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Jürgen Heimlich | Konditorei Oberlaa am Zentralfriedhof, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Jürgen Heimlich

 

15. November 2024
Vor 14 Tagen wurde der Zentralfriedhof 150 Jahre alt. Und heute sitze ich mit Alain im Friedhofscafé. Er war bereits vor mir da. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Einige Minuten tauschen wir uns ungezwungen aus. Alain erzählt mir von der Entstehungsgeschichte des Café Entropy. Er nippt an einer Tasse heißer Schokolade und ich an einer Schale grünem Tee. Dann zückt er seine Leica-Kamera und nimmt mich ins Visier. Er fotografiert mich in den Raum hinein. Ich neige den Kopf nach rechts und schaue aus dem Fenster. Ich sehe einen winzigen Ausschnitt des Zentralfriedhofs. Den Beginn des Hauptweges, der vom Eingang des 2. Tores zur Friedhofskirche und darüber hinaus führt. Und einen Teil der Outdoor-Galerie, die Tierfotos präsentiert. Im Außenbereich des Cafés sitzt heute niemand. Dafür ist es zu kalt. Im Frühling und im Sommer sitze ich dort gerne. Ich treffe mich gerne mit Menschen, die Friedhöfe lieben. Und dann erzählen wir von unseren Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Friedhöfe. Alain ersucht mich, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Er betätigt viele Male den Auslöser. Ich schaue auf die leicht befleckte Wand, fokussiere das struppige Haar von Alain, denke, wie von ihm angeregt, an ein Projekt, das vor mir liegt. Wenn er Gedanken lesen könnte, wüsste er, dass es um den Tod gehen soll. Alain bringt mich aber auch zum Lachen. Das ist wie Magie. Es passiert wie von selbst. Wir unterhalten uns mit der Kellnerin.  Große und kleinere Menschen setzen sich an den Nebentisch. Eine kleinere Frau lächelt mir zu. Schließlich könnten sich die Wege von Alain und mir schon trennen. Doch wir gehen dann noch zur Straßenbahn, fahren ein paar Stationen gemeinsam und verabschieden uns, bevor Alain aussteigt. Eine Begegnung am Zentralfriedhof, die mir in Erinnerung bleiben wird. 

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Jürgen Heimlich: Literatur kann bezaubern, verstören, Erinnerungen hervorrufen, Kontakt zu fremden und bekannten Welten schaffen, die Welt auf den Kopf und richtig stellen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JH: Cafés sind Orte der Inspiration und des Dialogs. Cafés laden mich ein, immer wieder neu entdeckt zu werden. Cafés haben eine Geschichte, die alle Gäste und somit auch ich mitschreiben. Cafés lassen mich durchatmen und Kräfte bündeln. Cafés lassen mich nie kalt. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
JH: Dort, wo ich mit Menschen und der Natur verbunden bin. Dort, wo ich mit Tieren und Menschen kommuniziere. Dort, wo ich außer mir bin. Dort, wo mich Kunst in ihren Bann zieht. Dort, wo ich mich selbst vergesse. Dort, wo ich Wundern begegne, die sich als Zufall tarnen.

 

BIO

Jürgen Heimlich, geboren 1971 in Wien. Verlagsausbildung, die das Interesse für Literatur gestärkt hat. Autor, Schriftsteller, Redakteur und passionierter Friedhofsgänger. Seit 2016 engagiert er sich für die Einfache Sprache als literarisches Genre und seitdem lässt ihn auch das Thema Widerstand gegen das NS-Regime nicht los. 
Jüngste Veröffentlichungen: Einer und Keiner von 600 Hingerichteten, Mitherausgeber, Innsalz, 2021, Blumfeld und der Tod, zwei Erzählungen mit Comic-Skizzen von Thomas Fatzinek, Buchschmiede, 2024 

Günter Vallaster | Gasthaus Automat Welt, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Günter Vallaster

 

Der Prager Palast Welt (Palác Svět), in Stahlbeton gegossene konstruktivistische Geradlinigkeit und Multifunktionalität, ist ein Gebäude wie ein großes H. Darin befanden sich u.a. das Kino Welt und das Selbstbedienungslokal Automat Welt, in dem sich oft ein großes H der Weltliteratur aufhielt: Bohumil Hrabal. 
In Prag seit Jahrzehnten hinter Bretterverschlägen verborgen und dem Verfall preisgegeben, kann man Georg Aichmayr nur dazu gratulieren, das Automat Welt als Reverenz an Hrabal in Wien wieder aufleben zu lassen, womit er eine perfekte Verbindung von Café, Restaurant und Literatur schafft. Hier kann und möchte ich nur ein Platzhalter sein, mit kleinem h mitten im Wort, für viele weitere literaturaffine Gäst*innen. 
Und auch wenn ich mal alleine hingehe: Wenigstens Hrabal ist immer da. Oder in Abwandlung eines Zitats von Bohumil Hrabal aus seiner Kurzgeschichte Automat Welt, das darin gleichsam wie auf Knopfdruck mehrfach geloopt ist:
Und vom Volkertmarkt drangen fröhliche Musik und Stimmgewirr, das in unbändiges Gelächter überging, ins Gasthaus Automat Welt herüber.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Günter Vallaster: Literatur kann helfen, über den Tellerrand zu blicken, alle Tassen im Schrank zu behalten, um am Ende die Löffel sauber poliert abzugeben. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
GV: Thermodynamische Entropie, also behagliche Gemütlichkeit, die sich beim Betreten eines Cafés wie dem Automat Welt sofort ausdehnt sowie informationstheoretische Entropie, also Informationsgehalt aus der Geräuschkulisse und den Gesprächsfetzen isolieren, nach der Formel Wos? x Ha? / Bitte. 

Wo fühlst du dich zuhause?
GV: In einem guten Buch, bei guter Kunst, guter Musik, bei einem guten Essen, einem guten Gespräch. Also bei allem Guten, gerne auch in einem guten Café. 

 

BIO

Günter Vallaster lebt und arbeitet als Autor, Herausgeber, Sprachkursleiter und Schreibpädagoge in Wien. Zuletzt erschien der Beitrag Megaprompts in V#40 – Ach, KI! (Literatur Vorarlberg, 2024).

Erwin & Johanna Uhrmann | Café Stein, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Erwin & Johanna Uhrmann

 

Kann man in Kaffeehäusern ernsthaft an Texten arbeiten? Ausgeschlossen. Sich treffen, plaudern, zu viel schwarzen Kaffee oder Tee trinken, ja. Aber arbeiten? Nein. Maximal eine E-Mail beantworten, ein paar Notizen machen, alibihalber in einem Buch blättern, auf das man sich sowieso nicht konzentrieren kann bei dem Lärm, oder den allzu indiskreten Gesprächen der Nachbarn zuhören.  
Natürlich ist Wien die Stadt der Kaffeehausliteratur. Erstaunlich dabei ist, dass es sich nicht um ein historisches Phänomen des Fin de Siècle oder der Nachkriegszeit handelt. Irgendwo sitzt immer jemand und tippt mit gesenktem Kopf oder schreibt gar mit der Hand. Wer es mag? Bitte!
Das Schönste an Wiener Kaffeehäusern hat aber nichts mit dem Schreiben zu tun, oder vielleicht doch auf eine gewisse Art und Weise. Es ist schlicht und einfach ein Zustand, nämlich jener, der dort scheinbar automatisch eintritt und der dazu führt, dass man auch mitten am Tag dazu neigt, die Zeit auszublenden. Ein Zustand, der einen üblicherweise nach Mitternacht ereilt, den die Wissenschaft „Mind after Midnight“ nennt, und der im besten Fall aus einer gewissen Euphorie über das Schwinden des Alltäglichen oder allzu Rationalen entsteht. Mitten am Tag. Dann ist es einem plötzlich egal, ob man zu spät zu irgendeinem anderen Termin kommt. Es gibt noch so viel zu bereden. Die Gespräche sind plötzlich selbst Literatur. Man kann versumpfen, zwischen 13 und 16 Uhr (und nicht, wie Rainhard Fendrich singt: „Zwischen eins und vier“ – und damit die Zeit vor dem Sonnenaufgang meint). All das geschieht ohne jegliche Berauschung. Es reichen zwei doppelte Espressi, ein Soda Zitron oder ein grüner Tee. Deshalb ist das Innenleben eines Kaffeehauses immer dem Gastgarten vorzuziehen. Es ist, als besteige man ein Raumschiff, das durch die ewige Nacht gleitet. Auf das Café Stein trifft diese Beschreibung voll und ganz zu, hat es doch, anders als viele andere Kaffeehäuser, auch bis weit in die Nacht hinein geöffnet. Am Tisch rechts von der Treppe, in der Ecke, ist die Brücke. Das konnten wir einmal zu sehr später Stunde selbst nachvollziehen. 

 


Kurzinterview mit den AutorInnen

Was kann Literatur? 
Literatur kann so ziemlich alles. Vor allem, wenn sie in großen Mengen auftritt. Ein volles Bücherregal etwa ist eine komplexe Welt. Zwei volle Bücherregale sind schon zwei komplexe Welten. Eine ganze Wohnung voller Bücher, oder gar eine Bibliothek, ist ein riesiges Geflecht von Welten. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich / euch?
Cafés lernt man richtig schätzen, wenn man Orte besucht, an denen es keine gibt. Sitzt man in einem Lokal, in dem gleich nach dem Servieren abkassiert wird, ist schon klar, dass man nach dem Austrinken das Weite suchen soll – und man wird nicht das Gefühl bekommen, dies sei Raum ohne Zwänge. Selbstverständlich muss man in einem Café konsumieren. Doch letztlich vergisst man es auch wieder. Sowie man beim Spazierengehen vergisst, dass jeder Quadratmeter von irgend jemandem beansprucht wird. Man vergisst auch in Kaffeehäusern, dass die Welt aus Besitzverhältnissen besteht und versteht den Raum als Gemeingut. 

Wo fühlst du dich / euch zu Hause?
Zu Hause ist ein Begriff, der sich von einem Punkt aus ständig dehnt. Zu Hause sind wir in unserer Wohnung in Wien, vor den Bildern von Michaela Mück oder Oswald Tschirtner, in einem Haus von Frank Lloyd Wright, in den Gassen von Ribe, auf dem Kohlmarkt in Brno, und häufig auch in Büchern. 

 

BIO

Erwin Uhrmann ist Autor, Herausgeber und Redakteur und lebt in Wien. Von ihm erschienen die Romane „Der lange Nachkrieg“, „Glauber Rocha“, „Ich bin die Zukunft“, „Toko“, „Zeitalter ohne Bedürfnisse“, die Lyrikbände “Nocturnes“ und
 „Abglanz Rakete Nebel“ sowie der Band „K.O.P.F. – Kartografisch Orientierte Passagen Fragmente“, gemeinsam mit Karlheinz Essl. Seit 2016 ist er Herausgeber der Lyrikreihe „Limbus Lyrik“, seit 2021 Literaturredakteur im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“. www.erwinuhrmann.com
Johanna Uhrmann ist Grafikdesignerin, Fotografin und Kunsthistorikerin und lebt in Wien. Sie veröffentlichte unter anderem ein wissenschaftliches Buch über den Wiener Architekten Anton Valentin und gestaltet Kunstkataloge und Kunstbücher für Museen sowie Sachbücher und Zeitschriften. Sie liebt Architektur und reist gerne. www.johannauhrmann.at
Gemeinsam schreiben Johanna und Erwin Uhrmann Reisebücher. 

Ana Marwan | Zum Schwarzen Flamingo, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Ana Marwan

 

Natürlich ist der Name wichtig. Oft riecht die Rose anders, wenn sie schwarzer Flamingo heißt.
Ich vermute, dem echten Flamingo verhilft sein Pinksein sehr zu seiner Beliebtheit bei den Menschen. Denn man ist selten pink. Aber noch seltener ist es, wenn ein Flamingo schwarz ist. Das ist superselten, obwohl Schwarz eine gewöhnliche Tierfarbe ist.
Selten ist es auch, ein cooles Café zu finden, das selten freqentiert wird. Als ich zum ersten Mal im Schwarzen Flamingo war, war es leer. Jetzt ist es buntvoll. Pink, könnte man sagen.
Im Schwarzen Flamingo soll man sich eigentlich nicht abbilden lassen, wenn man ein pinkfarbenes Schaf ist. 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Ana Marwan: Sie überzeugt mich immer wieder, dass die Welt nicht wüst und leer ist, und dass wir alle einen gemeinsamen Kern haben, der einfach nur menschlich ist. Und ein wenig Flamingo.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AM: Cafés flüstern mir ins Ohr: „Alles ist gut“, wenn ich sie betrete. Die Welt bleibt draußen, im Regen oder in der Hitze oder in der Kälte, während wir geborgen sind. Sie kann nur noch durch die Kaffeehauszeitungen zu uns durchdringen. Somit ist sie unwirklich, wie ein aus Papier gefalteter Flamingo. Das einzig Schlimme, das mir passieren kann, ist, dass der Kellner, die Kellnerin meinen Versuch, den Blickkontakt herzustellen, missachtet. Aber auch das muss sein, auch pinke Flamingos scheißen schwarz-weiß.

 Wo fühlst du dich zu Hause?
AM: Eigentlich fühle ich mich schnell wo zu Hause. Ich hinterlasse eine Wölbung im Sitz und ein Haar an der Rückenlehne und markiere somit mein Territorium. Ich liebe Hotels und Cafés — meine Welteroberungen.

 

 

BIO

Ana Marwan, aufgewachsen in Ljubljana, Studium der vergleichenden Literaturwissenschaft ebenda. Seit 2005 wohnhaft in Wien, schreibt auf Slowenisch und Deutsch. Ihr Romandebüt Der Kreis des Weberknechts erschien bei Otto Müller Verlag in 2019. Für den zweiten Roman Zabubljena (Beletrina, 2021; Deutsche Übersetzung: Verpuppt, 2023) erhielt sie in Slowenien den Kritikerpreis Kritiško sito für das beste Buch des Jahres 2021. Ihre Geschichte Wechselkröte wurde 2022 mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet. Seit 2023 Herausgeberin der Zeitschrift Literatur und Kritik.

Petra Ganglbauer | Café Dommayer, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Petra Ganglbauer

 

So laufen die Dinge vorüber,
Vorbei an den Vorstellungen.
Du betrachtest sie angemessen
Im Abtausch der Jahreszeiten.
Was bleibt im Stillen?

(Raum!)

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Petra Ganglbauer: Literatur eröffnet uns Innen- und Außenwelt und schärft das Bewusstsein für eine präzisere Wahrnehmung dessen, was für uns Menschen „Fasslichkeit“ (in Anlehung an Arnold Schönberg) bedeutet.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PG: Cafés sind Orte, die zeitlos sind und Nähe ermöglichen. Eine Nähe, die nicht bedrängt, sondern Spielraum für geistig-seelische Prozesse lässt.

Wo fühlst du dich zuhause?
PG: Zuhause fühle ich mich in der Natur, mit ihr, mit all den anderen Wesen und Wesenheiten.

 

BIO

Petra Ganglbauer: geb.1958 in Graz, lebt in Wien. Autorin, Radiokünstlerin, Schreibpädagogin.
Journalistische Arbeiten. Lyrik-, Prosa-, Essayveröffentlichungen, Hörstücke, Hörspiel. Intermediale Projektkonzeptionen. Wiener Vorlesungen zur Literatur.
War Präsidentin der Grazer Autorinnen Autorenversammlung und des Berufsverbands Österreichischer SchreibpädagogInnen.
Jüngste Veröffentlichungen:
Lauergrenze, Mensch, Gedichte, Limbus, 2023. Aschengeheimnis, Gedichte, Edition Melos, 2023. Du oder Ich. Zu Maria Lassnig. In: Die wahren Bilder sind im Kopf, Hrsg. Edith Ulla Gasser, Braumüller, 2023.
Homepage: ganglbauer.mur.at

 

Barbara Kadletz | Café Kosmos, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Barbara Kadletz

 

Man ist ja immer auf der Suche nach dem perfekten Lokal. Bei mir ging das sogar so weit, dass ich mir – Privileg des Teilzeitautorinnendaseins – meines kurzerhand in einem Roman her-erschrieben habe. Es heißt „Im Ruin“ und ich hoffe, dass ich es niemals finden werde, denn wie betrüblich und öde, wenn meine Suche jemals zu Ende ginge … 
Kaffeehäuser sind Lebensabschnittsbegleiter. Früher war ich gerne in Lokalen, wo der Kaffee wie Medizin schmeckte und die Kellner unfreundlich waren. Dazwischen versteckte ich mich in Dependancen lokaler Bäckereiketten, geborgen im Schutz ihrer anonymen Konformität. 
DasKosmos ist mir zufällig passiert, irgendwann war es auf einmal da. Zwei Mal am Tag bin ich daran vorbeigeradelt. Einmal sehr schnell in der Früh. Und einmal sehr langsam am Abend. Irgendwann bin ich dann einfach abgestiegen und habe einen Zwischenstopp eingelegt. Der dauert jetzt erstmal einen Lebensabschnitt lang an.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Barbara Kadletz: Mich sortieren, beflügeln, euphorisieren, nerven, stressen, lähmen & meine Miete bezahlen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BK: Fluchtmöglichkeit & Rückzugsort, Versteck & Gegenalltag. Ein Leo in allen Lebenslagen.

Wo fühlst du dich zuhause?
BK: Im Kaffeehaus. Unter Wasser. In Erinnerungen. In Texten. In Musik. Auf Tanzflächen. In Filmen. In der Popkultur. In guten Momenten. Im Sommer.

 

BIO

Barbara Kadletz lebt und arbeitet als Buchhändlerin und freie Autorin in Wien. Wenn sie nicht dabei ist, die Bücher anderer zu verkaufen, schreibt sie an eigenen Texten oder spricht über Literatur – als Moderatorin, Rezensentin oder im wöchentlichen Blog »Das Buch zum Wochenende/BZW«. 2. Platz beim FM4-Literaturwettbewerb Wortlaut 2018, Bezirksschreiberin Wien Mariahilf 2021. 
Publikationen: »Im Ruin«, Roman, »Schattenkühle«, Roman, (Edition Atelier, 2024), »Falten im Anthropozän« Schultz & Schirm, 2022, »Eurostar« Kaiser Verlag, 2020 (beides Theaterstücke mit Ursula Knoll). 

Brigitta Höpler | Café Am Heumarkt, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Brigitta Höpler

 

Das Rütteln vor der Stille

Die Kühlvitrine, stromgenährtes Wahrzeichen des Cafés.
Brummende Geräuschkulisse. Das Rütteln vor der Stille.
Manchmal gibt es zu Mittag Eintropfsuppe.
Und Augsburger mit Röstkartoffel.
Kindheitslieblingsessen.
Serviert auf angeschlagenen Marmortischen.
Hier bin ich kurz aus dem Spiel.
Die Risse in den roten Kunstlederbänken sind
mit Gaffa Tape geklebt.
Drei gold gerahmte Spiegel werfen einander Bilder zu.
An den Kleiderständern Vergessenes aller Art.
Eine blasse Tapete, rankende Blätter,
romantische Architekturandeutungen.
Und dazwischen ein kleines, schwarzes Loch.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Brigitta Höpler: Welten weiten.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BH: Orte, die zu meinem Leben gehören, seit ich 15 bin.
Meine Biografie könnte ich entlang von Cafés erzählen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
BH: In Städten, in Wien.
An Flüssen, an der Donau. 
In Worten, in meinen Texten.

 

BIO

Brigitta Höpler (*1966) lebt als Autorin, Kunsthistorikerin, Schreibpädagogin in Wien.
Sie ist Dozentin im BÖS-Berufsverband österreichischer SchreibpädagogInnen. Sie veranstaltet Ausstellungen, Lesungen und unterschiedliche Schreibseminare.
Ihre Projekte, Texte und Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Kunst, dem Schreibraum Stadt sowie mit einer Poetologie der Alltagsbeobachtung. 
www.brigittahoepler.at

Semier Insayif | Café Diglas im Schottenstift, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Semier Insayif

 

… was ist ein ort.  fragt er. was ist ein ort. sie sagt ich sei hier zu hause. in einem gewissen sinne. mitten im zwischen. ich solle an ein zimmer denken. menschenwesen die hier zu verschwinden versuchen. tief in sich gekehrt. blick zum boden.  andere. die sich zu finden versprechen. den boden unter die füßen zu bekommen. augen zur decke. mit einer tasse tee. kaffee. ein glas wasser. heiß. kalt. mitten unter vielen. einander zu finden. zwischenräume zu schaffen. sich zu verabreden. sich wiederzusehen. ein erstes mal. an ein du zu geraten. an ein fremdes. an ein vertrautes. anzustoßen. ins gespräch zu kommen. sich mit einem du aus zu tauschen. oder gar ein. nur für dieses eine mal. und somit für immer. sie meint ich solle einfach an ein zimmer denken. treppen nach oben. dort ist es ruhig. ruhiger. wenn auch nicht still. nur die stimmen von unten werden hochgespült. so als wäre der klang nur ein ton. die rufe nur ein geräusch. so als wäre der atem nur luft. wenn das so wäre. könnte fleisch doch niemals mensch. könnte stoff doch niemals kleidung sein. sage ich. und holz niemals baum. sie sagt ich solle die augen schließen. meine hände auf den tisch legen. und die spuren begreifen. lack. furchen. rillen. risse.  überprüfen. aus welchem material mein körper sei. mir meine kohlenstoffverbindungen zu herzen nehmen. die augen wieder öffnen. denn das bild. sagst du. das bild. das du siehst.  ist ein abbild von einem bild. das es nicht gibt. sieh mich an. sieh über mich hinweg.  ist dein blick eine frage. kann dein blick je einblick verschaffen. je ausblick auf etwas. oder gar durchblick.  ist dein blick. durchdringung oder fläche. erkenntnis rahmen oder entblößung …  

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Semier Insayif: für sich und in sich kann literatur bei nahe alles. berühren. anregen. mut machen. deprimieren. in frage stellen. ahnungen schenken. perspektiven erweitern. intensivieren. zur flucht verhelfen. leben retten. leben schenken. und auch nehmen. und sie kann über alle grenzen hinweg verbindungen herstellen. aber auch spalten. und . völlig unbemerkt liegen gelassen werden. harmlos in einer ecke schlummern. dir plötzlich unerwartet ins auge springen. deine herzkammern fluten.  dich beatmen. erkenntnisse entdecken. ein universum erfinden. identität stiften. dich umarmen. ausspucken. und die welt sehnsüchtig poetisieren …. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SI: fokussierung und zerstreuung. an einem ort vieler orte zu sein. heterotopoesis.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SI: manchmal fühle ich mich zu hause zu hause. manchmal gerade eben dort nicht. also dann dort wo nicht mein zu hause ist.  weit weit weg. immer wieder in meinem schreibraum. oder ortsunabhängig  mit menschen die ich liebe. mit einem menschen. wo ich allein sein kann. in einem buch. in einem satz. in einem gedicht. 

 

BIO

semier insayif lebt als freier schriftsteller, dichter und literaturvermittler in wien. er konzipiert, kuratiert und moderiert literarische veranstaltungen wie z.b. „dicht-fest“ im kunstverein alte schmiede oder “verssprechen“ in der österreichischen gesellschaft für literatur. zahlreiche kunstübergreifende projekte und leitung von schreibworkshops. trainer für kommunikation und interaktionsanalyse, supervisor, systemischer coach, mediator. insayif  ist präsident des bös (berufsverband österreichischer schreibpädagog:innen). zuletzt erschienen: „mondasche“ (klever, 2019), „mondasche“ (die cd, mit der cellistin cecilia sipos, 2019), „ungestillte blicke“ (gedichte, klever, 2022); www.semierinsayif.com

Martina Jakobson | Café Schwarzenberg, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Martina Jakobson

 

Es hat mir die Sprache verschlagen

So wie ein Kind 
das im Spiel über einen Stein stolpert
und dem es im Schmerz 
für einen Augenblick die Sprache verschlägt
so bin ich über dein Denkmal gestolpert
russische Sprache
Wien Schwarzenbergplatz Säulengang
im Zentrum die Figur des Soldaten
Februar 2022 beschließe ich 
über mein aufgeschlagenes Knie streichend
an dir – meiner so vertrauten zweiten Sprache –
stumm vorbeizugehen
viele Jahre hast du mich
gleich einer Mutter ihr gestürztes Kind
mit süßer Torte geködert
deine Schichten aus Größe Macht Gewalt 
sind mir zu bitter
ich schiebe dich zur Seite 
selektiver Mutismus nennt man es
nur dann zu sprechen
an selbstgewählten Orten
und mit wem man will
wieder und wieder rasselst du
inmitten der lauten Menge 
die immergleichen Sprüche
du hast nicht bemerkt 
deine Zeit auf den Plätzen läuft ab
1956 Budapest
Praha
Warszawa
Sofia 
2024 Kyiv – wohin?
die Fontäne vor deinem Abbild höher montiert
eine Wand hinter deinem Rücken installiert
die Steine gelb und blau angesprüht 
ein ermordetes Lächeln hinzugefügt
im Schatten deines Sockels 
wuchern Büsche Gras Felder 
hinkend trat ich in ihre Stille ein
und habe Schätze gefunden
Stöckchen für ein Feuer
kupfergrüne Käfer
Pirole in den Kronen
Muscheln Alter Hafen Marseille
Restaurant “Basso“
wilde Beeren 
Hasensprünge
und stöbernd traf ich 
auf die Lichtung meiner köstlichen Sprache
den Kescher in der Hand
vereinzelt Rehe

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Martina Jakobson: Betrachten und Zweifeln; es ist, als nähme ich eine Taschenlampe in die Hand und der helle Lichtschein der Sprache beleuchtet die Gegenwart und die Vergangenheit.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MJ: Ich habe eine heimliche Leidenschaft, ich beobachte gern Menschen; im Café treffen die verschiedensten Charaktere aufeinander; und die Orte, wo sich die Cafés befinden oder auch nicht mehr befinden, erzählen Geschichten. In Wien gehe ich aber auch gern ins Kaffeehaus, weil die Auswahl an Torten vorzüglich ist. Als ich 2016 nach Wien gezogen bin, habe ich mich durch die verschiedensten Cafés mit Sachertorte durchgekostet. Und hier trifft man Freunde, um zu reden oder zu Lesungen, diese Tradition liebe und kenne ich auch noch aus meiner Heimatstadt Berlin.
Das Café Schwarzenberg suche ich auf, um in die Zeitgeschichte einzutauchen.  Von hier aus, an der Ringstraße, fällt der Blick in Sichtachse bis auf den Schwarzenbergplatz und das sogenannte Wiener „Russendenkmal“, das nach der Einnahme Wiens durch die Sowjetarmee 1945 errichtet wurde. Und selbst das Mobiliar des Cafés, ein großer Spiegel, trug bis in die 1970er Jahre die Spuren, etwa Sprünge und Einschusslöcher, weil sowjetische Offiziere hier feierten. Ein Kellner hat mir gezeigt, wo dieser Spiegel früher angebracht war, und so sitze ich heute in einem anderen Kontext in diesem Teil des Cafés.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MJ: Zu Hause fühle ich mich eigentlich nirgends mehr, zu Hause ist für mich ein Moment, dort, wo ich die Winkel einer Stadt erkundet habe und diese später, gleich einem Hund mit seiner Spürnase wiedererkenne. Ich habe etwa längere Zeit in Marseille gelebt. Als ich am Quai des Belges den Ort des einstigen Restaurants „Basso“ gefunden hatte, das Walter Benjamin in „Haschisch in Marseille“ beschreibt, habe ich die darin beschriebene Atmosphäre anders verstanden. Deshalb beziehe ich mich in meinem Text „Es hat mir die Sprache verschlagen“ unter anderem auch auf diesen Ort.

 

BIO

Martina Jakobson, geboren 1966 in Ost-Berlin, wuchs in Moskau und Berlin zweisprachig in einer Familie mit russischen und ukrainischen Wurzeln auf. Sie ist Autorin, Pädagogin und Literaturübersetzerin aus dem Russischen, Belarussischen und Französischen. Seit 2016 lebt sie in Wien und im Südburgenland (Österreich). Sie ist Mitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer Wien, des Forum Mare Balticum sowie des PEN Berlin.
Ihr Lyrikband „Hier biegen wir ab“ erschien 2022 in der edition lex liszt 12.

Laura Nußbaumer | Café Zehnsiebzig, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Laura Nußbaumer

 

Café 1070

Ob sie den Haselnuss-Latte haben, frage ich, weil er auf der Karte steht.
Nein, aber sie haben ein limitiertes Angebot für Vanille-Zimt-Latte, ob ich das ausprobieren will?
Ja, mit Sojamilch.
Ich trinke das limitierte Angebot ein paar Wochen lang, bis ich einmal um drei Uhr nachmittags auftauche, in der Hoffnung auf den Käse-Toast, aber sie haben jetzt neue Zeiten, und die Küche ist nach eins zu, also trinke ich nur wieder den limitierten Vanille-Zimt-Latte, der nicht auf der Karte steht.
Solange man darüber reden kann, und man kann ja drüber reden.
Ich frage, gibt es diesen Kaffee und man sagt freundlich, nein, und ich frage nach der Steckdose, aber sie wissen nichts davon und wir suchen gemeinsam und sie fragen, ob ich schon in die Karte geschaut habe, oder noch Zeit brauche, und ich schaue in die Karte, und da steht, Kuchen nach Auslage, oder so ähnlich.
Ich beschließe Sachertorte zu bestellen, die steht sogar in der Karte. Meine Freundin aus Graz berät mich, es ist aber keine wirkliche Sachertorte. Solang man darüber reden kann, stört mich das nicht.
Sie haben die Getränkekarte erweitert, aber immer noch trinke ich den Vanille-Zimt-Latte, der nicht ausgeschrieben ist.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Laura Nußbaumer: Ziemlich viel. Literatur kann bewegen, natürlich. Literatur kann Fragen beantworten, Fragen aufwerfen. Ich will nicht vorgreifen, aber Literatur begleitet mich durch den ganzen Tag und hilft mir, mich überall ein bisschen zu Hause zu fühlen. Es kann viel Sicherheit geben, ein Buch oder auch Hörbuch an einem fremden Ort dabei zu haben. Ich lese auch dasselbe Buch mehrmals und ein vertrautes Buch dabeihaben hilft doppelt.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LN: Cafés gehören für mich zum Sozialleben dazu. Ich treffe dort allerlei gut bekannte bis weniger bekannte Menschen für Austausch aller Art. Ich schreibe auch gerne in Cafés und mag den Hintergrundlärm beim Arbeiten, der hilft mir oft mich mehr zu konzentrieren als die Stille in der Wohnung. Ähnlich wie beim weißen Blatt, da hilft eine bekritzelte Seite oft auch mehr.

Wo fühlst du dich zu Hause?
LN: Die Bücher und Hörbücher helfen zwar unterwegs, aber wirklich zu Hause fühle ich mich eigentlich nur zu Hause. Ich schätze aber das Café 1070 sehr, wegen dem freundlichen Umgang und dem Vanille-Zimt-Latte natürlich.

 

BIO

Laura Nußbaumer, geboren 1997 in Bludenz, lebt und studiert seit 2018 in Wien und unterrichtet an einer Wiener Mittelschule. Ist Mitglied bei Literatur Vorarlberg, GAV und hat den Lehrgang „Schreibpädagogik“ beim BÖS abgeschlossen. Unterrichtet Schreibworkshops in Wien und Vorarlberg. Schreibt Prosa, Lyrik, satirische Zeitungsartikel (diezeitungsente.com) und kombiniert schreiben und zeichnen zu Blackout Poetry. Der Debütroman Riesendisteln beißen nicht (Edition fabrik.transit) ist 2023 erschienen.