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Guillaume Métayer | Le Select Montparnasse, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Guillaume Métayer | Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Unterweger

 

Im Café Select

Ich sitze auf der Terrasse des Sélect, und es ist spät, sehr spät, als ich glaube zu sehen, dass eine kleine Nähmaschine auf dem Boden vorbeifährt. Ganz rund ist sie und winzig, nicht größer als der Bizeps eines kleinen Großmauls. Der Muskel bewegt sich, als ob nichts dabei wäre, im gleichmäßigen Rhythmus eines Reißverschlusses, eines Elektroautos, ohne je davon abzuweichen. Diese Gleichmäßigkeit ist seine Zauberformel für Unsichtbarkeit. Seine Vogel-Strauß-Politik. Ab und zu stoppt der Zipp, um dann ganz plötzlich wieder, aber ohne Ruck, weiterzufahren. Diese aufmerksame Schneiderin flickt da im Stillen, ganz auf ihre Arbeit konzentriert, etwas unter den Tischen, repariert ein Stück Welt im Hintergrund. Die Maschine erstarrt, fährt wieder los, wie ein Spielzeugauto, das sich selbst aufzieht. Sie erscheint ebenso erratisch wie regelmäßig, als ob der Mechanismus verrückt spielte. Andererseits wirkt sie alles andere als kaputt. Im Gegenteil, sie ist völlig glatt, von einem perfekten Hellgrau, ohne Muster. Von ihrem aufmerksamen, pünktlichen Hin-und-her geht eine Atmosphäre der Ruhe und Gelassenheit aus. Ich stelle mir vor, dass sie – indem sie immer eines nach dem anderen ansteuert: Stuhlbein nach Stuhlbein, dann die Körner des Langustenrisottos, das zur Kippe verkohlte Pommes, einen Krümel Brot –, etwas auf den Boden zeichnet, etwas, das nur von oben sichtbar ist. Sie erledigt die Arbeit einer unauffälligen Müllsammlerin wie ein automatisierter Staubsauger, und ich bin stolz darauf, diese Mischung aus Roboter und Klabauter wahrgenommen zu haben. Paris ist noch voll von diesen Kleinereignissen, diesen kleinen Wundern, Skandälchen, für die man wie eine müde Katze nur halb die Augen öffnet. Schon heute Morgen war ich da, in meinem Lieblingscafé: als der Angorakater des Besitzers, ein pensionierter Jäger, über die Bar-Relings von Tisch zu Tisch strolchte. Dieser Oger lungert zu dieser Stunde wohl irgendwo weiter oben herum, in einem der himmlischen Stockwerke dieses Feen-, dieses Kaffeehauses. Keinerlei Aufmerksamkeit schenkt er der potenziellen Beute hier, dem kleinen Däumling, der von Brösel zu Brösel segelt, um einen Großen Bären darzustellen, dessen schlaftrunkenem Faden ich zu folgen versuche, ohne daran zu glauben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Guillaume Métayer: Alles, und zwar mehrfach. Sie kann die Welt erschaffen und wieder erschaffen, ohne Unterlass. Aber all das geschieht im Plural und im Konjunktiv, und das macht es erträglich.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
GM: Sie flößen mir ein bisschen Angst ein, wie Treibsand: die Angst, nicht mehr zu wissen, wo man zu Hause ist. Daher besuche ich sie nicht so häufig, wie ich wohl sollte. Natürlich trinke ich Kaffee mit Freunden und Kollegen, aber es ist nicht wirklich meine Gewohnheit, im Café zu arbeiten. Ich mag das Select, weil sein zeitloser Chic wie eine Nicht-Zeit wirkt, die Freundlichkeit seiner Kellner und die Abwesenheit von Musik wie ein Nicht-Ort. Ich fühle mich beschützt von dieser Zeitlosigkeit.

Wo fühlst du dich zu Hause?
GM: In gewissen Métro-Zügen, zu gewissen Jahreszeiten. Ich sitze und warte, bis die Bahn aus dem Untergrund steigt und wieder über der Seine schwebt, vorbei an den Haussmann’schen Balkonen… Dann drehe ich den Kopf, genau in jenem Moment, in dem in der Zahnlücke zwischen zwei Gebäuden der Taj Mahal des Montmartre als Silhouette auftaucht. Das billige Parfum, das in der Luft liegt, erinnert mich an die Sonntage meiner Jugend. In solchen Momenten gibt es nichts Komfortableres als einen Klappsitz.

 

BIO

Guillaume Métayer ist Lyriker, Übersetzer und Literaturhistoriker. Sein letzter Gedichtband, „Mains positives“, ist eben bei Rumeur libre éditions (2024) erschienen. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er selbst überträgt zahlreiche mitteleuropäische Stimmen ins Französische, sowohl zeitgenössische wie István Kemény, Aleš Šteger, Krisztina Tóth oder Andreas Unterweger als auch romantische und moderne wie Attila József, Ágnes Nemes Nagy, Sándor Petőfi sowie die Gedichte von Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Claude Ber, Le Cavalier Bleu, Café, Paris

Claude Ber | Le Cavalier Bleu, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Claude Ber, Auszug aus Mues, Ed. PUHR 2020 | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

(…)
Die Café-Terrasse gärt – Fortsatz eines unsteten, zu Ende gehenden Traums.
Die Zeit hat an einem Netz aus Flechten angehalten
einem Vorhängeschloss am Blech einer Autowerkstatt, gelb auch dieses
dem Geräusch eines Flaschenregals und von Kuhglocken.

Man zerreißt ein Stück Papierserviette, einen in der Tasche vergessenen Fahrschein
in den Bewegungen Gründlichkeit
eine unschuldige Weise, sich dem Jetzt anzupassen.
Die Welt kickt Köpfe, mit genagelten Tretern
Füße gehen vorbei in grellbunten Schuhen und scheuchen Schritt für Schritt Spatzen auf.
Der Schwung entsteht aus dem Abdrücken über die große Zehe, nicht aus der Wade oder dem Schenkel. Aus der Zähmung der kleinen.
Dass die Schönheit die Welt retten wird, ist ein Traum von Fantasten, setzt der Papst der Tafelrunde fort. Oder eher die Wette eines Spielers. Gibt es übrigens etwas zu retten?
Falls ja, dann gehört dieses winzige Gestammel
uns.

Man hat den Glauben ans Wort nicht ständig an die Seele gedübelt. Mit Augen und Ohren suche ich nach einem Hinweis darauf. Eine erreichbare Assonanz im Neonrosa des Erdbeereises.
In der Ferne zu suchen bringt nichts, suchen auch nicht. Und da die Welt an den Flachdächern der Sozialbauten zerschellt, richte ich auf ihre türlosen Flure einen neugierigen und desillusionierten Blick.
Wer wird aus der besprayten Höhle kommen?
Plato und seine fleißigen Schüler schlummern vor den Schatten. Ich vor den sonnenbeschienenen Plakaten und ihren Scharaden aus Leuchtflecken. Das Licht eignet sich genauso gut für den Traum wie die Nacht.
(…)

Der Morgen stürzt auf sein Ende zu
angelehnte Dinge – Fenster, Münder, Tore, halbgeöffnete Hände – bleiben stehen
es ist woanders Mitternacht und Mittag knapp über den heruntergelassenen Rolläden
die Höflichkeit würde verlangen, dass man in ähnlicher Weise zu leben verstehe.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Claude Ber: Sie ist untrennbar mit dem Leben verbunden. Das ist meine Weise, auf dieser Welt zu sein.

Was bedeuten Cafés für dich?
CB: Ein Ort der Begegnung und der Beobachtung, der das Vertraute mit dem Unbekannten verbindet. Ich finde dort die Atmosphäre der Samstage meiner Kindheit wieder, im Café, das mein Großvater führte, und wo ich Gesichter und Szenen beobachtete, in ihrer Mischung aus Unerwartetem und Ritual – dem der Stammgäste, des Aperitifs, des Kaffees… ich lege dort einen Vorrat an Eindrücken und Bildern an.

Warum hast du „Le Cavalier Bleu“ gewählt?
CB: Der Cavalier Bleu befindet sich in einem zentralen Viertel von Paris, wo ich regelmäßig Freunde nach einem Stück oder einer meiner Lesungen in der Maison de la Poésie de Paris treffe, oder auch nach dem Besuch einer Ausstellung im Centre Pompidou.
Ich liebe sein reges Treiben wie in einer typischen Pariser Brasserie, wo einander Menschen aller Art begegnen, und seinen Namen Cavalier Bleu (= Der Blaue Reiter), mit allem, was er für mich an Verbindung mit der Malerei und mit Erinnerungen an Deutschland verkörpert. Mehrere Vorstellungswelten kreuzen sich dort. Die Bierkellnerin von Manet trifft die Kandinskys und Bacons aus dem Centre Pompidou, der Geist des Blauen Reiters den belebten und weltstädtischen Alltag des Pariser Lebens…

Was machst du, wenn du nicht in ein Café gehst?
CB: Ich lebe! Ich liebe, ich schreibe, ich lese, spreche, höre zu, reise, besichtige, spaziere, träume, treffe, wandere, esse, schwimme, schlafe, atme, schaue, betrachte usw, usw.

 

BIO

Nach einem Studium der Literatur und Philosophie unterrichtete Claude Ber in der Sekundarstufe und an der Universität. Sie hat vor allem Lyrik veröffentlicht, aber auch Theatertexte, die in französischen Nationaltheatern uraufgeführt wurden. Zahlreiche Artikel, Studien und Zeitschriften wurden ihren in mehrere Sprachen übersetzten Werken gewidmet. Letzte erschienene Bücher:  Il y a des choses que non, La Mort n’est jamais comme (prix international de poésie Ivan Goll) Ed. Bruno Doucey, Mues, Ed. PUHR Site : www.claude-ber.org