Foto: Alain Barbero | Text: Linn Penelope Micklitz, Auszug aus dem Buch „Abraum, schilfern“
1740: Sidonia von Hedwig Zäunemann ist gerade aufgewacht und fühlt sich schon außerhalb ihres Körpers, als hätte dieser Körper nichts mehr mit ihr zu schaffen. Eine Müdigkeit, die Trauer gleicht, sammelt sich hinter ihrem Gesicht, sodass die Haut sich wölbt, aufwirft und von ihr wegstrebt. Nichts bringt sie zustande, nur das Schreiben an sich scheint ihr tröstlich. Sie verläuft sich an den Tisch und greift nach dem Briefpapier. Es ist ja doch so, dass schon das Aussprechen oder Aufschreiben dieses Gefühls des »Nichtfühlen Könnens« eben jenes erträglich macht. Es rutscht sozusagen von den Schultern in den Bauch, was zwar nicht angenehmer ist, ganz im Gegenteil, aber dafür sorgt, dass man weniger einsinkt, und die Ablösung der Haut sich auf das Gesicht beschränkt. Sidonia spitzt den Stift. Beim Anblick der Späne droht sie kurz die Fassung zu verlieren. Wohin mit solchen Resten. Ihr scheint, dass solche und andere Fragen, die in den letzten Monaten des Öfteren von ihr Besitz ergriffen haben, nicht ihre eigenen sind. Wie sie es auch betrachtet, nichts kann sie finden, nichts, was sie rührt, nichts, was sie betrifft. Bis auf die Reste des Bleistifts, bei denen sie aber nicht begreift, was sie mit ihnen zu schaffen hat.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Linn Penelope Micklitz: Arbeit, Einfachheit, Lebendigkeit.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LPM: Zeit allein unter Menschen verbringen, Essen ohne aufräumen zu müssen.
Warum hast du das Café Kater ausgewählt?
LPM: Ich mochte die Einrichtung, das Essen und den Kaffee schon immer, vor einem Jahr bin ich dann ganz in die Nähe gezogen und versuche nun ab und an dort Zeit zu verbringen.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
LPM: Ich mache meinen Kaffee selber.
BIO
Linn Penelope Micklitz, geboren 1992 im Thüringer Wald, studierte Philosophie und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut, arbeitet als Literaturkritikerin und Autorin in Leipzig.
Dunkel, dunkel ist der Himmel, während der Blick das Licht sucht, draußen, wie er nur Minuten davor die Frühlingsblumen gefunden hat, die Märzenbecher, die Winterrosen, die Krokusse / eiliges Vorbeiziehen quert das Licht
Die Plakate, denke ich, Zeiten, die einmal waren, und sepia waren sie und rostrot in einer Wellenbewegung, Geschichten, denke ich, die ich mir in die Realität sehne, den erzählten Schmerz sehne ich mir in mein Herz, in dem es kälter wird / das Herz hat zu viele Risse bekommen, mein Herz schreibt Nostalgie in diesen Tagen größer
Diese Tage, dunkelgrau wie der Staub, der auf den Scheinwerfern an der Decke sitzt, sie geben kaum noch Licht, sind abgehangen, wie die Fassade der Straße gegenüber, wie sie im Damals war, zur Wende / nur die Straßenbahnen waren Licht, las ich, waren das Bisschen Sonne
Abgehangen der Schleier Zeit, Zeit ist eine andere geworden, kein Blick in eine bessere, sie fällt im Angesicht des Jetzt in sich zusammen, in jeder Begegnung tut sie das / zwischen Flüchtenden habe ich mich bewegt, Geflohenen, die Antworten suchten, wann der Zug und welcher und welches Gleis und nach ihrem Koffer, dem einen, den sie tragen konnten
Mit dem Schluck Kaffee verschlucke ich mich an meinem Gewissen, huste, räuspere mich, huste die Zeit, die ist, aus mir, verräuspere mich in Worten, die ich nicht auszusprechen wage / vage die Vorstellung, wie es damals war, als Ost und West sich hier getroffen haben, im Plüsch des Sofas, las ich, wurde geküsst, wurde nähergerückt, was eine Mauer bislang trennte
Grau, grau und schmutzig die Zeit, ich stehe auf aus ihr, dem Himmel, hier, dem es an Blau und Hoffnung fehlt, gehe ein paar Schritte, lese an der Wand / ici, Delphine a pensée à Thomas
wer waren diese Menschen, die in Liebe zueinander, und wenn nicht in Liebe, dann in einem Wunsch, wer waren all die Menschen, die hier in diesen dunklen, dunklen Räumen aneinander, miteinander dachten, wer werden sie in Zukunft sein?
Das Wort Zukunft fährt mir kalt und kälter in die Glieder, ich denke, vor lauter falschem Himmel sehe ich sie nicht, nicht für andere in Licht / der Blick sucht weiterstets nach Licht, drinnen, draußen, wie er zuvor nur nichts gefunden hat
Abgehangenes Nichts schreibt sich in diesen Tagen größer, schreibt sich dunkel, dunkel, färbt die Winterrosen schwarz
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Isabella Feimer: Literatur ist mir ein Loslassen und Festhalten, ein geerdeter Schwebezustand; eine Kunstform, die in ihrem Sein als Abbild der Welt, die Welt deutlicher zeichnen kann, als sie ist.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
IF: Zwischenorte, viele Stimmen, tatsächliche und jemals gewesene, die sich mit meiner inneren Stimme verbinden können. Das Jetzt und die Geschichte sammeln sich in Cafés, und auch ein Hauch von etwas, das einmal sein wird.
Warum hast du das Café Cinema ausgewählt?
IF: In der dunklen und geschichtsträchtigen Atmosphäre des CC findet sich meine Leidenschaft für das Kino wieder; es ist ein magischer Ort, der so gar nicht in seine Umgebung hineinpasst und ihr dadurch eine Form gibt. Im CC findet sich so manche Geschichte.
Was machst du, wenn du nicht im Café sitzt?
IF: Tatsächlich spazieren, in Bewegung sein, an Frühlingsblüten schnuppern, die Winterkälte aushalten, usw., ich bin oft im Kino, das Kino ist ein einem Café entgegengesetzter Ort.
BIO
Industriestadtaufgewachsen, nicht ganz Land, nicht ganz Stadt, schon früh der Wunsch nach Richtung Weite, ist so, wenn man im Dazwischen sitzt; Kunsteskapismus, zuerst Theater, dann flügge in die Literatur, die es gut mit mir meinte (hier: ein Dankeschön)
eine Reisende bin ich, reise in Texten, Taten und dem Fantastischen, in der Welt; bebildere mich dabei, lasse in meinem Tun die Bilder Weiterwachsen, und in den Bildern findet meine Stimme ihren Platz.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/IsabellaFeimer-CaféCinema-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-09-24 12:03:262022-10-08 23:09:44Isabella Feimer | Café Cinema, Berlin
Früher, wenn ich den Braten oder das Gemüse nicht essen wollte, brachten meine Eltern unseren Esstisch auf die Straße. Es war ein großer Tisch, aus massivem Holz, mit einer zusätzlichen Platte, um ihn zu vergrößern. Gemeinsam trugen meine Eltern den Tisch nach unten, ich trug meinen vollen Teller und einen Stuhl hinterher. Wie eine Kellnerin breitete meine Mutter die Tischdecke über das Holz. Ich musste mich setzen, meine Eltern verschwanden nach oben in die Wohnung. Aus den geöffneten Fenstern hörte ich bald die Stimme des Nachrichtensprechers, später sanfte Filmmusik. Ab und zu tauchte im Fensterrahmen über mir der Kopf meiner Mutter oder meines Vaters auf, und ich griff den Löffel etwas fester, aß aber nicht.
Manchmal kamen Hunde vorbei, und wenn es dunkel genug war, warf ich den Tieren Brotkanten oder Speckränder zu. Das war ein Glück. Das größte Glück aber war es, wenn ein anderes Kind aus der Straße dieselbe Strafe bekommen hatte wie ich. Oft war sein Teller mit einem Gericht gefüllt, das mir schmeckte, und ihm ging es mit meinem Essen ebenso. Mit ein wenig Geschick gelang es uns, über die Straße hinweg die Teller zu tauschen. An solchen Abenden mussten weder das andere Kind noch ich mit hungrigem Magen schlafen gehen.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Katharina Bendixen: Sehr vieles – in wenigen Worten vielleicht ein starkes Gefühl der Verbundenheit, das ich in Momenten des Lesens oder (seltener) des Schreibens empfinde.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
KB: Orte der Begegnung, in denen ich mit dem richtigen Menschen im richtigen Moment ebenfalls eine große Verbundenheit fühlen kann.
Warum hast du das Museumscafé Goetz im Unikatum Kindermuseum ausgewählt?
KB: Weil es in Leipzig einer der extrem wenigen öffentlichen Orte ist, an denen über die Anwesenheit von Kindern nicht die Augen verdreht werden. Weil es in der perfekten Sonntagnachmittag-Laufrad-Tour-Entfernung von unserer Wohnung liegt. Weil es dort Kinderbücher, Spielzeug und jede Menge Spiele gibt. Weil Kaffee, Kuchen und Kekse lecker sind. Und weil niemand ein Problem damit hat, wenn die Saftschorle umkippt.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
KB: Schreiben, lesen. Kochen, Brot backen, Kuchen backen. Podcasts hören. Kinder irgendwohin bringen oder von irgendwo abholen. Mit den Kindern zum See radeln und hoffen, dass sie ein paar Minuten zu zweit und ohne Streit im flachen Wasser spielen. Wenn das nicht klappt (also so gut wie immer), mich zu ihnen ins Wasser setzen und mitspielen, bis wir nicht mehr können vor Lachen.
BIO
Katharina Bendixen, *1981 in Leipzig, schreibt Bücher für Kinder (Loewe), Jugendliche (Mixtvision) und Erwachsene (poetenladen). Ihre Texte erhielten zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. den Kranichsteiner Literaturförderpreis (2014), das Heinrich-Heine-Stipendium (2017) und ein Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds (2020/21). Zuletzt erschien der Jugendroman „Taras Augen“ (2022), der mit dem Lesekompass der Leipziger Buchmesse und dem Klima-Buchtipp der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet wurde. Auf dem Blog Other Writers Need to Concentrate (www.other-writers.de) setzt sie sich für eine bessere Vereinbarkeit von Schreiben und Care-Arbeit und einen familienfreundlichen Literaturbetrieb ein. Sie ist Vorstandsmitglied des Sächsischen Literaturrats e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Seit ich Geld habe, um es zu verschleudern, zieht es mich in Kaffeehäuser. Mein erstes und immer noch mein liebstes, ist das Café Rainer in St. Johann in Tirol. Ein düsteres fast schon wienerisch anmutendes Café, das sich wundersamerweise in ein Tiroler Skigebiet verirrt hat. Genau wie ich – Kopfwesen mit den langen Fühlern – wundersamerweise in eine tatkräftige Tiroler Bergbauernfamilie hineingeboren wurde. Im Café Rainer habe ich als Gymnasiastin viele Stunden verbracht. Wenn ich eine Freistunde hatte oder eine brauchte, setzte ich mich in die dunkelste Ecke. Ich blies Rauchringe in Richtung der dunklen Holzverkleidung, trank meine Melange und träumte von der Zukunft. An den Nachmittagen war ich mit Freund:innen hier, unterhielt mich oder lachte oder stritt. Doch wie oft im Leben, geschah das Wichtigste am Abend. Abends gab es dort alle paar Monate eine Lesung. Vom zwölften bis zum achtzehnten Jahr hab ich kaum eine Veranstaltung versäumt. Damals erlebte ich H. C. Artmann, Robert Schindel, Sabine Gruber, Robert Menasse, Evelyn Schlag. Wie Traumwesen kamen sie mir vor, Vorahnungen meiner eigenen, undeutlich schraffierten Zukunft. Wann immer ich heute mit meiner Familie in St. Johann bin, gehe ich ins Café Rainer. Wie ein Lachs kehre ich zurück an die Stätte meiner geistigen Geburt. Mein Mann bestellt dann gerne ein Omelett. Unsere große Tochter das Überraschungseis. Und ich trinke meine Melange und freue mich darüber, wie trefflich hier das Profane und das Heilige ineinanderfließen. Auch wenn schon lang keine Lesungen mehr stattfinden, auch wenn H. C. Artmann seit vielen Jahren tot ist und kaum ein Mensch noch ernsthaft raucht: Das Café Rainer macht weiter. Und es ist noch immer voll mit Zukunft bis unter die vertäfelten Decken.
Kurzinterview
Was bedeutet Literatur für dich?
Elisabeth R. Hager: Im Schreiben & im Lesen von Literatur komme ich mir selbst und der Welt am nächsten. Literatur ist meine bevorzugte Art der Berührung, ein Trostort und Begegnungsstätte mit noch unbekannten Freund:innen…
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
ERH: Sie sind Ruheinseln, Zeltplätze, Arbeitsorte, Präsentierteller und Flirtzone. An jedem besetzten Tisch gelten andere Gesetze. Das Private und das Öffentliche schmiegen sich hier einander an. Das Café ist ihre Verlandungszone, ein Ort der Begegnung.
Warum hast du Fräulein Wild ausgewählt?
ERH: Es gibt den Ort, an dem ich mich physisch aufhalte und – wenn ich alleine bin – fast immer einen zweiten. Diesen zweiten Ort, meinen Headspace, bewohnen meine Gefühle. Das Fräulein Wild ist ein Ort, an dem ich oft schreibe. Die Gründe sind profan. Es liegt auf halber Strecke zwischen dem Kindergarten meiner kleinen Tochter und unserem Haus. Außerdem sind die Sessel bequem, der Kaffee schmeckt gut und – I must admit – der Name spricht zu mir…
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
ERH: Ich atme, tanze, lese
Spiele mit den Worten
mit den Kindern
anderswo.
BIO
Elisabeth R. Hager ist Schriftstellerin, Klangkünstlerin und Mitarbeiterin in der Hörspielabteilung von Deutschlandfunk Kultur. Für ihren Roman »Fünf Tage im Mai« erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Hilde Zach Literaturstipendium der Stadt Innsbruck 2018. Sie lebt mit ihrer Familie zwischen Berlin, Tirol und Neuseeland. Ihr dritter Roman »Der tanzende Berg« erscheint im August 2022 im Klett-Cotta Verlag.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/ElisabethHager-FräuleinWild-235_Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-07-30 11:37:102022-07-30 11:37:10Elisabeth R. Hager | Fräulein Wild, Berlin
und du tanzt tanzt impro und ballett und deine ballettlehrerin lacht immer noch und du tanzt in verlassenen fabrikshallen und auf den fahrenden wägen am ring tanzt flamenco auf tischen glaubst dass du flamenco tanzt tanzt mit den leuten vom broadway in der u6 und hip hop auf dem laufsteg und im film tanzt du betrunken auf der brüstung bevor du in die tiefe stürzt tanzt sieben stockwerke unter der erde tanzt mit comicfiguren auf der feria baila! und deine füße versinken im sand baila! baila! und du tanzt in neonbeleuchtenden wäldern und polizisten kesseln euch ein weil ihr vor der oper sirtaki tanzt und auf der tanzfläche wirst du verprügelt und auf der wiese zwischen den studios im arsenal zeigt dir eine freundin wie man sich auf zehenspitzen dreht ohne die balance zu verlieren und verliert ihre und du versuchst immer noch die balance nicht zu verlieren zoomst dich vom wohnzimmer ins tanzstudio nach new york zoomst dich in den nächten in die clubs verschwitzte körper dicht an dicht tanzt allein im café
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Petra Piuk: Spiel mit Sprache und Form. Experiment. Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Lachen, das im Hals stecken bleibt. Der Finger in der Wunde. Jedenfalls: kein beschaulicher Ort.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PP: Ich hab jahrelang in Cafés, Café-Bars oder Kino-Bars gearbeitet. Und auch wenn es immer nur Nebenjobs waren, die Arbeit hinter der Bar hab ich geliebt. Vielleicht sitze ich in Lokalen deshalb noch immer am liebsten an der Bar. Ich treffe da Leute, lese Zeitungen, schreibe, plane neue Projekte.
Warum hast du das Café Europa ausgewählt?
PP: Das Europa war früher mein zweites Wohnzimmer. Ich hab in einem Club ums Eck gearbeitet und war vor der Arbeit im Europa, manchmal auch nach der Arbeit, um zu frühstücken. Und an den freien Tagen war ich auch da. Ich hab hier geschrieben, gelernt, gefeiert. Heute bin ich viel seltener im Europa, aber es ist nach wie vor eines meiner Lieblingscafés.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
PP: Zuhause schreiben oder in Zügen. Und tanzen.
BIO
Geboren 1975 in Güssing, lebt in Wien. Schreibt Romane, Kurzprosa, Kinderbücher, Drehbücher und Theatertexte. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Wortmeldungen-Literaturpreis der Crespo Foundation 2018. Gisela-Scherer-Stipendium 2020. petrapiuk.at
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/PetraPiuk-CaféEuropa-2-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-07-16 10:56:532022-07-16 10:56:53Petra Piuk | Café Europa, Wien
Foto: Alain Barbero | Text: Cécile Calla | Übersetzung aus dem Französischen: Barbara Peveling
Das Jahr Null der Sprache
Die Sirenen der Bombenangriffe ertönen pausenlos. Im Schlaf, beim Aufwachen, bei der Arbeit, während der Kaffeepausen, in dem Bus oder der Bahn und in jeder freien Minute. Das Ende des Krieges, die Kapitulation und das riesige Meer der Schuld kleben an mir. Ich bin nie allein, es gibt immer diese Geister, dieses Gewicht, das mir auf meine Lungen drückt, die Kehle zuschnürt, den Appetit verdirbt, meine Eingeweide umdreht und mich erschauern lässt. Ich versuche, das Alphabet der Herkunft zu entschlüsseln, ein vertrautes Wort zu rekonstruieren, das Unausgesprochene und die verschlüsselten Botschaften zu erkennen; ich lerne eine besonders schwierige Fremdsprache und das ohne jegliche Hilfe. Der ohrenbetäubende Lärm der Explosionen ist nichts anderes, als die Zerstörung dieser höllischen Logorrhoe*, dieser betäubenden Wörter, dieser leeren Formulierungen, dieser Witze, die nur Namen tragen. Ich werfe alles in den Reißwolf, um nur noch winzige Bruchstücke zu erhalten, Atome, die ich dann nach Lust und Laune und in völliger Freiheit zusammensetzen kann, ohne der familiären Gebrauchsanweisung zu folgen. Es ist das Jahr Null meiner Sprache. Ich lerne wieder sprechen, lesen und schreiben. Ich werde mich von meinem Bauch, meinem Mund und meinem Geschlecht leiten lassen. Die körperliche Dreifaltigkeit ist mein als Kompass. Die Nerven der Weg. Das Pulsieren des Herzens der Motor.
*Bei einer Logorrhoe kommt es zu einem nahezu ununterbrochenen und übermäßig schnellen Redefluss.
Interview mit der Autorin
Was ist Literatur für dich?
Cécile Calla: Es ist ein Raum zum Denken, um die gegenwärtige und vergangene Welt zu verstehen, ein Ort der Freiheit, der Entdeckung und einer notwendigen Disziplin.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CC: Es sind Orte, an denen ich die Einsamkeit genießen kann, Zufluchtsorte zum Schreiben, seit ich Mutter bin. Dort kann ich meine Gedanken nach Belieben schweifen lassen. In einem Café gelingt es mir oft, eine Textblockade zu lösen oder eine gute Einleitung zu finden.
Warum hast du Lass uns Freunde bleiben gewählt? CC: Weil es unaufgeregt ist, so typisch berlinerisch mit seinen Möbeln, die aussehen, als wären sie von einem Flohmarkt, und auch, weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich gehe gerne am frühen Morgen hin, wenn viel los ist und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Horizonte zusammenkommen: die Leute aus dem Kiez natürlich, Freunde und Bekannte, die ich treffe, aber auch einige Touristen oder Arbeiter von den nahe gelegenen Baustellen, die sich einen großen Kaffee holen.
Was tust du, wenn du nicht im Café bist?
CC: Ich arbeite in meinem Büro, das sich in einem Künstlerhaus befindet.
BIO
Cécile Calla, 1977 in Paris geboren, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt für deutsch-und französischsprachigen Medien und hat ihre erste Kurzgeschichte bei den Literaturmagazin Stadtsprachen im September 2020 veröffentlicht. Sie hat den feministischen Blog Medusablätter gegründet, der einen neuen Blick auf feministische Debatten wirft und produziert mit Barbara Peveling den deutsch-französischen Podcast Medusa spricht (Méduse parle). Sie ist Mitglied des Netzwerkes französischsprachiger Autorinnen in Berlin. Zuvor war sie Korrespondentin der Tageszeitung „Le Monde“ (2007 – 2010) und Chefredaktorin des deutsch-französischen Magazins „ParisBerlin“ (2012 – 2015).
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/CecileCalla-LassUnsFreundeBleiben-75_Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-07-02 11:50:222022-07-02 11:50:22Cécile Calla | Lass uns Freunde bleiben, Berlin
Talleyrand sagte über den Kaffee, er müsse „heiß wie die Hölle, schwarz wie der Teufel, rein wie ein Engel, süß wie die Liebe sein.“ In der Tat ist es in den meisten Kaffeehäusern immer unglaublich heiß (allerdings nicht mehr ganz so höllisch wie in Zeiten, als Schwaden von Zigarettenqualm die Räume erfüllten und alle ein wenig so aussahen, als seien sie von Renoir gemalt worden). Der Hitze entgehend, sitze ich so gerne in den „Schanigärten“ der Cafés – der Freiluftmalerei huldigend –, wo ja mancher Kaffee dann noch immer schwarz wie der Teufel und hoffentlich rein wie ein Engel ist. Wer aber auf den Zucker verzichtet … nun, die Liebe kann ja auch bitter und schwermütig sein, vielleicht ist sie dann sogar noch ein wenig intensiver und tiefer, so wie jener Grund am Boden eines hochkonzentrierten Espressos.
Kurzinterview mit dem Autor
Was bedeutet Literatur für dich?
Heinrich Steinfest: Das Leben einatmen und eine Geschichte ausatmen.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
HS: Na ja, das ist halt in der Jugend losgegangen, denn im Café war es eindeutig spannender als in der Schule. Früher waren es für mich die bedeutenden Wiener Kaffeehäuser, weil man sich da selbst so bedeutsam vorkam, zwischenzeitlich sitz ich aber viel lieber in den hinterzimmerartigen Café-Bereichen kleiner Bäckereien oder großer Supermärkte, im Strandbadcafé oder im Eiscafé.
Warum hast du Eiscafé Fragola ausgewählt?
HS: Weil ich da im Freien sitzen kann. In einer Art von erweitertem Zimmer, mit Blick auf den Platz, auf die Kirche, den Markt, die Vorbeiziehenden, die Eisesser, die Flaneure, die Eiligen und die Langsamen. Ich bin dort allein, aber unter Menschen.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
HS: Dann schreibe ich zu Hause und mach mir selbst den Kaffee.
BIO
In Australien geborener Wiener, der nach einem Vierteljahrhundert Stuttgart nun im Odenwald nahe Heidelberg lebt, allerdings immer wieder vom Wiener Magneten angezogen wird. Und der von seinen einundsechzig Lebensjahren dreißig Jahre dafür verwendet hat, einen Haufen Bücher in die Welt zu bringen.
Foto: Alain Barbero | Text: Tanja Raich, Auszug aus dem Roman „Schwerer als das Licht“ (Verlag Blessing, 2022). Erscheint am 24.8.22!
Ich erinnere mich an diesen Tag, der schon lange zurückliegt. Eines Morgens regnete es alle möglichen Formen und Farben. Nagas- und Hibiskusblüten, Orchideen und Amaryllis, ein buntes Treiben zwischen den Bäumen und hoch in der Luft. Ich hatte nie zuvor etwas Schöneres gesehen. Der Wind wirbelte die Blüten über die Baumkronen, wirbelte sie über die ganze Insel. Sie flogen wie Schmetterlinge durch die Luft und sanken irgendwo zu Boden. Eine Hibiskusblüte schlug mir ins Gesicht und hinterließ einen stechenden Schmerz. Und dann war alles kahl. Keine Knospen, nichts folgte nach. Und als die Blüten verdorrten, gab es endgültig keine Farben, kein Leuchten mehr. Alles wurde stumpf und braun und grau.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich? Tanja Raich: Literatur ist für mich das Eintrittstor in neue Welten, Literatur eröffnet neue Perspektiven und Erfahrungen, führt mich auf Reisen, lässt mich in Gedankenwelten hinein, berührt mich und schockiert mich – im Idealfall gehe ich als neuer Mensch daraus hervor: als Lesende und als Schreibende.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
TR: Da muss ich unterscheiden zwischen Wien und Italien. In Italien sind sie Treffpunkt, da geht es auch mehr um den Kaffee an sich, selten verliere ich einen Tag darin. In Wien sind sie tatsächlich ein erweitertes Wohnzimmer, auch wenn ich dort selten schreibe. Ich mag das Kaffeehaus als Ort der ersten Begegnung, wenn ich Autor:innen kennenlerne, mit denen ich Bücher realisieren möchte zum Beispiel. Manchmal verliere ich mich darin, und das passiert mir nur in Wien: Man trifft sich auf eine Melange und stolpert um zwei Uhr nachts wieder auf die Straße. Dabei fühlt es sich gar nicht an, als wär man in Wien, vielleicht irgendwo an einem Ort ohne Raum und Zeit.
Warum hast du Cafemima ausgewählt?
TR: Ich liebe Märkte und das Cafemima ist ein Marktlokal, bunt und chaotisch. Meine Wohnung sieht ziemlich ähnlich aus. Viele Pflanzen und bunte Dinge, die ich von meinen Reisen mitgebracht habe.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
TR: Dann bin ich irgendwo draußen, im Park, im Prater, oder ich fahre mit dem Fahrrad über die Donauinsel.
BIO
Tanja Raich, 1986 in Meran (Italien) geboren, sie lebt als Lektorin und Autorin in Wien. 2015 initiierte sie eine neue Literaturreihe bei Kremayr & Scheriau mit Fokus auf deutschsprachige Debüts, wo sie bis 2020 als Programmleiterin tätig war. Derzeit leitet sie das Literatur- und Kinderbuchprogramm beim Leykam Verlag. Ihr Debütroman „Jesolo“ (Blessing 2019) wurde für den Österreichischen Buchpreis Debüt 2019 sowie für den Alpha Literaturpreis 2019 nominiert. Ihr zweiter Roman „Schwerer als das Licht“ wird im August 2022 bei Blessing erscheinen. tanjaraich.at
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/TanjaRaich-Cafemima-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-06-04 11:41:162022-06-04 11:41:16Tanja Raich | Cafemima, Wien
Was bedeutet Literatur für dich?
Richard Wall: Auftrag, Glück, Perspektivenwechsel, Widerstand, Selbstvergewisserung.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RW: Eine große Bedeutung, obwohl ich gewiss kein „Kaffeehausliterat“ bin. Dennoch entstanden in den Cafés zwischen Krakau, Venedig, Paris und Prag Gedichte oder Notizen. Ich schätze in ihnen Ruhe, das Angebot möglichst vieler Zeitungen, eine diskrete Bedienung. Das Kaffeehaus sehe ich auch als Bühne: Blicke kreuzen sich, und unwillkürlich, aus den Augenwinkeln, nimmt man Bewegungen war, Ankommende und Aufbrechende …
Warum hast du das Café Traxlmayr ausgewählt?
RW: Das Café Traxlmayr besteht seit 1847, der Zubau, in dem ich meistens sitze, wurde von Mauriz Balzarek, einem Schüler Otto Wagners, 1905 im Stil der Neuen Sachlichkeit gestaltet. Nachdem im Verlaufe der vergangenen 40 Jahre an die zehn Kaffeehäuser in Linz zugesperrt haben, ist das Traxlmayr die einzige Oase mit einem historischen Flair. Ich habe hier, als ich noch literarische Veranstaltungen organisiert habe, den Ablauf zweisprachiger Lesungen mit Kolleginnen und Kollegen aus Tschechien und Irland besprochen; unvergesslich die Treffen mit Jiří Stránský, Josef Hrubý, Eva Bourke, Moya Cannon, Rita Ann Higgins und vielen anderen.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
RW: Im Garten arbeiten, schreiben, collagieren, meine Frau bekochen, querfeldein Gehen, unterwegs sein …
BIO
Richard Wall ist 1953 geboren. Schreibt Lyrik, Essays und erzählerische Prosa. Als Bildender Künstler auf dem Gebiet der Collage, Malerei und Zeichnung tätig. In den 1990er-Jahre Organisator der Reihe „Tage irischer Literatur/The Road West“ im Stifterhaus Linz. In diesem Zusammenhang Übersetzung der Lyrik von Cathal Ó Searcaigh, Macdara Woods, Gabriel Rosenstock u.a. „Artist in Residence“ im Heinrich Böll-Cottage auf Achill-Island 2014; Projektstipendium des Bundes 2016; Einladung zum internationalen Lyrikfestival „Meridian“ in Czernowitz 2020. Etwa zwanzig Buchveröffentlichungen, zuletzt: Das Jahr der Ratte. Ein pandämonisches Diarium. Löcker Verlag, Wien 2021.
Foto: Alain Barbero | Text: Assaf Alassaf | Freie Übersetzung: Rim George Hachicho & Daniela Gerlach
Und die Ampel ist rot (der Halt)
Ich stehe an der Verkehrsampel, warte zusammen mit den anderen, um die Seite zu wechseln, jene betrachtend, die mich in ihrem Warten umgeben: die junge Frau, die Griffe ihres Trolleys haltend, im Gespräch mit ihrer Freundin, der junge Mann mit orientalischen Gesichtszügen, der damit beschäftigt ist, auf sein Telefon zu schauen und seine Augen von Zeit zu Zeit auf die Ampel richtet, der große schlanke Mann in seinem eleganten Anzug, mit seiner schwarzen Ledertasche, der mit einer Handbewegung seine Armbanduhr unter dem Hemdsärmel hervorzieht, vier oder fünf Jugendliche mit ihren lauten Stimmen und ihrem Gelächter; wir teilen uns das gleiche Warten ohne uns über die vergehende Zeit zu beklagen.
Ich erinnere mich an die erste Zeit nach meiner Ankunft hier. Ich überquerte die Straße, das Rot ignorierend; aus keinem anderen Grund als dem der Weigerung, zu diesem Ort zu gehören, verstieß ich gegen seine unzähligen Regeln.
Das Überqueren der Straße war ein kleiner Test für das Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen mir als Individuum und der Gemeinschaft, in der ich lebe, zwischen dem freien Willen und der Unterordnung unter das Gesetz der Gemeinschaft. In diesem Moment des Aufbegehrens wurde ein kleiner skandalöser Akt, wie die Straße zu überqueren und dabei die Ampel zu missachten oder achtlos eine Zigarettenkippe auf den Boden zu werfen, unbewusst zu einem Akt des Widerstandes gegen das wachsende Gefühl des Identitätsverlustes und gegen das Zerrinnen der eigenen Seele, sodass die Identifikation mit den anderen und der Umwelt erschwert, zu einem Stachel, wurde, der in die verwundete Identität stach und dieses verdammte Ungleichgewicht noch vertiefte.
Die Ampel hat uns noch keine Erlaubnis gegeben!
Ich erinnere mich an eine andere Art von Aufbegehren, die ich in einem seichten Film gesehen habe, der die Geschichte eines bösen Prinzen erzählt, der mit Gewalt und Zwang bekam, was er wollte: Geld und Macht, Frauen und Kinder. Aber in dem Moment, als er eine Frau wirklich liebt, identifiziert er sich mit der allgemeinen menschlichen Natur und wünscht sich, so wie die anderen zu sein, also jemand, der sich den Normen der Gemeinschaft unterwirft; und so bittet er die Frau um ihre Einwilligung, ihn zu heiraten und ihre Kinder zu legitimieren, was dann sein Freibrief auf dem Weg hin zur Zugehörigkeit zur Gruppe, zur Nation und zum Volk, ihren Bräuchen und ihren Gesetzen wäre.
Auf dem Höhepunkt des Films, als die Frau versucht, dem Prinzen zu entkommen, nähert sich ihr seine Mutter, eine Hexe, berührt deren Lende mit ihren Fingern und sagt zu ihrem Sohn: Nimm sie jetzt gegen ihren Willen. Sie hat ihren Eisprung und ist mehr als an jedem anderen Tag fruchtbar und bereit für die Schwangerschaft.
Die Ampel ist immer noch rot!
Mich hat immer die Fähigkeit einiger Menschen erstaunt, die Natur und die Lebewesen, ihre Tagesabläufe, ihr Verhalten und ihre Handlungen sowie ihre kleinen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen detailliert zu beobachten, als ob sie ganz auf den verborgenen Rhythmus des Lebens lauschten; und sie gestalten aus ihren Lauten und ihrem Schweigen und dem kosmischen Wissen heraus etwas, womit sie die Welt, die Leute und ein Stück Zukunft lesen, fernab der Pseudowissenschaft, des okkulten Wissens „al-mandab“ und der Alchemie.
Meine deutsche Freundin liest Wolken und Winde und weiß, ob jene ferne Wolke Regen bringen wird oder nicht, wann sie kommt und wie lange es regnen wird, ganz ohne GPS oder Google-Wetter! Dieses Wissen hat sie aus ihren langen Beobachtungen von Wolken und Regen in ihrer kleinen Stadt gewonnen.
Meine Freundin sagt über ihren Vater: Er hat ein Auge, „das sich nicht täuscht“. Es bestimmt das Geschlecht des Fötus im Mutterleib, noch bevor es ein Arzt und ein Ultraschallgerät bestätigen.
In meinem Dorf Muhassan gab es Anfang des letzten Jahrhunderts einen kultivierten Mann, einen Führer, der Deir ez-Zor und die ganze syrische Wüste kannte; es genügte, ihm die Farbe des Erdbodens und die Form ihrer Bäume und Felsen zu beschreiben, um zu wissen, um welche Gegend es sich handelte. Er las die Sterne und Windrichtungen während der Jahreszeiten, um die Hirten zu ihren abgelegenen Weiden zu führen, um die Spur von verloren gegangenen Menschen und Vieh zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen. Er starb in den frühen fünfziger Jahren, und dieses Jahr wurde nach ihm benannt (das Jahr des Ali Kusa)
Nach seinem Tod gab es niemanden mehr wie ihn.
Es tritt ein kurzes Schweigen ein, die beiden Freundinnen hören auf zu reden und blicken gemeinsam zur Ampel, der elegante Herr sieht alle zwei Sekunden auf seine Uhr, der Mann mit den orientalischen Zügen lässt seine Hand mit dem Telefon sinken, und auch die Jugendlichen sind verstummt und haben ihre Hände aus den Jackentaschen genommen, des Lärms und des Wartens überdrüssig geworden.
Ich nähere mich dem Bordstein und meine Füße nehmen schon den Farbwechsel der Ampel vorweg, endlich bewege ich mich fort zwischen den Passanten, die wieder in ihr Stimmengewirr verfallen, und ich erinnere mich, mitten auf der Straße, dass ich – als ich Kind war – einem dieser Wahrsager begegnete, der mir etwas prophezeite, was mir damals nicht gefiel. An jenem Tag nahm ich mir vor, hart daran zu arbeiten, dass seine Prophezeiung sich nicht erfüllt. Ich habe mit diesem Unterfangen über Jahre Erfolg gehabt, aber je weiter ich auf dem guten Weg voranschritt und ohne es zu beabsichtigen, habe ich auch andere Menschen enttäuscht, besonders andere Frauen.
Original (Arabisch)
Kurzinterview mit dem Autor
Was bedeutet Literatur für dich?
Assaf Alassaf: Die unilaterale Literatur war schon immer ein Mittel, dieser Welt um mich herum einen Sinn zu geben. Sie ist wie ein kleines Werkzeug, das sich in die komplexen und überlagerten Schichten des Lebens gräbt, um siezum Zweck der Betrachtung, Analyse, des Dialogs und des Verständnisses in Form von Fragen und Ideen an die Oberfläche zu holen; und zum anderen, um der heutigen Komplexität unseres Lebens und seines Drucks gegen einen scheinbar sicheren Raum – wo aber letztendlich die ganze Gefahr liegt – zu entfliehen.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AA: Um die Wahrheit zu sagen, ich habe eine kindliche und verträumte Vorstellung vom Café als alternativem Ort zum Zuhause und für eine kurze Zeit des Tages. Ein Ort, der es dem Individuum erlaubt, eine kleine Ecke zu finden, in der es sich nach Belieben einrichtet, wo es entdeckt, was es will und tut, was es will. Nach zahlreichen Erfahrungen und Besuchen in Cafés verschiedener Länder, scheint mir ein Gedanke die Zunge herauszustrecken und zeigt mir und meiner Wahrnehmung seinen ganzen Sarkasmus: Ihr geht hier an einen Ort, der nur von Vorübergehenden frequentiert wird.
Warum hast du das Eckkneipe-Café ausgewählt?
AA: Wenn die Corona-Pandemie die Welt geschlossen hat und uns in die Häuser ein-, mitsamt sozialer Distanz und Zoom-Meetings, dann hat sie leider und unglücklicherweise auch das Café in Kreuzberg geschlossen, in das ich früher gegangen bin. Also bin ich auf die nächstgelegene Alternative in meiner Umgebung ausgewichen – das war das Café Eckkneipe.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
AA: Ich habe viele Aufgaben und viel Verantwortung, die an mein Leben geknüpft sind: für meine Arbeit, die Familie und all die, die gerade in meinem Alltag wichtig sind. Und ich gehe dreimal pro Woche zum Volleyballspielen, das einen vorrangigen Platz in meiner Terminliste einnimmt.
BIO
Assaf Alassaf, geboren 1976 im syrischen Deir ez-Zor, studierte Zahnmedizin in Damaskus. Er arbeitete hauptberuflich als Zahnarzt und nebenbei als Journalist. Seit 2007 hat er zahlreiche Artikel in arabischen Tageszeitungen wie Al Hayat und Al Mustakbal veröffentlicht. 2013 zog er von Damaskus nach Nouakchott in Mauretanien, wo er als Zahnarzt tätig war, und 2014 nach Beirut, wo er in einem medizinischen Zentrum für syrische Flüchtlinge arbeitete. Heute wohnt er in Berlin. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Auf Facebook schreibt Assaf Alassaf seit 2013 literarische Anekdoten über die Revolution und den Krieg in seiner Heimat, über seine Reise nach Mauretanien, sein Leben im Libanon und die Zahnarztpraxis. Posts und Geschichten über „Abu Jürgen“, den deutschen Botschafter, entstanden in der Zeit zwischen November 2014 und Februar 2015 und wurden 2015 in der Übersetzung von Sandra Hetzl unter dem Titel „Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“ (Roman) im verlag mikrotext veröffentlicht. Anfang Januar 2016 erhielt er ein Stipendium für einen Gastaufenthalt im Literarischen Colloquium Berlin, von Mai bis Juli 2016 war er Stipendiat auf Schloss Solitude.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/AssafAlassaf-Eckkneipe-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-04-09 08:47:442022-04-09 09:30:42Assaf Alassaf | Eckkneipe, Berlin
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