garrigou-Lagrange Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich hatte einen kleinen Text über das Café l‘Estampe verfasst. Ich hatte ihn in den Tiefen eines Sofas geschrieben. Es war ein angenehmer Moment, denn ich nahm mir alle Zeit, die notwendig war, um die Worte zu wählen, die diesen Ort, den ich gern mag, beschreiben. Ich unterhielt mich mit mir selbst, das heißt auf eine eher dekonstruierte Art und Weise. Ich erzählte mir von dem sehr großen Schaufenster, das eine Membran zwischen der Straße und dem Inneren des Cafés ist. Dieser Ort, von seiner großen Seitenscheibe aus gesehen, lässt an ein Aquarium denken, denn das Innere ist blau-grün gestrichen, die Farbe des Wassers und der Algen. Wenn ich daran vorbeigehe, kann ich es nicht vermeiden, zu beobachten, was die Leute dort drin machen, als wären sie Fische.
Ich träumte auch so vor mich hin, über den Park der Buttes-Chaumont, der sich ganz in das Dekor einfügt; er ist der große Nachbar des l‘Estampe, ein vollständiger Bestandteil. 
Aber ich habe diesen kleinen Text verloren, unmöglich ihn wiederzufinden. Kein Wunder, meiner Meinung nach. Ideen dieser Art verschwinden, sie sind zu leicht, um an ihrem Platz zu bleiben. Das ist es, was in Cafés passiert, das Auftauchen und Verschwinden von Ideen, von denen die meisten davonfliegen, aber dennoch etwas übrig bleibt.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Matthieu Garrigou-Lagrange: Literatur ermöglicht es, sich in andere hineinzuversetzen, vom Inneren heraus Figuren zu verfolgen und dadurch immer wieder die Erfahrung zu machen, dass andere nicht so denken wie wir. Jeder lebt in einem Universum, das etwas anders ist, als das seines Nachbarn. Sich das immer wieder vor Augen zu führen, bringt uns einander näher.

Wie wichtig sind Cafés für dich?
MGL: Cafés gehören für mich zu den Hochburgen der Zivilisation. Sie sind der Ort, wo man die wichtigsten Dinge tut: diskutieren, sich annähern, nachdenken. Sie sind die Plätze, wo sich selbst die Einzelgänger zusammenfinden.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MGL: Überall, wo der Horizont offen ist. Das kann ein Appartement mit großen Fenstern sein, die Café-Terrasse mit Aussicht, ein Ufer an der Küste Lissabons. Aber es kann auch ein Wald sein, wo man ihn zwar nicht sieht, die Präsenz des Horizonts aber überall spüren kann.

 

BIO

Matthieu Garrigou-Lagrange ist Autor, Produzent und Journalist, er lebt in Paris und Lissabon. Er produziert und moderiert „Salle des archives“ für France Culture. Davor präsentierte er zahlreiche Sendungen: Une vie, une œuvre, La Compagnie des auteurs/ des œuvres, Sans oser le demander, Géographie à la carte. Zuletzt erschienener Roman: Le Brutaliste (L‘Olivier)

Léa Wiazemsky | Café Fleurus, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Léa Wiazemsky | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Im Fleurus gibt es diese Geräuschkulisse um uns herum, wie sie in allen Bistros üblich ist, und die mir fast so lieblich vorkommt wie Vogelgezwitscher, so sehr hat sie mir eine Geschichte zu erzählen. 
Das Zischen der Kaffeemaschine, das Klappern der Gläser auf der Theke, das Klirren des kleinen Metalllöffels in der Kaffeetasse, den eine zerstreute Hand darin herumdreht, die geflüsterten oder etwas zu laut geführten Gespräche der anderen Gäste, die Geräusche von der Strasse her mit dem Lachen von Kindern, die aus der Schule kommen. Ich höre gerne hin, im Café, schaue mich gerne um. Denke mir gerne Geschichten aus, nähere mich dem Leben der Leute an, ohne dass sie es merken. Denn ist ein Bistro nicht an sich eine ganze Welt?
Auf diesem Foto schaue ich auf die Strasse hinaus, beobachte, was da passiert, was sich abspielt. Ich versuche, das Objektiv zu vergessen. Ich mag es nicht, fotografiert zu werden, mich zu zeigen. Allmählich fliegen meine Gedanken weg, ich entspanne mich. Ich denke an all die Cafés, die zu meinem Leben gehört haben. Ich habe oft das Gefühl, sie seien ein zweites Zuhause, ein Versteck. Ohne sie wäre das Leben ziemlich blass. Ich verdanke ihnen viel, den Bistros.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Léa Wiazemsky: Für mich nimmt die Literatur einen zentralen Platz ein. Ich schwimme darin seit meiner Geburt, aufgrund meiner Familiengeschichte. Und doch habe ich lange gebraucht, bis ich mich ihr zu nähern wagte. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr war es mir eine Qual, ein Buch aufzuschlagen. Ich war Legasthenikerin und die Letzte meiner Klasse. Dann kam, zur grössten Freude meiner Eltern, ein Aha-Erlebnis. Ein Buch in der Hand zu halten, bereitet mir heute eine unvergleichliche Freude. 

 

BIO

Mein erster Beruf, bevor ich Schriftstellerin wurde, ist jener der Schauspielerin. Ich übe ihn immer noch mit Freude aus. Immer diese Beziehung zu den Wörtern.

Isabelle Germain | La Coupole, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Isabelle Germain | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In der Mitte eines Arbeitstages eine Pause im La Coupole. Eine Pause, um sich in Pose zu werfen oder auch nicht? In die Ferne schauen, ins Objektiv blicken, lächeln, eine ernste Miene aufsetzen, entspannt wirken, den sehr diskreten Anweisungen von Alain folgen oder nicht folgen? 
Ich kann mein Bild nicht von dem trennen, das mit meinem Engagement als Journalistin und Autorin verbunden ist: der Medienlandschaft einen feministischen Blick auf die Aktualität aufzuprägen (in LesNouvellesNews.fr). Den Blick ändern, den die Medien auf die Feministinnen haben. Feministinnen haben nun mal  schlechte Presse. „Ich bin keine Feministin, aber …“, sagen immer noch zu viele Menschen – und demonstrieren das Gegenteil im Satz, der darauf folgt. Die französischen Medien haben den Feminismus zu etwas Schändlichem gemacht. Sehr lange Zeit haben sie Feministinnen nur spärlich gezeigt und sie als hysterisch dargestellt. Ich erinnere mich an ein langes Video-Interview für einen nationalen Fernsehsender Anfang der 2000er Jahre, nach einer Untersuchung und einem Buch über die geringe Sichtbarkeit von Frauen in den Medien. Der Journalist versuchte mich auf die Palme zu bringen. Ohne Erfolg. Ich antwortete ruhig, mit Zahlen und Fakten … Bis zu dem Punkt, an dem er schließlich sagte: „Aber regen Sie sich auf!“. In seiner Reportage wurde nur eine ganz kurze Sequenz dieses Interviews festgehalten. Ich bin nie als „gute Kundin“ betrachtet worden, von diesen Medien, die Feministinnen nur für ein Spektakel heranziehen, in dem sie als Punchingball dienen. Ein mise en abyme der Unsichtbarkeit des Feminismus und derer, die sich zu ihm bekennen. Lächeln, wütend sein, ein entspanntes Gesicht aufsetzen, nachdenken? Wie kann man auf einem Foto sagen, dass der Feminismus ein politischer Kampf ist? 

 

Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Isabelle Germain: Einen anderen Blickwinkel bieten, die Sichtweise ändern, neue Fragen aufwerfen, falsche Evidenzen  einreißen. Immer einen Schritt zur Seite machen, nachdem man geschrieben hat. Und nochmal anfangen … Oder auch nicht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
IG: Sie sind vor allem Orte der Begegnung. Ob berufliche oder freundschaftliche Treffen, sie symbolisieren die Öffnung gegenüber anderen, die Versprechen angenehmer Momente oder schöner Projekte. Ich mag die geschichtsträchtigen Pariser Cafés. Ich sehe gerne die Touristen in Entzücken geraten. Sie erinnern mich an das Glück, das ich habe, in Paris zu leben. 

Wo fühlst du dich zu Hause? 
IG: Überall, wo ich mich mit meinem wertvollen kleinen Computer niederlassen kann. Ein Zug, ein Hotel, eine Sofaecke, unter einem Baum, im Schatten eines Sonnenschirms. Ich fühle mich in diesem Gerät zu Hause, das mein Berufsleben und einen Teil meines Privatlebens enthält, und das mich mit dem globalen Dorf verbindet.

 

BIO

Isabelle Germain ist Journalistin und Autorin. Nach einer über 25jährigen Laufbahn in den Bereichen Wirtschaftspresse und politische und allgemeine Information, gründete sie die Nachrichten-PlattformLesNouvellesNews.fr., le regard féministe sur l’actualité“ (der feministische Blick auf die Aktualität). Sie war Vorsitzende des Journalistinnen-Verbandes (2001-2006) und Mitglied des Rates für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2013-2016).
Sie schrieb: Si elles avaient le pouvoir… Larousse Collection (2009), 18 ans Respect les filles ! mit Isabelle Fougère und Natacha Henry, la documentation française (2009), Le Dictionnaire iconoclaste du féminin mit Annie Batlle und Jeanne Tardieu, Bourin Editeur (Februar 2010), Journalisme de combat pour l’égalité des sexes. La plume dans la plaie du sexisme, LNN édition (2021).