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Martina Jakobson | Café Schwarzenberg, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Martina Jakobson

 

Es hat mir die Sprache verschlagen

So wie ein Kind 
das im Spiel über einen Stein stolpert
und dem es im Schmerz 
für einen Augenblick die Sprache verschlägt
so bin ich über dein Denkmal gestolpert
russische Sprache
Wien Schwarzenbergplatz Säulengang
im Zentrum die Figur des Soldaten
Februar 2022 beschließe ich 
über mein aufgeschlagenes Knie streichend
an dir – meiner so vertrauten zweiten Sprache –
stumm vorbeizugehen
viele Jahre hast du mich
gleich einer Mutter ihr gestürztes Kind
mit süßer Torte geködert
deine Schichten aus Größe Macht Gewalt 
sind mir zu bitter
ich schiebe dich zur Seite 
selektiver Mutismus nennt man es
nur dann zu sprechen
an selbstgewählten Orten
und mit wem man will
wieder und wieder rasselst du
inmitten der lauten Menge 
die immergleichen Sprüche
du hast nicht bemerkt 
deine Zeit auf den Plätzen läuft ab
1956 Budapest
Praha
Warszawa
Sofia 
2024 Kyiv – wohin?
die Fontäne vor deinem Abbild höher montiert
eine Wand hinter deinem Rücken installiert
die Steine gelb und blau angesprüht 
ein ermordetes Lächeln hinzugefügt
im Schatten deines Sockels 
wuchern Büsche Gras Felder 
hinkend trat ich in ihre Stille ein
und habe Schätze gefunden
Stöckchen für ein Feuer
kupfergrüne Käfer
Pirole in den Kronen
Muscheln Alter Hafen Marseille
Restaurant “Basso“
wilde Beeren 
Hasensprünge
und stöbernd traf ich 
auf die Lichtung meiner köstlichen Sprache
den Kescher in der Hand
vereinzelt Rehe

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Martina Jakobson: Betrachten und Zweifeln; es ist, als nähme ich eine Taschenlampe in die Hand und der helle Lichtschein der Sprache beleuchtet die Gegenwart und die Vergangenheit.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MJ: Ich habe eine heimliche Leidenschaft, ich beobachte gern Menschen; im Café treffen die verschiedensten Charaktere aufeinander; und die Orte, wo sich die Cafés befinden oder auch nicht mehr befinden, erzählen Geschichten. In Wien gehe ich aber auch gern ins Kaffeehaus, weil die Auswahl an Torten vorzüglich ist. Als ich 2016 nach Wien gezogen bin, habe ich mich durch die verschiedensten Cafés mit Sachertorte durchgekostet. Und hier trifft man Freunde, um zu reden oder zu Lesungen, diese Tradition liebe und kenne ich auch noch aus meiner Heimatstadt Berlin.
Das Café Schwarzenberg suche ich auf, um in die Zeitgeschichte einzutauchen.  Von hier aus, an der Ringstraße, fällt der Blick in Sichtachse bis auf den Schwarzenbergplatz und das sogenannte Wiener „Russendenkmal“, das nach der Einnahme Wiens durch die Sowjetarmee 1945 errichtet wurde. Und selbst das Mobiliar des Cafés, ein großer Spiegel, trug bis in die 1970er Jahre die Spuren, etwa Sprünge und Einschusslöcher, weil sowjetische Offiziere hier feierten. Ein Kellner hat mir gezeigt, wo dieser Spiegel früher angebracht war, und so sitze ich heute in einem anderen Kontext in diesem Teil des Cafés.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MJ: Zu Hause fühle ich mich eigentlich nirgends mehr, zu Hause ist für mich ein Moment, dort, wo ich die Winkel einer Stadt erkundet habe und diese später, gleich einem Hund mit seiner Spürnase wiedererkenne. Ich habe etwa längere Zeit in Marseille gelebt. Als ich am Quai des Belges den Ort des einstigen Restaurants „Basso“ gefunden hatte, das Walter Benjamin in „Haschisch in Marseille“ beschreibt, habe ich die darin beschriebene Atmosphäre anders verstanden. Deshalb beziehe ich mich in meinem Text „Es hat mir die Sprache verschlagen“ unter anderem auch auf diesen Ort.

 

BIO

Martina Jakobson, geboren 1966 in Ost-Berlin, wuchs in Moskau und Berlin zweisprachig in einer Familie mit russischen und ukrainischen Wurzeln auf. Sie ist Autorin, Pädagogin und Literaturübersetzerin aus dem Russischen, Belarussischen und Französischen. Seit 2016 lebt sie in Wien und im Südburgenland (Österreich). Sie ist Mitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer Wien, des Forum Mare Balticum sowie des PEN Berlin.
Ihr Lyrikband „Hier biegen wir ab“ erschien 2022 in der edition lex liszt 12.

Rhea Krčmářová | Dorotheum Café, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Rhea Krčmářová

 

Zum Ersten / eine Buchrecherche-Entdeckung / ein touristenarmer Ruhepunkt / ein Blick / auf zu versteigernde Preziosen / auf Kumpfdrucke und / auf die Tortenvitrine / wo einmal ein Kloster war / trifft Bohdana auf Dorothea / im imperialen Erbe / ein Gottesgeschenk im Gottesgeschenk

Zum Zweiten / sitzen in und über wechselnder Kunstkulisse / käufliches Glitzern / nahezu okkult über den Dächern der Stadt / im Versatz- und Fragamt / unter den Sammlerpausen / die überhohen Räume des Pfandls / vielleicht Juwelen früh verstorbener Sängerinnen / oder im Glashof rare Asiatika / und auf der Empore / keine Rekordrufpreise für / die Ausrufung kaiserlicher Konditoreikünste   

Zum Dritten / Adrenalinüberreste / die herabsinken / auf Antiquitätenjäger und auf Frau Sensalin / katalogbeladen und schmökerwütig / ein Raten / was liegenbleiben wird / und ein Mindestgebot an siebenundzwanzig Kaffeespezialitäten / von denen ich keine einzige trinke / die Teegenießerin im Kaffeetempel / also auch hier / nichts wirklich Neues

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Rhea Krčmářová: Literatur kann: Neue Perspektiven aufzeigen / die eigenen Glaubenssätze, Überzeugungen, Narrative hinterfragen / unterhalten / ein Zufluchtsort sein / mit schönen Sätzen entzücken / Fragen im Innersten zum Keimen bringen / Worte finden für etwas, von dem man nicht einmal wusste, dass es in einem schlummert

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RK: Cafés werden manchmal als „home outside the home“ bezeichnet. Als jemand, die zum Schreiben Ruhe braucht, sind sie für mich keine Schreiborte, eher ausgelagerte Wohnzimmer, für Interviews und Recherchetreffen, für Lektoratsbesprechungen und als Überbrückungsorte mit Laptop und Buch. Ich liebe es, Lokale zu besuchen, die ich noch nicht kenne, und meine Entdeckungen dann mit Freundinnen und Freunden zu teilen – so auch das Café Dorotheum, in dem ich in den letzten Monaten immer wieder war. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
RK: Für mich ist zu Hause weniger ein physischer Ort als die Gegenwart von Menschen, mit denen ich lachen und diskutieren kann, die mich inspirieren und herausfordern, denen gegenüber ich mich öffne. Insofern bin ich überall und nirgendwo ein bisschen zu Hause …

 

BIO

Rhea Krčmářová (Krtsch-mar-scho-wa) ist Autorin und transmediale Textkünstlerin. Die Wienerin mit Prager Wurzeln studierte Gesang, Schauspiel und Theaterwissenschaften und ist Sprachkunst-Absolventin. Zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt Projektstipendium des BMKK, Jubiläumsstipendium der LiterarMechana und Arbeitsstipendium der Stadt Wien. 2023 Dramalab der Wiener Wortstaetten. Rhea schreibt Prosa, Theatertexte, Libretti, Essays und Lyrik (unter anderem auf Instagram) und experimentiert mit transmedialer Kunst, Videopoesie, Stickerei, Performance und Buchkunst.  2023 erschien ihr Roman MONSTROSA (Kremayr & Scheriau), 2024 erscheint ihr erster Gedichtband (Limbus).

Andreas Unterweger | Café König, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Andreas Unterweger

 

Ich versank in den Anblick zweier alter Damen, auf deren Tischlein, zwischen einer respektablen Anzahl von Tassen und Tellern, ein Bilderrahmen in der Größe eines Porträtfotos aufgestellt war. In diesem vergoldeten Rahmen, den ich nur von hinten sehen konnte, musste sich – das stand für mich schnell außer Frage – das Foto einer verstorbenen Freundin befinden. Sie mochte den beiden vorausgestorben sein, dachte ich, doch dank des Bildes war sie noch immer hier, immer noch unter ihnen, „unter uns“.
Mein Blick wanderte von den Damen zum Porträt Alfred Kolleritschs, das über meinem eigenen Tisch hing, wanderte hinüber zur Theke, wo die Parte von Heimo Steps platziert war (samt Foto, versteht sich), und mit dem Blick wanderten meine Gedanken: von der Macht der Bilder (wobei mir ein alter Buchtitel einfiel: Noch leuchten die Bilder) zu jener des Stammtischs. Man darf den Kaffeehaus-Stammtisch, die Nachfolge des rituellen Sitzkreises rund um die Feuerstelle, dachte ich, eben nicht unterschätzen. Am Ende, dachte ich, ist der Stammtisch, und mag es sich auch nur um ein -tischlein handeln, größer als der Tod.
Tröstlich, wie mir dieser Gedanke schien, wollte ich ihn sofort notieren und tastete im Rucksack nach meinem Notizbuch. Erst jetzt, kramend und dabei, wie ich gestehen muss, eine Träne aus dem Augenwinkel blinzelnd, bemerkte ich, dass auch auf dem Tisch neben jenem der beiden Damen, an dem ein ehemaliger Fußballspieler die Tagesaktualitäten aus der Zeitung pflückte, ein solcher Bilderrahmen stand. Und ein Tischlein weiter, wo niemand saß? Das Gleiche. Ja, selbst auf meinem eigenen Tisch, unmittelbar neben dem großen Wasserglas, das ich immer bestelle und nie austrinken kann, stand, mir den Rücken zuwendend, ein goldener Rahmen. Als ich ihn umdrehte, sah ich: kein Bild, sondern Wörter (und Zahlen). Die neue Speisekarte.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Andreas Unterweger: Unter den vielen Vorzügen der Literatur ist folgender wohl nicht der geringste: Sie kann einen guten Vorwand darstellen, um Kaffee zu trinken. Manche trinken beim Lesen Kaffee, manche beim Zuhören, viele beim Schreiben. Balzac zum Beispiel soll täglich bis zu 50 Tassen getrunken haben. Es heißt, er habe all den Kaffee trinken müssen, um seine vielen Romane schreiben zu können. Mich aber lässt der Verdacht nicht los, dass es in Wirklichkeit genau andersherum war. Ich glaube, er hat nur deshalb so viel geschrieben, damit er so viel Kaffee trinken konnte.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AU: Meist gehe ich ins Café, um dort zu schreiben. Aber vielleicht ist es wie bei Balzac, und ich schreibe nur, um einen guten Grund zu haben, ins Café zu gehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AU: Das ist mein Kaffee.

 

BIO

Andreas Unterweger ist Schriftsteller und Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte.
Seine bislang sechs Bücher sind im Literaturverlag Droschl erschienen, zuletzt der Roman So long, Annemarie (2022), der in Nantes spielt. Seine Prosa und Lyrik wurden in mehrere Sprachen übersetzt, etwa Le livre jaune (übersetzt von Laurent Cassagnau, Lanskine, Paris 2019). Er selbst übersetzt hauptsächlich aus dem Französischen (Laure Gauthier, Guillaume Métayer, Fiston Mwanza Mujila …).
Unterweger erhielt u.a. den manuskripte-Preis des Landes Steiermark 2016 und den Preis der Akademie Graz 2009. 2023 wurde er in das schreibART-Förderprogramm des österreichischen Außenministeriums aufgenommen.
www.andreasunterweger.at

Radka Denemarková | Café Trabant, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Radka Denemarková

 

Immer wenn ich in Wien bin, wohne ich in der Kulturdrogerie. Um die Ecke gibt es das Café Trabant. Im Frühling habe ich dort Alain Barbero getroffen. Mein Spitzname ist „Schwalbe von Prag“ und in diesem Café habe ich mein „Schwalbennest“ gefunden.

Das Café ist eine Art von Zuhause, das das Profil der Umgebung respektiert und mit Gefühl kultiviert. Es bedeutet, die Menschen tief zu verstehen, dort, wo die Stadt und die Straße ihren besonderen Charakter, ihre einzigartige Atmosphäre, ihren Stil und Kultur haben. Da ist das menschliche Leben nicht auf das Stereotyp von Produktion und Konsum reduziert.

Im Café Trabant haben wir uns mit Alain entschieden: Etwas unternehmen können wir alle und jetzt und hier. Niemand wird das für uns tun und auf niemanden können wir warten. Man soll – unter verhältnismäßig schwierigen Bedingungen – unabhängiges und nicht manipulierbares Leben wieder aufzuleben. Und nur eine solche Orientierung kann offensichtlich zu einer Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen führen, in der der Mensch wieder konkrete menschliche Person ist.

Diese Momente im ruhigen Wiener Café waren einfach eine Manifestation des Lebens. Gegenüber der Welt des Scheins und der Interpretation steht hier plötzlich die Wahrheit – die Wahrheit der Menschen, die auf ihre Weise leben wollen. In diesem Kontext erscheint mir das Café als eine solche elementare und spontane Manifestation dieses Lebensgefühls gegen jede Art der Manipulation. Welchen Sinn hat dieses Leben in dieser Zeit? Niemand entwickelt sich im luftleeren Raum. Die Zeit, in der der Mensch aufwächst und reift, beeinflusst immer sein Denken. Es geht eher darum, auf welche Weise sich der Mensch beeinflussen lässt, ob auf gute oder schlechte Weise. Die Hoffnung haben wir entweder in uns oder wir haben sie nicht. Danke, Alain. Vive la liberté!

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Radka Denemarková: Die Literatur ist die Gesamtheit aller Formen der Kunst, der Liebe, der Freundschaft und des Denkens, die dem Menschen erlauben, weniger Sklave zu sein. Die Literatur so wahrzunehmen, ist die reinste Form der Liebe.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RD: Die westliche und östliche Welt, obwohl sie sich in vieler Hinsicht unterscheiden, machen eine einzige und gemeinsame Krise durch. In Cafés kann man mit den Überlegungen zu einer besseren Alternative der Welt beginnen.  Man versucht auch einige grundlegende Themen der Zeit tiefer zu erfassen und wirklich zu artikulieren, es ist nicht nur ein Aufschrei der Authentizität, sondern der Versuch einer Analyse. Radka und Alain. Zwei Menschen am Tisch.

Wo fühlst du dich zu Hause?
RD: In Prag. Auf der Insel Amrum.

 

BIO

Geboren 1968, lebt in Prag. Schreibt Prosa, Essays, Theaterstücke, übersetzt aus dem Deutschen ins Tschechische (u.a. Bertolt Brecht, Thomas Bernhard, Herta Müller: Atemschaukel). Letzte Veröffentlichung: Stunden aus Blei (2022) erscheint im Hoffmann und Campe Verlag). Für den Roman Ein herrlicher Flecken Erde (DVA, 2009) erhielt sie u. a. den 2012 Berliner Georg-Dehio Buchpreis und wurde 2017 zum schwedischen International Writers´ Stage at Kulturhuset Stadsteatern (short-list) nominiert. Für den Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude erhielt sie u.a. in der Schweiz Spycher Literaturpreis Leuk 2019. Für den Roman Stunden aus Blei erhielt sie den Brücke- Berlin Literaturpreis 2022 und österreichischen Literaturpreis des Landes Steiermark. 2007, 2009, 2011, 2019 erhielt sie den höchsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera. Grazer Stadtschreiberin 2017/2018. Auf Einladung des IWM weilte sie 2023 in Wien.

 

Felix Kucher | Theatercafe Cho-Cho-San, Klagenfurt

Foto: Alain Barbero | Text: Felix Kucher

 

Wieder ist es zwei Uhr früh, wieder sind wir die letzten Thekensteher und meditieren unsere leeren Biergläser. Nur Joe tut noch immer so, als läse er die FAZ, die vor ihm auf der Theke liegt. Karl hat mich gerade gebeten, mir einen beliebig großen Teil der Bevölkerung Klagenfurts auszudenken. Nach dem dritten Bier kommt bei ihm der ehemalige Lehrer raus. Die Stadt hat etwa hunderttausend Einwohner.
„Und es ist völlig egal, wie groß“, frage ich. „Von eins bis neunundneunzigtausend.“
Georg rechts neben mir brummseufzt.
„Völlig egal“, sagt Karl. „Vroni, noch eine Runde.“
„Die ganze Bevölkerung sind hundert Prozent, logisch“, sagt Karl überflüssigerweise.
„Habe mir eine Zahl ausgedacht“, sage ich.

Karl hebt den Zeigefinger. „Nicht sagen. Pass auf: Ich verschicke an deine Auserwählten jetzt Briefe, in denen sich eine weiße Postkarte befindet. Alle anderen bekommen eine schwarze.“
Ich sollte nachhause gehen. Jetzt.
„Ich frage dich jetzt: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du als Bewohner dieser Stadt bei der größeren Gruppe dabei bist?“
Er schaut abwechselnd zu Georg und mir. Ich stelle mir Menschen vor, die leere weiße und schwarze Karten bekommen, auf denen nichts steht.
„Wie soll man wissen,  ob man bei der größeren dabei ist oder bei der kleineren?“, frage ich. „Wenn ich mir mehr als fünfzig Prozent ausdenke, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim größeren Teil dabei bin, natürlich größer.“
Die neuen Biere sind da. Wir trinken.
„Ja, das denke ich auch. Es sind ja mehr“, steuert Joe bei.
„Die Frage ist, warum“, sagt Karl.
„Na, weil’s mehr sind. Ach, Karl, es ist verdammt spät.“
„Nein“, sagt Karl. „Die Wahrscheinlichkeit ist größer, weil du dabei bist. Ob du’s glaubst oder nicht: Die erwartete Größe einer Gruppe verändert sich abhängig davon, ob du Mitglied bist.“
Ich blicke auf die Gläser im Regal hinter der Theke. Ich will nirgendwo Mitglied sein.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Felix Kucher: Alles. Aufputschen, beruhigen, Trost spenden, Wut schüren, Mitgefühl erzeugen (phobos kai eleos!) reinigen, beschmutzen, versöhnen, entzweien, aufheitern, betrüben, einschläfern, aufwecken. Ad infinitum.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
FK: So viele verschiedene: Es gibt Cafés wie das Theatercafé in Klagenfurt, wo man an einem Nachmittag unter der Woche der einzige Gast ist. Aus den Lautsprechern schmettert Alfredo Kraus Di quella pira, man versteckt sich vor niemandem hinter einer Großformatzeitung oder sieht einfach nur aus dem Fenster, vorbei an den uralten Sansevierien, die wie Lanzenspitzen die Außenwelt abwehren.
Und es gibt Cafés wie das Jelinek, wo ich mich mit meinem alten Freund Edi zwischen voll besetzten Tischen auf ein Bier und ein Schinkenbrot treffe, wir sofort in das Gespräch des Nebentisches involviert sind und viel später als geplant die Otto-Bauer-Gasse hinaufwanken.

Wo fühlst du dich zu Hause?
FK: Überall, wo ich Freunde und Bekannte habe und treffe.

 

BIO

Geboren am 23. 10. 1965 in Klagenfurt, Kärnten. Studium der Klassischen Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Arbeitet bei der Bildungsdirektion für Kärnten. Lebt in Klagenfurt und Wien.
Publikationen: Malcontenta. Roman, 2016. Kamnik. Roman, 2018. Sie haben mich nicht gekriegt. Roman, 2021. Vegetarianer. Roman, 2022. (alle: Picus Verlag, Wien). Daneben zahlreiche Beiträge (Kurzgeschichten, Lyrik) in Anthologien und für den ORF (Ö1). Zuletzt: Schnitt (Kurzgeschichte), gesendet auf Ö1 in „Radiogeschichten“ am 29.05.2022.

Theodora Bauer | Café Museum, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Theodora Bauer

 

Das Café Museum. Repräsentation, Repräsentation, Repräsentation. Obwohl mittlerweile Teil der großen Landtmann-Kette, strahlt es für mich nach wie vor den Charme eines edlen, kleinen Wiener Cafés mit der einer solchen Institution eigenen Würde aus. Ich – das muss ich gestehen – bin keine große Kaffehaus-Gängerin. Ich arbeite am liebsten zu Hause in Jogginganzug oder Pyjama, mit einer Tasse Kaffee, aus dem eigenen Vollautomaten frisch heruntergerumpelt, mit zerknittertem Gesichtsausdruck und bedenklicher Haltung auf meinem Schreibtischstuhl. Ins Café Museum gehe ich also nicht zum Schreiben, sondern zu geschäftlichen Treffen – was ja durchaus auch ein mir sehr angenehmer Teil meiner Arbeit ist. Das hier ist das Café, das ich vorschlage, wenn jemand noch nie in einem Wiener Kaffeehaus war und unbedingt ein „echtes“ sehen möchte; wenn jemand ein Interview mit mir führen oder man zukünftige gemeinsame Projekte besprechen will. Die Atmosphäre ist repräsentativ, aber nicht bieder; das Café strahlt Ruhe und eine gewisse unterschwellige Betriebsamkeit gleichzeitig aus. Es wirkt eingewohnt und trotzdem nicht ranzig. Gemütlich und dennoch edel. Ein Ort, der Anonymität und Öffentlichkeit gleichermaßen bietet. Schlicht: Ein durch und durch Wienerisches Café, das ich immer wieder gerne besuche.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Theodora Bauer: Eine große Frage mit einer Antwort, die die Grenzen dieses Interviews sprengen würde.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
TB: Cafés sind für mich schöne Optionen – wenn jemand nicht zu Hause arbeiten kann oder will, gibt es immer die Möglichkeit, ein Wohnzimmer außerhalb der eigenen vier Wände aufzusuchen und dort auch zu verweilen. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass das in einer Großstadt wie Wien noch möglich ist.

Wo fühlst du dich zu Hause?
TB: In Wien und im Burgenland.

 

BIO

Geboren in Wien, aufgewachsen im Burgenland. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und der Philosophie. Schreibt Romane („Das Fell der Tante Meri“, „Chikago“), Theaterstücke und Kurzprosa. Seit 2018 moderiert sie die Literatursendung „literaTOUR“ auf ServusTV.
Nähere Infos auf www.theodorabauer.at

Maria Sterkl | Café Schopenhauer, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Maria Sterkl

 

Montag

Sie trugen Anzughosen mit Bundfalten und bügelfreie Hemden, niemals sah man sie in Jeans. Im Sommer wischten sie sich den Schweiß von der Stirn, im Winter saßen sie in dicken Jacken im gut beheizten Raum. Fünf, sechs, sieben Männer saßen rund um den kleinen Spieltisch, an dem zwei in ihr Brettspiel vertieft waren. Backgammon. Trictrac. Puff. Scheschbesch. Sie kamen aus Ägypten, sagten sie, als ich sie fragte. Kopten seien sie, sagten sie mir ungefragt. Seit dem elften September musste man als nicht weißer Mann in Wien den Verdacht, in den Islam geboren zu sein, unentwegt aus dem Weg räumen. Jeden Montag spielten sie im Cafe. Wer nicht am Zug war, analysierte. Wer nicht rauchte, gab Feuer. Sie tranken Tee, ich sah ihnen zu. Ich fragte mich, wo ihre Frauen waren. Sie fragten nicht, wer ich war, ich wusste nicht, wie sie hießen. Wir ließen einander in Frieden. So sagte man damals.

Irgendwann kamen sie montags nicht mehr. Ich suchte sie in allen Cafes im Bezirk, ich fand sie nicht. Ich suchte in anderen Vierteln, Bezirken, ging bis zum Stadtrand und darüber hinaus. Ich suchte in der Wüste, im Meer, in den Trümmern verlassener Häuser. Ich suche sie immer noch, nur an den Montagen halte ich inne. Dann frage ich sie um Rat. Sie würfeln, seufzen, machen ihre Züge. Und lassen mich in Frieden.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Maria Sterkl: Literatur kann trösten, verstören, aufrütteln, beruhigen, entfremden, ein Zuhause bieten. Literatur kann Mächtige gefährden, aber auch von Mächtigen missbraucht werden. Literatur ist kein Wert an sich, aber ich übertreibe nicht wenn ich sage, dass Literatur mir das Leben gerettet hat.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Draußen zuhause sein. Der Raum ist dabei wichtiger als der gute Kaffee und das gute Service, darum mag ich alte Wiener Kaffeehäuser gerne.

Warum hast du Café Schopenhauer ausgewählt?
MS: Vor allem wegen schöner Erinnerungen. Ich war hier in einer Phase meines Lebens sehr gerne und oft, vor allem allein und schreibend. Ich mochte die Stille, das Düstere, die dunklen Bezüge, die alten Männer mit ihren Brettspielrunden. Außerdem gab es damals einen sehr freundlichen Kellner, der zu den verschiedenen Zeitungen im Café seine Einschätzung abgab. Als ich einmal zur Kronen Zeitung griff, sagte er: “Die muss man nicht aufschlagen, um zu wissen, was drin steht.”

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MS: Nachts schlafe ich meistens. Tagsüber verzweifle ich gerne.

 

BIO

Maria Sterkl, lebt in Jerusalem und Haifa. Geboren 1978 in Krems/Donau, Österreich. Studium der Handelswissenschaften in Wien, Sönderborg und Parma. Derzeit Korrespondentin für Israel und Palästina für den STANDARD, regelmäßige Berichterstattung auch in der Frankfurter Rundschau, der Badischen Zeitung und den Blättern der Funke Mediengruppe Berlin. Literarische Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften, zuletzt nominiert für die Floriana 2022.

Sophia Lunra Schnack | Kaffee Monarchie, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Sophia Lunra Schnack

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Sophia Lunra Schnack: Öffnen und bremsen. Gedankengänge, Emotionen, Überzeugungen in Bewegung setzen. Gerade junge Menschen können sich sozusagen Lebenserfahrung, Reflexionsfähigkeit und sinnliche Bereitschaft anlesen. Literatur kann Zeitabläufe bremsen, sich gegen ein durchgetaktetes Dasein positionieren. Und gegenüber der gegenwärtig zunehmenden Automatisierung und Anonymisierung würde ich sagen, dass Literatur den Menschen, das Menschliche bewahren kann.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SLS: Wenn mir zuhause Stille zum Arbeiten zu radikal wird, wechsle ich in ein Kaffeehaus. Es muss aber die richtige Mischung aus sanftem Stimmenrauschen und Rückzug geben. Da gibt es einige Stammcafés, von denen ich weiß, da geht es, da habe ich eine Ecke, mein Schneckenhaus, aus dem ich aber jederzeit herauskriechen kann um Kontakt aufzunehmen. Ich liebe diese ungezwungene Art, mit unbekannten Personen ins Gespräch kommen zu können, aber nicht zu müssen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SLS: Zu Hause sein hat für mich immer mit Sprache zu tun. Lange Zeit habe ich mich in der französischen Sprache zuhause gefühlt, hatte mit meiner Muttersprache Probleme. Da war es auch sehr naheliegend für mich, in Frankreich zu leben. Das Fluchtverhalten vor meiner Muttersprache habe ich mittlerweile überwunden, jetzt habe ich einen sprachlichen Haupt- und Zweitwohnsitz. Ich könnte mir jedenfalls nicht vorstellen in einem Land zu leben, in dessen Klänge ich nicht einfließen kann.

 

BIO

Sophia Lunra Schnack (*1990) lebt und schreibt derzeit überwiegend in Wien. Sie verfasst Lyrik und (lyrische) Prosa in diversen namhaften Literaturzeitschriften, u.a. in den manuskripten, der Poesiegalerie oder Das Gedicht.
2022 erhält sie den rotahorn-Förderpreis und seit 2023 leitet sie einen Lyrikblog für Das Gedicht. Im August 2023 erscheint ihr Debütroman „feuchtes holz“ (Otto Müller).
Derzeit arbeitet sie an ihrer Kurprosasammlung „Fliederkuss“ sowie an einem zweisprachigen Lyrikband „wimpern piniengrün – cils vert de pins“.

Marcus Fischer | Café Weidinger, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Marcus Fischer

 

Das Café Weidinger

Du bist wie ein alter Herr in elegantem, seit Jahrzehnten getragenem, abgestoßenem und zerschlissenem Gewand, der nichts von seiner Würde verloren hat. Die Jungen bewundern deinen Stil. Ich auch, und die Ruhe, die du ausstrahlst. Und die schrulligen, liebenswerten Gestalten, die dich umgeben.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Marcus Fischer: Literatur kann uns die Menschen von innen zeigen. Wir erleben Figuren in ihren Ängsten, ihrer Scham, ihrem Neid, ihrer Liebe, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. Diese Innensicht liefert Literatur besser als jedes andere Medium.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MF: Es fällt mir oft leichter, mich abzuschotten und zu konzentrieren, wenn um mich herum ein gleichmäßiges, wellenartiges Treiben herrscht. Cafés sind dafür der perfekte Ort. Ich setz mir dann Kopfhörer auf, höre oft stundenlang ein und dasselbe Lied und tauche in meine Geschichte ein.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MF: Einfache Antwort: in meinen Texten, egal wo ich sie schreibe. Und in der Natur, unter vertrauten Menschen und an liebgewonnenen, inspirierenden Orten – wie dem Kaffeehaus.

 

BIO

Geboren 1965 in Wien, Studium der Germanistik in Berlin, schreibt Prosa und Lyrik. Nach dem Studium Arbeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und als Texter in Werbeagenturen in Berlin und Wien. Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Radio. Sein 2022 erschienener Roman „Die Rotte“ (Leykam Verlag) wurde mit dem Rauriser Literaturpreis 2023 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet.

 

Maria Seisenbacher | Café Ritter Ottakring, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Maria Seisenbacher


ich bezeuge […]

Schnee erreicht uns nur
an weit verzweigten Orten
im streitbaren Stimmen
so lange nicht
so lang

Schlaf findet
ferner verweilt er
ineinander nicht gesehen
der Wahrscheinlichkeit
so lange nicht
so lang

Kristalle beschirmen kleine Narben
nur einmal fiel Rachen
Husten, überschüssig Luft in
Nichts
so lange nicht
so lang

ich weiß:
Finger bilden Leber –
Weichtier vereinzelt ohne Arm
ich weiß: nichts
vom Abbild zielbarer Geschichten
so lange nicht
so lang

entfache wahllos Ränder, Wellen
Flächen oder Kiesel
danach bezeuge ich
vor meiner Haut:
ichhabmichlangenichtgesehen

so lange nicht
so lang
die Welt abdreht

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Maria Seisenbacher: Ein selbstgewählter Zufluchts-, Lern-, Erfahrungs- und Arbeitsort gefüllt und erfüllt mit körperlich-geistiger Leidenschaft.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Ein Zufluchtsort vor mir alleine arbeiten zu müssen. Im Café höre, sehe, lese und beobachte ich andere Menschen und mich.

Warum hast du das Café Ritter Ottakring ausgewählt?
MS: Aufgrund der Architektur, der Stille, des Standorts, der samtbezogenen Bänke mit Mehlspeisen im Kaffee.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MS: Vieles und Nichts und dann wieder gar nichts und viel Nichts.

 

BIO

Maria Seisenbacher, lebt und arbeitet als Lyrikerin und Übersetzerin in Leichte Sprache in Wien. Mag.a der Vergleichenden Literaturwissenschaften, Dipl. Sozialpädagogin. Einladungen zu internationalen Lyrikfestivals, Stipendien und Preise, zuletzt erschien der Gedichtband „Hecken sitzen“ im Limbus Verlag mit Drucken von Isabel Peterhans. www.mariaseisenbacher.com