Kamel Bencheikh | Café de la Gare, Paris [2/2]

Foto: Alain Barbero | Text: Kamel Bencheikh Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Unterweger

Diese Stadt, die meine vorbestimmte Umgebung bildet, faltet sich auf meinem Marsch wieder zusammen, sie gibt mir die Gelegenheit, sie zu durchdringen, als hätte sie sich in ein instabiles Nadelöhr verwandelt. Die Passerelle des Arts ist nun um die Vorhängeschlösser erleichtert, die unerschöpfliche Liebe verheißen. Die Rue de Seine, richtig benannt, wirft mich in die Arme des Boulevard Saint-Germain, wo die Lichter der Cafés das Getuschel der Menschen an den Tischen beleuchten.

Die Nacht ist feucht unter den fluoreszierenden Blicken der Veranden. Ich spreche von Helligkeit, während nur die Straßenlaternen die Gehsteige beleuchten. Die Sonne schenkt der Stadt selbst tagsüber nur selten ihre Fackeln. Der Star unter den Sternen neigt dazu, sich zu verstecken, wagt nicht, seine leuchtenden Stacheln zu zeigen. Im Norden aber nutzt der Hügel von Montmartre dieses Licht, um die Trauben an den Hängen des Clos des Saules zu adeln. Hier, auf den Anhöhen der Megacity, erinnert sich das moderne Babel an seine großzügigen, prophetischen Ländereien.

Der Aufstieg nach Ménilmontant durch die Rue Oberkampf ist für mich Atheisten der Aufstieg nach Golgotha. Der Regen hat angesichts meiner Hartnäckigkeit den Mut verloren, aber die Bewölkung der Nacht begleitet mich hingebungsvoll und still. Ist sie es, die mir jetzt gerade, während ich diesen Abschnitt schreibe, die Hand auf die Schulter legt? Ist sie es, die mich davon überzeugt, dass meine Einsamkeit ein Lob ist, das man gerne empfangen kann? Oder ist es der Ruf des Freitagabends, nicht jener des Gebets, sondern der Ruf eines kleinen Biers bei Akli im Café de la Gare mit meinem Freund Youcef?

Die Stadt begleitet mich bis zu den Buttes Chaumont wie eine verträumte und laute Freundin. Mein glühendes Gedächtnis kennt jede Windung dieser Straßen, in denen mich meine Schritte zu den erlahmenden Reklamen pilgern ließen. Jetzt muss ich noch ein Stückchen weiter hinauf, damit mein Rücken endlich auf dem grauen Sofa, das mich erwartet, Halt findet. Und dann wird mir der Blick auf den Montmartre als jenes strahlende Geschenk angeboten, das ich schon nicht mehr zu erhoffen wagte.

 


BIO

Kamel Bencheikh wurde in Sétif auf dem Hochplateau im Osten Algeriens geboren und lebt in Paris.
Er ist Lyriker und Autor von Kurzgeschichten und Romanen. Seine letzten Veröffentlichungen umfassen folgende literarischen Bereiche: Poètes algériens de langue française (Anthologie), La Reddition de l’hiver (Die Kapitulation des Winters. Erzählungen), L’Impasse (Die Sackgasse, Roman), Là où tu me désaltères (Wo du meinen Durst löschst, Gedichtband).
Seine Texte wurden in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, darunter Promesses, Alif, Artère, Les Refusés, À l’Index, A littérature action, Écriture française dans le monde
Sein Roman Un si grand brasier (Ein so großes Inferno) und sein Essay L’Islamisme ou la crucifixion de l’Occident (Der Islamismus oder die Kreuzigung des Westens) erscheinen demnächst bei Frantz Fanon (Algerien) und Altava (Frankreich).
Er nahm an den Gemeinschaftsarbeiten La Révolution du sourire, (Die Revolution des Lächelns, éditions Frantz Fanon) und Les Années Boum (Die Jahre des Booms, Chihab éditions) teil. Außerdem ist er Kolumnist in mehreren Zeitungen und Zeitschriften wie Le Matin d’Algérie, L’Orient-Le Jour, Tribune Juive, Le Vif
Kamel Bencheikh gilt als Feminist und universalistischer Aktivist. Er war Initiator des Aufrufs zur Einführung des Laizismus in Algerien.