Schlagwortarchiv für: Café viennois

Andreas Unterweger | Café König, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Andreas Unterweger

 

Ich versank in den Anblick zweier alter Damen, auf deren Tischlein, zwischen einer respektablen Anzahl von Tassen und Tellern, ein Bilderrahmen in der Größe eines Porträtfotos aufgestellt war. In diesem vergoldeten Rahmen, den ich nur von hinten sehen konnte, musste sich – das stand für mich schnell außer Frage – das Foto einer verstorbenen Freundin befinden. Sie mochte den beiden vorausgestorben sein, dachte ich, doch dank des Bildes war sie noch immer hier, immer noch unter ihnen, „unter uns“.
Mein Blick wanderte von den Damen zum Porträt Alfred Kolleritschs, das über meinem eigenen Tisch hing, wanderte hinüber zur Theke, wo die Parte von Heimo Steps platziert war (samt Foto, versteht sich), und mit dem Blick wanderten meine Gedanken: von der Macht der Bilder (wobei mir ein alter Buchtitel einfiel: Noch leuchten die Bilder) zu jener des Stammtischs. Man darf den Kaffeehaus-Stammtisch, die Nachfolge des rituellen Sitzkreises rund um die Feuerstelle, dachte ich, eben nicht unterschätzen. Am Ende, dachte ich, ist der Stammtisch, und mag es sich auch nur um ein -tischlein handeln, größer als der Tod.
Tröstlich, wie mir dieser Gedanke schien, wollte ich ihn sofort notieren und tastete im Rucksack nach meinem Notizbuch. Erst jetzt, kramend und dabei, wie ich gestehen muss, eine Träne aus dem Augenwinkel blinzelnd, bemerkte ich, dass auch auf dem Tisch neben jenem der beiden Damen, an dem ein ehemaliger Fußballspieler die Tagesaktualitäten aus der Zeitung pflückte, ein solcher Bilderrahmen stand. Und ein Tischlein weiter, wo niemand saß? Das Gleiche. Ja, selbst auf meinem eigenen Tisch, unmittelbar neben dem großen Wasserglas, das ich immer bestelle und nie austrinken kann, stand, mir den Rücken zuwendend, ein goldener Rahmen. Als ich ihn umdrehte, sah ich: kein Bild, sondern Wörter (und Zahlen). Die neue Speisekarte.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Andreas Unterweger: Unter den vielen Vorzügen der Literatur ist folgender wohl nicht der geringste: Sie kann einen guten Vorwand darstellen, um Kaffee zu trinken. Manche trinken beim Lesen Kaffee, manche beim Zuhören, viele beim Schreiben. Balzac zum Beispiel soll täglich bis zu 50 Tassen getrunken haben. Es heißt, er habe all den Kaffee trinken müssen, um seine vielen Romane schreiben zu können. Mich aber lässt der Verdacht nicht los, dass es in Wirklichkeit genau andersherum war. Ich glaube, er hat nur deshalb so viel geschrieben, damit er so viel Kaffee trinken konnte.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AU: Meist gehe ich ins Café, um dort zu schreiben. Aber vielleicht ist es wie bei Balzac, und ich schreibe nur, um einen guten Grund zu haben, ins Café zu gehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AU: Das ist mein Kaffee.

 

BIO

Andreas Unterweger ist Schriftsteller und Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte.
Seine bislang sechs Bücher sind im Literaturverlag Droschl erschienen, zuletzt der Roman So long, Annemarie (2022), der in Nantes spielt. Seine Prosa und Lyrik wurden in mehrere Sprachen übersetzt, etwa Le livre jaune (übersetzt von Laurent Cassagnau, Lanskine, Paris 2019). Er selbst übersetzt hauptsächlich aus dem Französischen (Laure Gauthier, Guillaume Métayer, Fiston Mwanza Mujila …).
Unterweger erhielt u.a. den manuskripte-Preis des Landes Steiermark 2016 und den Preis der Akademie Graz 2009. 2023 wurde er in das schreibART-Förderprogramm des österreichischen Außenministeriums aufgenommen.
www.andreasunterweger.at

Radka Denemarková | Café Trabant, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Radka Denemarková

 

Immer wenn ich in Wien bin, wohne ich in der Kulturdrogerie. Um die Ecke gibt es das Café Trabant. Im Frühling habe ich dort Alain Barbero getroffen. Mein Spitzname ist „Schwalbe von Prag“ und in diesem Café habe ich mein „Schwalbennest“ gefunden.

Das Café ist eine Art von Zuhause, das das Profil der Umgebung respektiert und mit Gefühl kultiviert. Es bedeutet, die Menschen tief zu verstehen, dort, wo die Stadt und die Straße ihren besonderen Charakter, ihre einzigartige Atmosphäre, ihren Stil und Kultur haben. Da ist das menschliche Leben nicht auf das Stereotyp von Produktion und Konsum reduziert.

Im Café Trabant haben wir uns mit Alain entschieden: Etwas unternehmen können wir alle und jetzt und hier. Niemand wird das für uns tun und auf niemanden können wir warten. Man soll – unter verhältnismäßig schwierigen Bedingungen – unabhängiges und nicht manipulierbares Leben wieder aufzuleben. Und nur eine solche Orientierung kann offensichtlich zu einer Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen führen, in der der Mensch wieder konkrete menschliche Person ist.

Diese Momente im ruhigen Wiener Café waren einfach eine Manifestation des Lebens. Gegenüber der Welt des Scheins und der Interpretation steht hier plötzlich die Wahrheit – die Wahrheit der Menschen, die auf ihre Weise leben wollen. In diesem Kontext erscheint mir das Café als eine solche elementare und spontane Manifestation dieses Lebensgefühls gegen jede Art der Manipulation. Welchen Sinn hat dieses Leben in dieser Zeit? Niemand entwickelt sich im luftleeren Raum. Die Zeit, in der der Mensch aufwächst und reift, beeinflusst immer sein Denken. Es geht eher darum, auf welche Weise sich der Mensch beeinflussen lässt, ob auf gute oder schlechte Weise. Die Hoffnung haben wir entweder in uns oder wir haben sie nicht. Danke, Alain. Vive la liberté!

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Radka Denemarková: Die Literatur ist die Gesamtheit aller Formen der Kunst, der Liebe, der Freundschaft und des Denkens, die dem Menschen erlauben, weniger Sklave zu sein. Die Literatur so wahrzunehmen, ist die reinste Form der Liebe.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RD: Die westliche und östliche Welt, obwohl sie sich in vieler Hinsicht unterscheiden, machen eine einzige und gemeinsame Krise durch. In Cafés kann man mit den Überlegungen zu einer besseren Alternative der Welt beginnen.  Man versucht auch einige grundlegende Themen der Zeit tiefer zu erfassen und wirklich zu artikulieren, es ist nicht nur ein Aufschrei der Authentizität, sondern der Versuch einer Analyse. Radka und Alain. Zwei Menschen am Tisch.

Wo fühlst du dich zu Hause?
RD: In Prag. Auf der Insel Amrum.

 

BIO

Geboren 1968, lebt in Prag. Schreibt Prosa, Essays, Theaterstücke, übersetzt aus dem Deutschen ins Tschechische (u.a. Bertolt Brecht, Thomas Bernhard, Herta Müller: Atemschaukel). Letzte Veröffentlichung: Stunden aus Blei (2022) erscheint im Hoffmann und Campe Verlag). Für den Roman Ein herrlicher Flecken Erde (DVA, 2009) erhielt sie u. a. den 2012 Berliner Georg-Dehio Buchpreis und wurde 2017 zum schwedischen International Writers´ Stage at Kulturhuset Stadsteatern (short-list) nominiert. Für den Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude erhielt sie u.a. in der Schweiz Spycher Literaturpreis Leuk 2019. Für den Roman Stunden aus Blei erhielt sie den Brücke- Berlin Literaturpreis 2022 und österreichischen Literaturpreis des Landes Steiermark. 2007, 2009, 2011, 2019 erhielt sie den höchsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera. Grazer Stadtschreiberin 2017/2018. Auf Einladung des IWM weilte sie 2023 in Wien.

 

Felix Kucher | Theatercafe Cho-Cho-San, Klagenfurt

Foto: Alain Barbero | Text: Felix Kucher

 

Wieder ist es zwei Uhr früh, wieder sind wir die letzten Thekensteher und meditieren unsere leeren Biergläser. Nur Joe tut noch immer so, als läse er die FAZ, die vor ihm auf der Theke liegt. Karl hat mich gerade gebeten, mir einen beliebig großen Teil der Bevölkerung Klagenfurts auszudenken. Nach dem dritten Bier kommt bei ihm der ehemalige Lehrer raus. Die Stadt hat etwa hunderttausend Einwohner.
„Und es ist völlig egal, wie groß“, frage ich. „Von eins bis neunundneunzigtausend.“
Georg rechts neben mir brummseufzt.
„Völlig egal“, sagt Karl. „Vroni, noch eine Runde.“
„Die ganze Bevölkerung sind hundert Prozent, logisch“, sagt Karl überflüssigerweise.
„Habe mir eine Zahl ausgedacht“, sage ich.

Karl hebt den Zeigefinger. „Nicht sagen. Pass auf: Ich verschicke an deine Auserwählten jetzt Briefe, in denen sich eine weiße Postkarte befindet. Alle anderen bekommen eine schwarze.“
Ich sollte nachhause gehen. Jetzt.
„Ich frage dich jetzt: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du als Bewohner dieser Stadt bei der größeren Gruppe dabei bist?“
Er schaut abwechselnd zu Georg und mir. Ich stelle mir Menschen vor, die leere weiße und schwarze Karten bekommen, auf denen nichts steht.
„Wie soll man wissen,  ob man bei der größeren dabei ist oder bei der kleineren?“, frage ich. „Wenn ich mir mehr als fünfzig Prozent ausdenke, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim größeren Teil dabei bin, natürlich größer.“
Die neuen Biere sind da. Wir trinken.
„Ja, das denke ich auch. Es sind ja mehr“, steuert Joe bei.
„Die Frage ist, warum“, sagt Karl.
„Na, weil’s mehr sind. Ach, Karl, es ist verdammt spät.“
„Nein“, sagt Karl. „Die Wahrscheinlichkeit ist größer, weil du dabei bist. Ob du’s glaubst oder nicht: Die erwartete Größe einer Gruppe verändert sich abhängig davon, ob du Mitglied bist.“
Ich blicke auf die Gläser im Regal hinter der Theke. Ich will nirgendwo Mitglied sein.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Felix Kucher: Alles. Aufputschen, beruhigen, Trost spenden, Wut schüren, Mitgefühl erzeugen (phobos kai eleos!) reinigen, beschmutzen, versöhnen, entzweien, aufheitern, betrüben, einschläfern, aufwecken. Ad infinitum.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
FK: So viele verschiedene: Es gibt Cafés wie das Theatercafé in Klagenfurt, wo man an einem Nachmittag unter der Woche der einzige Gast ist. Aus den Lautsprechern schmettert Alfredo Kraus Di quella pira, man versteckt sich vor niemandem hinter einer Großformatzeitung oder sieht einfach nur aus dem Fenster, vorbei an den uralten Sansevierien, die wie Lanzenspitzen die Außenwelt abwehren.
Und es gibt Cafés wie das Jelinek, wo ich mich mit meinem alten Freund Edi zwischen voll besetzten Tischen auf ein Bier und ein Schinkenbrot treffe, wir sofort in das Gespräch des Nebentisches involviert sind und viel später als geplant die Otto-Bauer-Gasse hinaufwanken.

Wo fühlst du dich zu Hause?
FK: Überall, wo ich Freunde und Bekannte habe und treffe.

 

BIO

Geboren am 23. 10. 1965 in Klagenfurt, Kärnten. Studium der Klassischen Philologie, Theologie und Philosophie in Graz, Bologna und Klagenfurt. Arbeitet bei der Bildungsdirektion für Kärnten. Lebt in Klagenfurt und Wien.
Publikationen: Malcontenta. Roman, 2016. Kamnik. Roman, 2018. Sie haben mich nicht gekriegt. Roman, 2021. Vegetarianer. Roman, 2022. (alle: Picus Verlag, Wien). Daneben zahlreiche Beiträge (Kurzgeschichten, Lyrik) in Anthologien und für den ORF (Ö1). Zuletzt: Schnitt (Kurzgeschichte), gesendet auf Ö1 in „Radiogeschichten“ am 29.05.2022.

Theodora Bauer | Café Museum, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Theodora Bauer

 

Das Café Museum. Repräsentation, Repräsentation, Repräsentation. Obwohl mittlerweile Teil der großen Landtmann-Kette, strahlt es für mich nach wie vor den Charme eines edlen, kleinen Wiener Cafés mit der einer solchen Institution eigenen Würde aus. Ich – das muss ich gestehen – bin keine große Kaffehaus-Gängerin. Ich arbeite am liebsten zu Hause in Jogginganzug oder Pyjama, mit einer Tasse Kaffee, aus dem eigenen Vollautomaten frisch heruntergerumpelt, mit zerknittertem Gesichtsausdruck und bedenklicher Haltung auf meinem Schreibtischstuhl. Ins Café Museum gehe ich also nicht zum Schreiben, sondern zu geschäftlichen Treffen – was ja durchaus auch ein mir sehr angenehmer Teil meiner Arbeit ist. Das hier ist das Café, das ich vorschlage, wenn jemand noch nie in einem Wiener Kaffeehaus war und unbedingt ein „echtes“ sehen möchte; wenn jemand ein Interview mit mir führen oder man zukünftige gemeinsame Projekte besprechen will. Die Atmosphäre ist repräsentativ, aber nicht bieder; das Café strahlt Ruhe und eine gewisse unterschwellige Betriebsamkeit gleichzeitig aus. Es wirkt eingewohnt und trotzdem nicht ranzig. Gemütlich und dennoch edel. Ein Ort, der Anonymität und Öffentlichkeit gleichermaßen bietet. Schlicht: Ein durch und durch Wienerisches Café, das ich immer wieder gerne besuche.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Theodora Bauer: Eine große Frage mit einer Antwort, die die Grenzen dieses Interviews sprengen würde.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
TB: Cafés sind für mich schöne Optionen – wenn jemand nicht zu Hause arbeiten kann oder will, gibt es immer die Möglichkeit, ein Wohnzimmer außerhalb der eigenen vier Wände aufzusuchen und dort auch zu verweilen. Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass das in einer Großstadt wie Wien noch möglich ist.

Wo fühlst du dich zu Hause?
TB: In Wien und im Burgenland.

 

BIO

Geboren in Wien, aufgewachsen im Burgenland. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und der Philosophie. Schreibt Romane („Das Fell der Tante Meri“, „Chikago“), Theaterstücke und Kurzprosa. Seit 2018 moderiert sie die Literatursendung „literaTOUR“ auf ServusTV.
Nähere Infos auf www.theodorabauer.at

Maria Sterkl | Café Schopenhauer, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Maria Sterkl

 

Montag

Sie trugen Anzughosen mit Bundfalten und bügelfreie Hemden, niemals sah man sie in Jeans. Im Sommer wischten sie sich den Schweiß von der Stirn, im Winter saßen sie in dicken Jacken im gut beheizten Raum. Fünf, sechs, sieben Männer saßen rund um den kleinen Spieltisch, an dem zwei in ihr Brettspiel vertieft waren. Backgammon. Trictrac. Puff. Scheschbesch. Sie kamen aus Ägypten, sagten sie, als ich sie fragte. Kopten seien sie, sagten sie mir ungefragt. Seit dem elften September musste man als nicht weißer Mann in Wien den Verdacht, in den Islam geboren zu sein, unentwegt aus dem Weg räumen. Jeden Montag spielten sie im Cafe. Wer nicht am Zug war, analysierte. Wer nicht rauchte, gab Feuer. Sie tranken Tee, ich sah ihnen zu. Ich fragte mich, wo ihre Frauen waren. Sie fragten nicht, wer ich war, ich wusste nicht, wie sie hießen. Wir ließen einander in Frieden. So sagte man damals.

Irgendwann kamen sie montags nicht mehr. Ich suchte sie in allen Cafes im Bezirk, ich fand sie nicht. Ich suchte in anderen Vierteln, Bezirken, ging bis zum Stadtrand und darüber hinaus. Ich suchte in der Wüste, im Meer, in den Trümmern verlassener Häuser. Ich suche sie immer noch, nur an den Montagen halte ich inne. Dann frage ich sie um Rat. Sie würfeln, seufzen, machen ihre Züge. Und lassen mich in Frieden.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Maria Sterkl: Literatur kann trösten, verstören, aufrütteln, beruhigen, entfremden, ein Zuhause bieten. Literatur kann Mächtige gefährden, aber auch von Mächtigen missbraucht werden. Literatur ist kein Wert an sich, aber ich übertreibe nicht wenn ich sage, dass Literatur mir das Leben gerettet hat.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Draußen zuhause sein. Der Raum ist dabei wichtiger als der gute Kaffee und das gute Service, darum mag ich alte Wiener Kaffeehäuser gerne.

Warum hast du Café Schopenhauer ausgewählt?
MS: Vor allem wegen schöner Erinnerungen. Ich war hier in einer Phase meines Lebens sehr gerne und oft, vor allem allein und schreibend. Ich mochte die Stille, das Düstere, die dunklen Bezüge, die alten Männer mit ihren Brettspielrunden. Außerdem gab es damals einen sehr freundlichen Kellner, der zu den verschiedenen Zeitungen im Café seine Einschätzung abgab. Als ich einmal zur Kronen Zeitung griff, sagte er: “Die muss man nicht aufschlagen, um zu wissen, was drin steht.”

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MS: Nachts schlafe ich meistens. Tagsüber verzweifle ich gerne.

 

BIO

Maria Sterkl, lebt in Jerusalem und Haifa. Geboren 1978 in Krems/Donau, Österreich. Studium der Handelswissenschaften in Wien, Sönderborg und Parma. Derzeit Korrespondentin für Israel und Palästina für den STANDARD, regelmäßige Berichterstattung auch in der Frankfurter Rundschau, der Badischen Zeitung und den Blättern der Funke Mediengruppe Berlin. Literarische Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften, zuletzt nominiert für die Floriana 2022.

Sophia Lunra Schnack | Kaffee Monarchie, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Sophia Lunra Schnack

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Sophia Lunra Schnack: Öffnen und bremsen. Gedankengänge, Emotionen, Überzeugungen in Bewegung setzen. Gerade junge Menschen können sich sozusagen Lebenserfahrung, Reflexionsfähigkeit und sinnliche Bereitschaft anlesen. Literatur kann Zeitabläufe bremsen, sich gegen ein durchgetaktetes Dasein positionieren. Und gegenüber der gegenwärtig zunehmenden Automatisierung und Anonymisierung würde ich sagen, dass Literatur den Menschen, das Menschliche bewahren kann.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SLS: Wenn mir zuhause Stille zum Arbeiten zu radikal wird, wechsle ich in ein Kaffeehaus. Es muss aber die richtige Mischung aus sanftem Stimmenrauschen und Rückzug geben. Da gibt es einige Stammcafés, von denen ich weiß, da geht es, da habe ich eine Ecke, mein Schneckenhaus, aus dem ich aber jederzeit herauskriechen kann um Kontakt aufzunehmen. Ich liebe diese ungezwungene Art, mit unbekannten Personen ins Gespräch kommen zu können, aber nicht zu müssen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SLS: Zu Hause sein hat für mich immer mit Sprache zu tun. Lange Zeit habe ich mich in der französischen Sprache zuhause gefühlt, hatte mit meiner Muttersprache Probleme. Da war es auch sehr naheliegend für mich, in Frankreich zu leben. Das Fluchtverhalten vor meiner Muttersprache habe ich mittlerweile überwunden, jetzt habe ich einen sprachlichen Haupt- und Zweitwohnsitz. Ich könnte mir jedenfalls nicht vorstellen in einem Land zu leben, in dessen Klänge ich nicht einfließen kann.

 

BIO

Sophia Lunra Schnack (*1990) lebt und schreibt derzeit überwiegend in Wien. Sie verfasst Lyrik und (lyrische) Prosa in diversen namhaften Literaturzeitschriften, u.a. in den manuskripten, der Poesiegalerie oder Das Gedicht.
2022 erhält sie den rotahorn-Förderpreis und seit 2023 leitet sie einen Lyrikblog für Das Gedicht. Im August 2023 erscheint ihr Debütroman „feuchtes holz“ (Otto Müller).
Derzeit arbeitet sie an ihrer Kurprosasammlung „Fliederkuss“ sowie an einem zweisprachigen Lyrikband „wimpern piniengrün – cils vert de pins“.

Marcus Fischer | Café Weidinger, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Marcus Fischer

 

Das Café Weidinger

Du bist wie ein alter Herr in elegantem, seit Jahrzehnten getragenem, abgestoßenem und zerschlissenem Gewand, der nichts von seiner Würde verloren hat. Die Jungen bewundern deinen Stil. Ich auch, und die Ruhe, die du ausstrahlst. Und die schrulligen, liebenswerten Gestalten, die dich umgeben.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Marcus Fischer: Literatur kann uns die Menschen von innen zeigen. Wir erleben Figuren in ihren Ängsten, ihrer Scham, ihrem Neid, ihrer Liebe, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. Diese Innensicht liefert Literatur besser als jedes andere Medium.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MF: Es fällt mir oft leichter, mich abzuschotten und zu konzentrieren, wenn um mich herum ein gleichmäßiges, wellenartiges Treiben herrscht. Cafés sind dafür der perfekte Ort. Ich setz mir dann Kopfhörer auf, höre oft stundenlang ein und dasselbe Lied und tauche in meine Geschichte ein.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MF: Einfache Antwort: in meinen Texten, egal wo ich sie schreibe. Und in der Natur, unter vertrauten Menschen und an liebgewonnenen, inspirierenden Orten – wie dem Kaffeehaus.

 

BIO

Geboren 1965 in Wien, Studium der Germanistik in Berlin, schreibt Prosa und Lyrik. Nach dem Studium Arbeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und als Texter in Werbeagenturen in Berlin und Wien. Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Radio. Sein 2022 erschienener Roman „Die Rotte“ (Leykam Verlag) wurde mit dem Rauriser Literaturpreis 2023 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet.

 

Maria Seisenbacher | Café Ritter Ottakring, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Maria Seisenbacher


ich bezeuge […]

Schnee erreicht uns nur
an weit verzweigten Orten
im streitbaren Stimmen
so lange nicht
so lang

Schlaf findet
ferner verweilt er
ineinander nicht gesehen
der Wahrscheinlichkeit
so lange nicht
so lang

Kristalle beschirmen kleine Narben
nur einmal fiel Rachen
Husten, überschüssig Luft in
Nichts
so lange nicht
so lang

ich weiß:
Finger bilden Leber –
Weichtier vereinzelt ohne Arm
ich weiß: nichts
vom Abbild zielbarer Geschichten
so lange nicht
so lang

entfache wahllos Ränder, Wellen
Flächen oder Kiesel
danach bezeuge ich
vor meiner Haut:
ichhabmichlangenichtgesehen

so lange nicht
so lang
die Welt abdreht

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Maria Seisenbacher: Ein selbstgewählter Zufluchts-, Lern-, Erfahrungs- und Arbeitsort gefüllt und erfüllt mit körperlich-geistiger Leidenschaft.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Ein Zufluchtsort vor mir alleine arbeiten zu müssen. Im Café höre, sehe, lese und beobachte ich andere Menschen und mich.

Warum hast du das Café Ritter Ottakring ausgewählt?
MS: Aufgrund der Architektur, der Stille, des Standorts, der samtbezogenen Bänke mit Mehlspeisen im Kaffee.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MS: Vieles und Nichts und dann wieder gar nichts und viel Nichts.

 

BIO

Maria Seisenbacher, lebt und arbeitet als Lyrikerin und Übersetzerin in Leichte Sprache in Wien. Mag.a der Vergleichenden Literaturwissenschaften, Dipl. Sozialpädagogin. Einladungen zu internationalen Lyrikfestivals, Stipendien und Preise, zuletzt erschien der Gedichtband „Hecken sitzen“ im Limbus Verlag mit Drucken von Isabel Peterhans. www.mariaseisenbacher.com

Andras Foldvari | Café Gerbeaud, Budapest

Foto: Alain Barbero | Text: Andras Foldvari | Übersetzung (aus dem Ungarischen): Christian Szabo & Daniela Gerlach

 

Ich war noch keine 21 Jahre alt, als ich eine Stelle in der Tourismusabteilung einer ungarischen Fluggesellschaft fand, welche damals ihren Sitz in einem Wohnblock im Herzen meiner Stadt hatte, ein Gebäude am Vörösmarty-Platz.
Es gab keinen Konferenzraum, also gingen wir, wenn wir ein Meeting abhalten mussten, in das wunderbare Café am Platz, berühmt für seine Kaffeemaschine aus Herend-Porzellan.
Wenn jemand nach mir fragte, sagte man ihm, Andràs wäre im „Konferenzraum“.
Die Zusammenkünfte hier waren viel erfolgreicher, als wenn sie in den grauen Räumen jenes Gebäudes abgehalten worden wären.

 

Original (Ungarisch)

Még 21 éves sem voltam amikor a magyar légitársaság idegenforgalmi osztályán kaptam állást, melynek akkori központja városom szívében egy lakóházból kialakított épületben volt a Vörösmarty téren.
Nem volt kialakított tárgyaló terem, így ha megbeszélést kellett tartani inkább a téren levő csodálatos – herendi porcelán kávéfőző gépéről híres – kávézóba mentünk. 
Ha bárki keresett csak azt mondták András a tárgyalóban van.
Sokkal sikeresebbek is voltak az itt folytatott tárgyalások mintha azokat az épület szürke szobáiban tartottuk volna.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Warum Reisen?
Andras Foldvari: Die Reise ist für mich eine Mission!
Sich in den Ländern fremder Kulturen zu bewegen, den Alltag der Leute, die dort leben, kennenzulernen, ist eine erfrischende Erfahrung für mich; hinter die Gardinen schauen, sich den versteckten Schätzen nähern, die sich in einem Museum oder im Regal einer Wohnung befinden.
Ich bin Städter. Ich lege mehr Wert auf die vom Menschen geschaffene Umgebung, auf die schönen Gebäude oder Kultstätten, als auf die Schönheit der Natur. Ob es sich nun um einen tibetischen Steinhügel oder eine monströse afrikanische Kathedrale handelt.
Reisen, das bedeutet immer etwas Neues zu entdecken, das einem wieder Energie für die neuen Erfahrungen schenkt.

Was bedeuten Cafés für dich?
AF: Die Cafés und Teehäuser sind heilige Stätten der urbanen Kultur. Zahlreiche Begebenheiten der ungarischen Geschichte fanden in Cafés statt, und zahlreiche Künstler haben in Cafés Meisterwerke kreiert. Laut einer Legende wurden die Schlüssel des New York Café in Pest von den Stammgästen in die Donau geworfen, damit es für das Schaffen von Meisterwerken immer geöffnet wäre.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AF: Ich bin ein bisschen Kosmopolit, vielleicht nicht so an mein Zuhause gebunden wie die meisten Leute.
Ich habe mein erstes Buch auf der Terrasse eines kleinen Bungalows auf den Salomon-Inseln begonnen. Die einzigartige Kulisse der Küste inspirierte meine urbanen Geschichten aus der damaligen Zeit.
Ich machte dann in einem Studio in Malaysia weiter und beendete sie im Schatten der Kathedrale von Málaga.

 

BIO

Andràs Foldvari wurde 1952 geboren. Bereits als Jugendlicher beginnt er zu reisen. Der Sprachliebhaber studiert Tourismus und Marketing, danach arbeitet er für vier verschiedene Fluggesellschaften und Tour Operator, was dazu führt, dass er fast 900 Flughäfen in 205 Städten der Welt besucht.
In seinem ersten Buch vereinigt er 80 seiner besten Reiseberichte, was ein Riesenerfolg in Ungarn wird. Der Verlag muss es fünfmal wiederauflegen. Sein zweites Buch ist weniger erfolgreich, aber noch immer beliebt.
Obwohl seit 2018 in Rente, entdeckt er auch weiterhin neue Orte, wie kürzlich Sainte-Hélène. So sammelt er Material, vielleicht für einen weiteren Band der Trilogie.

Regine Koth Afzelius | Intermezzo Bar, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Regine Koth Afzelius
 

Immer schon beides: gern nachgiebig, gern bestimmt. Gern königliche Pferdediebin, gern pferdestehlende Königin. Gern Kellertheater Pocky Pockberger, gern Burgtheater Ofczarek. Gern Heuriger Hengl-Haselbrunner Trio Lepschi, gern Musikverein Wiener Philharmoniker. Gern Cartoons Martin Perscheid, gern Malerei Franziska Maderthaner. Gern Texte Selma Heaney, Peter Hodina, gern Heimito von Doderer. Gern Helge Schneider, gern Lisa Eckhart.

Gern Katze, gern Hund! Gern Betrachten der Hühner – das gscheckte: grad rennts durchs Gehege im Schnabel den Wurm, erhobenen Hauptes, hinterdrein die anderen, und gleich drauf in umgekehrter Richtung das braune, denselben Wurm in der Reißn, verfolgt von gackerndem Geflatter.

Gern Heumarkt, gern Bar Intermezzo. Visavis voneinander. Ich parke dazwischen. In beiden daheim. Um beide stets bangend: beim einen droht Geldnot, beim anderen Abriss. Im einen weiß man Persönliches, im anderen meinen Cocktailwunsch. Im Heumarkt sitz ich auf dem schwarzen Klebestreifen einer ermüdeten roten Kunstlederbank, verklärt vom Surren der Mehlspeisvitrine und vom geliebten schrägen Brüderpaar, im Intermezzo versinke ich in wohnzimmerlicher Poltrona, verklärt vom internationalen Pathos und dem schönsten Luster der Welt. Erst essen im einen, dann enden im anderen. Amen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Regine Koth Afzelius: Sprachkunst. Fesseln muss ein Text, überraschen und entführen. Im eigenen Schreiben suche ich nach Ventil und Portal zur Bewältigung von Realität. Will alles loswerden an möglichst viele – aber nicht zu deren Betroffenheit, sondern zur unterhaltsamen Erkenntnis. Wie hochtrabend! So what. Und dafür Lob und Anerkennung. Ha.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RKA: Ich lebe auf dem Land – und pflege Stadtfreundschaften. Dazu bedarf es Cafés als Raum für Austausch. Nur in den beiden vorhin genannten nonchalanten finde ich die Atmosphäre für Gespräche, wie ich sie mag: konzentriert, nährend, intim.

Warum hast du die Bar Intermezzo ausgewählt?
RKA: Dieser Luxushauch!

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
RKA: Aufstehn! Hendl aus dem Stall! Samt Kaffee zurück ins Bett, WhatsAppen mit der Welt. Dann Schreiben am neuen Roman. Nachmittags Entfernen morscher Föhren und Birken mit der Motorsäge. Oder Waldgang. Wenn Gedanken drängen: nochmals schreiben. Zur blauen Stunde Dahinschmelzen im Sofa, als Abspann des Tages schwindender Fernblick hinaus aufs Federvieh, bis es Zeit für den Abendfilm.

 

BIO

Geboren 1962 in Wien. Studierte Architekturen an der Arkitektskolen Aarhus | Dänemark und an der Universität für angewandte Kunst Wien. 1997 Architekturdiplom. Seit 2008 Landleben. Webdesignerin. Bildende Künstlerin. Autorin. Arbeit am vierten Roman.