Jade Samson-Kermarrec | Nathanja & Heinrich, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Jade Samson-Kermarrec | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack

 

Jule fragt sich schon, wem Nathanja und Heinrich ähnlich sehen. Existieren sier nur? Die Frage streift sie, ohne sie wirklich zu beschäftigen. Seitdem sie hierherkommt, hätte sie einen der Barkeeper fragen können. Um ehrlich zu sein, hat Jule das sicher schon gemacht, einmal, als sie jedoch stockbetrunken war und ihre Erinnerung, im Alkohol versumpfend, abgedankt hatte und bis zur nächsten Verordnung aufhörte neue Informationen abzuspeichern.

Unmöglich, sich zu erinnern, wenn es keine Erinnerungen gibt.

Auf einer Bank sitzend und am Fenster lehnend, spielt Jule nervös mit dem Gummiband ihres Notizheftes, während sie die gekonnten Bewegungen hinter der Theke beobachtet.

Jule trank und trinkt nicht mehr.

Seither wird sie, ohne Vorwarnung, regelmäßig von der Schwere und den Folgen ihrer Abhängigkeit heimgesucht. Dennoch kann sie nichts dagegen tun, dass sie Lust auf den Cocktail hat, den die Bardame gerade zubereitet. Jule macht die Augen zu. Sie ruft in ihrer sensorischen Erinnerung den Geschmack von Gin Basil auf, das Basilikumblatt, das ihre Nase kitzelt, den klaren und säuerlichen Geruch des Gin und der Zitrone, die scharfe Kälte des Eiswürfels, der auf der Mitte des Whiskyglases schwimmt. Die Verheißung des Geschmacks, der Kühle, des Rausches, der Schwebezustand ist so perfekt, dass sie kaum den Alkohol spürt, das erste Glas so gut, so tückisch, dass es nach dem nächsten ruft, dann nach noch einem, schließlich all ihre Kumpel versammelt. Jule unterdrückt einen Schmollmund, der Geschmack von zu viel überkommt sie wieder, ihre Sprachfähigkeit wie Neuronen, ihr Anstand und Schamgefühl ziehen Leine. Sie macht die Augen wieder auf. Das Aufrufen ihrer Erinnerung hat seine Wirkung getan, ihre Lust ist vergangen.

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Jade Samson-Kermarrec: Sehr viel Verschiedenes. Sie kann sowohl Rückzugsort sein als auch Ventil für etwas. Ich denke, dass sie mehr als ein Fenster zu einer Welt oder Zugang zu einem anderen Ort ist und tiefgreifende Veränderungen im Inneren wie Äußeren auslösen kann. Ich mag es, mir Literatur als eine Bewegung vorzustellen, als eine Welle, die im Inneren entsteht um sich dann auszubreiten. Ich mag, dass sie sämtliche Paradoxe vereinen kann, das macht sie meiner Meinung nach komplex, vollkommen und vor allem unendlich.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JSK: Als Pariserin war ich mit der Bedeutung des Cafés als Ort des Zusammenkommens seit der Pubertät vertraut. „Auf einen Kaffee gehen“ war Teil des Alltags. In Berlin sind Kaffeehäuser anders, hybrider, weniger vereinheitlicht. Wie auch immer, ich habe Kaffeehäuser immer mit menschlicher Erfahrung verbunden, mit der Beobachtung von KundInnen oder PassantInnen, mit der Körpersprache des Barkeepers/der Barkeeperin und der KellnerInnen. Ich mag diese nicht wirklich anonyme Anonymität, die dort vorherrscht, ich mag diese Zwischenzone und die Möglichkeit Zuschauerin des menschlichen Karussells zu sein, ohne sich jedoch ganz daraus zurückzuziehen. Ein Café (in seiner Bedeutung als Ort und allen anderen Bedeutungsebenen) ist eine Schatzkammer.

Wo fühlst du dich zuhause?
JSK: Das ist eine Frage, die einen das ganze Leben beschäftigen kann. Ich bin 2003 nach Berlin gekommen, ich war 16 Jahre alt und habe mich sofort zuhause gefühlt, obwohl ich nicht viel von dem, was man mir erzählte, verstanden habe. Das war mir gleich ganz klar und seitdem hat mich dieses Gefühl, hier auch „zuhause“ zu sein, nie verlassen. Ich hatte fortan also mehrere „Zuhause“ ; das ist ein Luxus, der jedoch mit dem Nachteil einhergehen kann, sich nirgends komplett zu fühlen. Aber davon abgesehen ist Berlin mein Zuhause, da bin ich bei mir, da bin ich ich selbst.

 

BIO

Jade Samson-Kermarrec ist 1987 in Paris geboren und lebt seit 2013 in Berlin. 2018 gründete sie die französisch-deutsche Theatertruppe „Theater im Nu“ und 2022 das Theaterfestival „Le Lampenfieber“. 2021 trat sie der Berliner Autorinnenvereinigung bei und nimmt seither aktiv an den verschiedenen Initiativen des Netzwerkes teil (Hôtel des Autrices, Calendrier de l‘Avent, La Colec…)