Véronique Sels | L’Ultime Atome, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Véronique Sels Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich halte mich geographisch gerne in einer anderen Umgebung auf, eine, die nicht die der behördlichen Arrondissements ist, sondern der Bevölkerung. Ich liebe Matongé, das größte afrikanische Geschäfts- und Verbände-Viertel Brüssels, Namensvetter des Ausgehviertels in Kinshasa in der Demokratischen Republik Congo. Ich liebe den Saint Boniface-Platz, einst populär und heute gentrifiziert, erobert von dreißigjährigen Beamten der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die nur zum Essen und Trinken hierher kommen. Ich mag es, Deutsch, Englisch, Spanisch und das Ligala innerhalb desselben Perimeters zu hören. Ich mag die unsichtbaren Grenzen, die physische Inkarnation der Städte, ihre Feste, ihre Schlemmereien, ihre Tänze, ihren Widerstand gegen das Ultimatum (Ultimatum: Anordnung, mit der ein Staat einem anderen Staat im Laufe einer Verhandlung bestimmte Forderungen präsentieren muss). Ich liebe das „letzte Atom“ des Widerstands, das in jedem von uns fortbesteht. 

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Véronique Sels: Zunächst mal ist sie ein Ort. Es ist der einzige bewohnbare Ort, was mich betrifft. Der Ort, wo die Realität sich tief durchdringen lässt, wo wir uns wie die Taucher ins Zentrum des Geschehens und der Existenzen herunterlassen (sowohl während des Lesens als auch während des Schreibens). Ich mache keinen Unterschied zwischen Lesen und Schreiben. Schriftsteller und Leser bewohnen dasselbe grenzenlose Land.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VS: Ich bin nicht für das häusliche Leben gemacht. Ich wusste schon sehr früh, dass ich  nicht für die Mahlzeiten sorgen und einen Haushalt führen wollte. Die Cafés, und vor allem die Brasserien, wo man sowohl trinken als auch essen kann, sind für mich Orte der Freiheit und der Emanzipation. Die Gäste sind frei, sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, wenn sie ein angebranntes oder versalzenes Gericht beanstanden. Ich habe große Achtung vor den Kellnerinnen und Kellnern, die mir diese Momente der Freiheit erlauben. 

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
VS: Die ersten fünf Stunden des Tages schreibe ich. Die folgenden lese ich oder ich laufe, durch die Stadt oder den Wald. Laufen und Schreiben sind ganz eng verbunden. Es ist die perfekte Ehe, die des Erzählens und der Bewegung.

 

BIO

Véronique Sels, 1958 in Brüssel geboren. Herzens-Heimatorte: der Tanz und die Literatur. Absolventin des „Institus de Rythmique Émile Jaques-Dalcroze“, unterrichtete sie Tanz und Rhythmik, übte den Beruf der Werbetexterin aus und veröffentlichte 5 Romane, von denen „La ballerine aux gros seins“ (Die Ballerina mit den großen Brüsten) ins Koreanische übersetzt und für das Sinchon Theater in Séoul adaptiert wurde. Als Gewinnerin des Stipendiums „Sarane Alexandrian“ der Société des Gens de Lettres, schrieb sie auch „Même pas mort !“ (Nicht mal tot!), eine fiktionale Biographie über Stéphane Mandelbaum, ein belgischer neo-expressionistischer Maler, der 1968 ermordet wurde.