Philippe Lafitte | Grand Central, Brüssel
Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Lafitte | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach
Ich habe dieses Café wegen seiner ungewöhnlichen Größe ausgewählt, eine riesige Deckenhöhe, die ich bemerkt hatte, als ich im Auto vorbeifuhr. Und dann ist mein Stamm-Café viel zu schäbig, um Objekt einer Foto-Session zu sein. Zurück zu diesem Lokal an der Kreuzung, die zwei unterschiedliche Orte voneinander abgrenzt, wie Brüssel das so gut kann: den alten Léopold-Park und das Europa-Viertel. Das Abenteuer des Sehens eines neuen Raumes, das sind ja die Voraussetzungen des Schreibens.
Ich kam zu Fuß, während ich im Inneren betete, es möge ein Ort mit sanfter Musik sein, etwas, das einem utopischen Ort gleichkommt, in der Stadt: Ich träume von einem Café, wo die Musik klassisch wäre und die Kunden still. Hier ist es eher wie das Eintauchen in eine post-industrielle Ära, eine gekonnte Mischung aus Betonträgern, Metalllampen und gebrauchten Hockern. Nicht viel los um diese Zeit. Ein paar Führungskräfte schlürfen immerhin melancholisch ein Bier zwischen zwei Besprechungen. Im Hintergrund drei, vier angesäuselte Kunden, die lautstark lachen, als sie sich nachschenken: Lobbyisten, die gerade ihren Sieg feiern?
Ich sehe den Fotografen nicht sofort, aber ich würde Alain mit der Zeit schon entdecken, sogar bis ins Detail, konzentriert hinter dem Auslöser seiner Leica.
Eine lächelnde Fiebrigkeit, Fotos in Serie, einige Anweisungen, was wird das Endergebnis sein?
Vielleicht dieser magische Moment, den er vorher erwähnt hat, wenn das Modell müde wird, sich dann endlich entspannt. Wenn es sein wahres Ich offenbart, in dem Moment, wo die Barrieren der Pose nachgeben. Alain erwartet mich und lächelt mich an, und, bevor es ernst wird, bestellen wir einen Espresso, der auf einem Barcode gescannt werden muss, womit die Bestellung direkt an die Theke übertragen wird. O tempora, o mores. Das nächste Mal trinken wir ein Glas im alten Café am Place Jourdan, wo ich mich zu Hause fühle. Heute gibt es Gelegenheit, ist vielleicht epischer, Erfahrung mit etwas Neuem zu machen, aber im doppelten Sinn: die Begegnung mit dem Ort und dem Fotografen.
Interview mit dem Autor
Was kann Literatur?
Philippe Lafitte: Immer noch ein Mysterium und eine Offenbarung sein. Eine unerschöpfliche Quelle an Fragen, der Neugier und einzigartiger Welten: Ich spreche hier von meinen Schwestern und Brüdern im Schreiben. Jeder hat mir auf seine Weise seine Welt geöffnet und mein Gefühl für die Existenz verstärkt. Schreiben und Lesen, das heißt tausend Leben leben.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PL: Es ist die Bedeutung des Unbekannten bevor man die Tür aufstößt. In eine Atmosphäre eintauchen, sei sie nun cool, energetisch oder sogar langweilig. Orte, an die man sich flüchtet, wenn es unmöglich ist, zu schreiben, man über seine Einsamkeit hinausgehen will: allein inmitten der Menge sein. Aber Cafés sind vor allem Bereiche der Beobachtung, des Notierens, selten des langen Schreibens.
Wo fühlst du dich zu Hause?
PL: In meinem Arbeitszimmer natürlich, der wichtigste Ort für diese Art des Schreibens, die mich nach 20 Jahren Praktizieren noch immer beeindruckt. Aber von Café zu Café gehen, je nachdem, wohin meine Schritte mich zufällig führen, ein neues Viertel entdecken, eine unbekannte Straße, das ist ein Ritual, das ich mit stets neuem Vergnügen pflege, seit ich in Brüssel lebe. Wenn die Brüsseler Cafés so zahlreich sind wie die belgischen Biere, dann habe ich ja noch Luft nach oben
BIO
Philippe Lafitte ist Autor zahlreicher Romane, besonders zu erwähnen Étranger au paradis (Buchet/Chastel), Celle qui s’enfuyait (Grasset) und Vies d’Andy (Le Serpent à Plumes), für den er die Filmadaptation zusammen mit dem Regisseur Laurent Herbiet vorbereitet. Bei Mercure de France erschien Périphéries, sein siebter Roman, der davon handelt, welchen Preis man für seine soziale Emanzipation bezahlt. Der Autor wohnt jetzt in Brüssel, wo er an seinem achten Werk schreibt.