Schlagwortarchiv für: Barbara Rieger

Vincent Lisita | L’ Aragon, Pau (Frankreich)

Foto: Alain Barbero | Text: Vincent Lisita | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

 

Niemand aus meiner Familie hätte es gewagt, die Tür der Brasserie L’Aragon zu öffnen: „zu exklusiv“ – ein Tabu, mit dem ich (auch heute noch) jeden Tag ringe.
Seit 1994 bin ich das einzige konstante Element dieser Brasserie, die sich aus der Ferne mit den Pyrenäen misst: Chefs, Personal, Stammgäste, Einrichtung, alles um mich herum verändert sich immer wieder mal … Aber ich kann nur hier arbeiten, nichts lenkt mich ab, kein Geräusch stört mich. Ich habe keinen festen Tisch, sondern mag eine Zeit lang diesen Platz und dann jenen, wie die Katzen … Nichts, keine Uhr oder Kalender, weder das Kommen noch das Gehen der anderen sagt mir, welchen Tag und welche Uhrzeit wir haben. Ich war der Erste, der einen Laptop mitbrachte – seitdem habe ich Schule gemacht! –, und die neuesten Sitzbänke sind ideal: Ich kann stundenlang schreiben, ohne Nackenschmerzen zu bekommen. Lachen Sie nicht: Das ist ein echtes Thema für Autoren, die sich den 50 Jahren nähern!
Seit langem kommen meine Angehörigen unangemeldet zu mir, und jedes Mal entschuldigen sie sich dafür … dabei sollten sie sich ein für alle Male klar machen, dass sie mich nur dann stören, wenn sie nicht kommen.
Im Aragon habe ich in vollen Zügen sämtliche Intimitäten erlebt, die dreißig Jahre mit sich bringen können … Aber lassen Sie mich an ein goldenes Zeitalter zurückdenken. Als ich Student war, setzte ich mich an einen dieser Tische, die man auf Ihrem Foto erahnen kann, lieber Alain – diese Tische, die vom Boulevard aus nicht zu sehen sind … Dort schrieb ich meinen ersten Roman, unter strengster Geheimhaltung, da meine Eltern glaubten, ich sei in der Vorlesung. Ich hielt mich, relativ gesehen, für den „Jean-Claude Romand des Romans”!
Gestehen muss ich eine gelegentlich Untreue gegenüber meiner Lieblingsbrasserie. Die stellt sich dann ein, wenn ich von meinen Verlegern unter Druck gesetzt werde, mein Manuskript abzugeben, und ich den gesprächigsten Stammgästen entkommen muss …
Dennoch kehre ich immer wieder ins Aragon zurück. 
Zwar habe ich noch nicht mit dem Wirt gesprochen. Aber ich weiß genau, wo meine Urne ihren Platz finden wird!

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur bewirken? 
Vincent Lisita: Wir drängen uns auf einer großen Kugel, die mit voller Geschwindigkeit ins Nichts geschleudert wird … 
Glücklicherweise fördert die Literatur den Austausch von Emotionen und Ideen! Sie reist wie das Licht, und Tausende von Jahren können ihre Sender von ihren Empfängern trennen. Manchmal predigt sie sogar denen, die sich nicht bekehren lassen …
Wird man in unseren Cafés beim nächsten Urknall viel Aufhebens darum machen?

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VL: Da ich kein richtiges Büro habe, arbeite ich in der größten Brasserie meiner Stadt. Wenn ich auf Reisen bin, bin ich meinen Reisezielen ebenso treu wie den Cafés, die ich dort entdeckt habe: Sa Musclera in Binibeca, Pasticceria Rio Marin in Venedig, Pré aux Clercs in Saint-Germain-des-Prés …
An anderen Orten bin ich zerstreut, in Cafés finde ich wieder zu mir selbst. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
VL: Ich werde nicht mehr „in meinem alten Familienhaus” antworten, da ich mich dazu entschließen muss, es zu verkaufen … Ich fühle mich also zu Hause, sobald ich ungestört in mich selbst eintauchen kann. Wenn möglich mit einem langen Kaffee ohne Zucker!

 

BIO

Vincent Lisita wurde 1977 in Pau geboren und ist Kunsthistoriker. 
Seit über dreißig Jahren beschäftigt er sich mit den Denkmälern seiner Heimatstadt und dem Werk und Leben von Charles Trenet.
Seine Schubladen und sein Klavier sind voll mit Romanen, Liedern … oder umgekehrt!

Anicée Willemin | Brasserie Le Cardinal, Neuchâtel (Suisse)

Foto: Alain Barbero | Text: Anicée Willemin | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach

 

Heute habe ich nichts getan. Aber Vieles hat sich in mir getan. Roberto Juarroz

Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt
Eines Tages im Februar 2024, eines Tages im Januar 2025. Raumzeitliche Verwerfung. Von Neuenburg nach Lausanne, dann zurück nach Neuenburg, ins Café, das ich ganz besonders mag, das *Cardinal*.
Jugendstil, barockes Ambiente, Lileengrün, Grünspangrün, minzgrüne Kacheln, goldkupfergondelnde Blumen, wundersame Landschaften, Vögel – fein ziselierte Kraniche und Pfauen. Eine Grafik, fast wie von Hokusai. 
Sich gut fühlen, sich hier gut fühlen. 
Zu jeder Stunde, wenn die Zeit kommt, wenn die Zeit da ist. 
Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt
Café Auftakt zur Begegnung, Café Auftakt zu jeder Begegnung. 
Eine imaginierte, unvordenkliche, unbeschreibliche Begegnung. 
Moment der Gnade in sich selbst und ausserhalb von sich selbst.
Frenetische Beobachtung, getrennte Zeit.
Zu jeder Stunde, wenn die Zeit kommt, wenn die Zeit da ist.
Wenn der Geist da ist, wenn der Geist kommt.
Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt 
Moment der Einberufung, Moment in der Schwebe.
Ein Anflug von «Der Himmel über Berlin», das Verlangen nach etwas Hörbarem, etwas Sagbarem, nach etwas, was man schreiben könnte. 
– Dieses Café gefällt mir ganz besonders gut, ich fühle mich von seinem Dekor repräsentiert. –
Anmutige Vögel, Wildblumen, imaginäre Blüten, grazile Sonnenblumen. 
Ich bin ganz durcheinander von all dem Kachelgrün. 
Ein Ort für Tagträumereien. 
Ein von Grün durchwirkter Ort wie eine bezaubernde Apnoe. 
Frenetische Beobachtung, gemeinsame Zeit.
Ich drehe mich um / der Flieder blüht. (Gilbert Trolliet)
Narcissus poeticus
Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt
Wenn der Geist da ist, wenn der Geist kommt. 
Zu jeder Stunde, wenn die Zeit kommt, wenn die Zeit da ist. 
Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt
Historisches Pastell, wie ein Bonbon von einst – neu belebtes Bonbon. Grün. Grün wie mein Traum.
Aus meinem Traum bin ich in deinen gekippt 

Als Begleitung im Hintergrund: La Grâce et la Rencontre von Colette Nys-Mazure, erschienen im Februar 2024 bei Éditions POESIS, in der Reihe Habiter poétiquement le monde. 

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir uns angesichts der gegenwärtigen Weltlage noch gemütlich in ein Café setzen? 
Anicée Willemin: Um nicht den Boden unter den Füssen zu verlieren. In einer stillen und/oder lärmenden Dringlichkeit.

Warum noch schreiben und lesen?
AW: Schritt für Schritt dem goldenen Pfeil folgen, dem roten Faden. Demjenigen, den man sich für sich wünscht. Demjenigen, den unsere Schritte sich für sich wünschen. Die Schritte sind ein Gedanke. Die Schritte sind eine Schrift. Die Schritte sind eine Lektüre. Pfeil und Faden. Faden und Schritte. Diejenigen, die man gerne kommen sähe. Diejenigen, von denen man sich wünscht, sie kommen zu sehen. Kommen sehen. Sehen, was kommt. Faden und Pfeil. Schritte und Faden. Kommen sehen. 

Ist das Café (oder das Café, das du gewählt hast) eher ein Rückzugsort, ein Ort der Besinnung oder ein Ort der Versammlung? 
AW: All diese Facetten in verschiedenen Momenten. Manchmal bloß eine davon. Manchmal gerade die andere. Manchmal bloß die dritte. Manchmal noch eine andere. Manchmal all diese Facetten miteinander vermischt, in einer vollständigen Symbiose. Ich mag diese Idee einer aneinander, ineinander gefügten Pluralität, die so ein Ganzes bildet. Und sich erinnert. Und sich erhebt. Sich erhebt angesichts der Ungerechtigkeit der Welt. Der große Aufstand. Rückzug, Besinnung, Sammlung und Versammlung.  – Man kann das Gefühl haben, in sich hineinzusinken und einen Augenblick meditativer Besinnung erleben, während man zugleich in vielfältiger Begleitung ist und sich versammelt, seine eigenen Stücke zusammensammelt. – Das Café ist ein Schritt an sich. Das Café ist Schritte in sich. Und aus sich hinaus.

 

BIO

Anicée Willemin ist a-ni-c. Sie ist und wird, was sie gerade wird. Getragen vom dröhnenden Atem des Absoluten hat sie den Blick vor allem auf poetisch-fragmentierte Räume gerichtet und ihre Musik genährt, während diese sie nährte. Sie kommt aus einem kleinen Juradorf und ist eine frische Vierzigerin, die sich durch Feld und Wiesen tollt und tummelt und ohne Unterlass das Leben ausprobiert, desgleichen das Leben des grünenden Schreibens. Ihr erster Gedichtband, Les balcons étaient comme des roses d’eau entêtantes (Die Balkone waren wie betörend duftende Wasserrosen) ist im März 2023 bei den Editions du Griffon in Neuenburg (Schweiz) erschienen.  

Laurence Biava | Wilde’s Lounge, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Laurence Biava | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Die Atmosphäre im l’Hôtel war cosy an diesem 6. Mai. Du hast schon am Tisch sitzend auf mich gewartet. Eine Stunde lang tauschten wir uns aus, um uns kennenzulernen, erstellten einen Überblick über unser Leben und unsere literarischen Aktivitäten. Eine olé olé-Geburtstagsfeier junger Leute, die ständig durch den Hauptteil des Salons wanderten, übertönte unsere Stimmen, unsere Vertraulichkeiten. Von der Außenterrasse her tauchten in regelmäßigen Intervallen neue Ankömmlinge auf: sie stellten sich in einem Selfie-Gewitter zur Show. Selbst die Anwesenheit eines Hundes, ziemlich selten an diesem für seine gedämpfte Atmosphäre bekannten Ort, trug zum allgemeinen Trubel bei und gab unserem charmanten Abseits-Gespräch eine andere Färbung. Das amüsierte uns. Es stimmt, wir waren nicht mehr so in Ruhe, aber wir wischten die nachbarlichen Schändlichkeiten einfach beiseite. Ich erinnere mich nicht mehr, warum ich über mein Alter sprach, vom Wunsch, zu anderen  immer offene Beziehungen zu pflegen, so wie zum Schreiben. Du hast über das Rituelle bei diesem feinen und vielseitigen Blog gesprochen, von seiner Gestaltung, von dieser methodischen Gründlichkeit bei jedem Treffen, von seinen Eigenheiten und den Aufnahmen. Dann hast du betont, dass die Autoren, auch wenn sie sehr respektvoll gegenüber deiner Vorgehensweise sind, dich manchmal mit Unvorhergesehenem konfrontieren. Ich betonte deine Großzügigkeit ebenso wie meine Freude darüber, mich dem Experiment zu unterziehen. Es ist nicht so oft, dass man sich auf diese Weise preisgeben kann, so ganz spontan, ungeschminkt. Wir breiteten verschiedene Überlegungen vor uns aus, zu fast allem, und ohne uns um die Überprüfung unserer Seelen zu kümmern, dafür aber um unsere Wahrnehmung des Gegenübers. Ohne Falsch, und wechselseitig, waren wir frei mit den Bildern, die an die Schrift der Stimme angepasst sind. Wir schrieben eine mosaikartige Welt. Danke für diesen der Zeit entrissenen Moment. 

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Laurence Biava: Die Literatur kann hoffen, die Welt zu verändern: zumindest versteift sie sich darauf zu hoffen, und an diese Hoffnung zu glauben. Literatur zielt in erster Linie darauf hin, zu erziehen, denn sie erlaubt es jedem, sich von den Fiktionen anderer zu nähren. Als Kulturerbe ist sie oft Abenteurerin, mutig, sie betont die Werte, die Kultur und die Zivilisation eines Landes. Die Literatur dient dazu, Gedanken zu kommunizieren, Überlegungen, sie schreibt Feuilletons, Fiktionen, sie erzählt (Auto-)Biographien, sie führt dazu, Meinungen zu beeinflussen und zu fördern, sie zeigt einen Weg auf, oft existentiell,  spirituell, philosophisch; sie erobert Seelen, schärft den Verstand, und verführt auch aus all diesen Gründen. Das Lesen diktiert mir, aus allen Bereichen auszubrechen, aus der Kontrolle, dem Gutmenschentum und der Vernunft. Ich lese, um frei zu bleiben. Es sind mehrere Postulate, die mich nicht loslassen, die mich total definieren: Was ist die Literatur anderes als ein gewaltiges Manifest, um zu sagen, wer man ist? Was ist Literatur anderes, als sein Leben herauszuschreien, einen persönlichen, nicht protokollierten Blick auf die Dinge auszudrücken? Was ist ein Schriftsteller anderes als jemand, der revoltiert, jemand, der Zeugnis ablegt, der die Wahrheit sucht, der versucht, sich die Zeit anzueignen, mit ihr zu reisen, sie zu besetzen, sie neu zu erfinden, sie sogar vorwegzunehmen? Was kann ein literarischer Text ohne die Inanspruchnahme von Symbolen, Fiktion, Poesie, und der Schriftsteller ohne die kohärente Organisation zwischen diesen drei Dingen? Um auszudrücken, zu entwerfen, darzustellen, braucht es einen Blick dafür. Es war Simon Liberati, der sagte, dass es der Blick ist, der eine Art Logik, Poesie, mitbringt. Die Literatur ermöglicht es, die vergessenen Winkel unserer Erinnerungsfelder wiederzufinden. Schreiben setzt den Versuch des Einschreibens in eine Ewigkeit voraus, und der Schriftsteller weist sich selbst an, das was nicht existiert, zu erfassen, was nicht wahrnehmbar ist, einzufangen. Seine Arbeit des Schreibens ist eine verschwommene Permanenz, die die Zeitgrenzen transzendiert. Für die Lektüre ist das Gleiche festzustellen. Lesen, einen Text verstehen, setzt zugleich das Feststellen der zeitlichen Distanz, aber auch den Versuch, diese zu überwinden, voraus. Das Gedächtnis ist eine Begegnung von Zeiten, die das Prinzip der Sukzession negiert. Gerade weil sie schwankt oder völlig desorganisiert sein kann, muss alle Literatur auf eine Art und Weise gelesen und gedacht werden, die zeitliche Kategorien obsolet machen. Der Wunsch nach Ewigkeit ist eine Ambition, die Ewigkeit ist eine Gnade. 

 

BIO

Laurence Biava, von Beruf Juristin, Ex-Attaché im Parlament, arbeitet seit 17 Jahren in ihrer Eigenschaft als literarische Kritikerin in diversen Medien mit: Fréquences Paris Plurielles, Unidivers, Buzz Littéraire, Actualitté und Atlantico. Sie berichtet auch über literarische Veranstaltungen für die Agentur Post-Scriptum.
Sie hat 18 Bücher veröffentlicht und ist Agentin für Autoren und Künstler.
Parallel dazu ist sie Salonnière und Begründerin literarischer Veranstaltungen. Sie hat sieben literarische Preise ins Leben gerufen. In Kürze soll sie die Gründung des Salon littéraire des Deux Rives vollenden, mit dem Ziel, die Atmosphäre der barocken Salons von einst wieder zu beleben.  

Bénédicte Vidaillet | Tok’ici, Lille

Foto: Alain Barbero | Text: Bénédicte Vidaillet | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Im Tok’ici  („Hier klopfen“)

In dieser Welt der großen Machtverrückten – toqués au pouvoir – gibt es glücklicherweise das Tok.

Kochmützen – toques – sind hier zu finden. Keine mit Sternen übersäte, aber solche, die uns Sterne in die Augen treiben. Gefüllte Bao, Tahchin, Won-Ton-Suppe und Tarator-Sesamsauce, Cromesquís oder flämischer Waterzooi-Eintopf. Gib´s zu: dir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. 

Klopf-klopf – toque –, tritt ein. Kein Kamin, aber Lächeln, Begrüßung, ein Gläschen, ein paar Worte und oft mehr.

Und wenn du einen Fimmel hast – ein bisschen toqué bist –, kannst du deine Ticks, deine tocs, mit ins Tok schleppen. Richte deinen Barhocker genau über die Fugen der Bodenfliesen aus, überquere die Schwelle eher zweimal als einmal, bekreuzige dich vor jedem Schluck: Das verleiht dir nur Stil, man macht nicht viel Aufhebens davon.

Und aus – et tok!

 


Interview mit der Autorin

Aktivismus und Literatur – wie geht das bei dir zusammen?
Bénédicte Vidaillet: Mir gefällt nicht, was aus dieser Welt wird. Anstatt zu heulen oder allein wütend zu sein, bin ich aktiv und gründe Vereine, um zusammen mit anderen einen Park im Vorort und dann eine große Brachfläche im Zentrum von Lille vor einer verrückten Urbanisierung zu schützen, die uns und unsere Geschichten, unsere Erinnerungen und unsere sensiblen Bande mit unserem Lebensraum enteignen. Und die jeden Tag die lebendige Welt, tierische und pflanzliche, ein Stück mehr zerstört. Und ich schreibe: Manifeste, lautstarke Appelle, Essays. Schreiben und Handeln sind für mich eng miteinander verknüpft.

Was sind deine Ziele?
BV: Als Aktivisten versuchen wir, etwas anderes zu verteidigen und zu erfinden als die Stadt und das Leben, die die Vorschriften dieser Experten, die „zu unserem Wohl“ urbanisieren, uns zuweisen. Wir drücken unsere Suche nach einer Welt aus, die unseren Bestrebungen, Wünschen, unserem Bewusstsein, mehr entspricht. Eine Welt, die uns Lust auf das Leben macht, das wir mit unseren Körpern, unseren Sinnen und unserer Sensibilität bewohnen können.  

Wie soll die aussehen? 
BV: Im Grunde wollen wir die einfachen und wesentlichen Dinge: Luft zum Atmen, langfristig sauberes Trinkwasser, verschonte Böden, die uns ernähren, Schönheit; wir wollen in Reichweite unserer Schritte oder Fahrradreifen den Rhythmus der Natur spüren, einen Kohlkopf oder einen Baum wachsen sehen, staunen, uns treffen, diskutieren, lernen, Erfahrungen machen, in Bewegung sein. 

Uns lebendig fühlen. 

 

BIO

Ich liebe Wörter. Kein Wunder, dass ich Psychoanalytikerin geworden bin. Auch dass ich schreibe, Artikel, Bücher. Einige sind ins Italienische oder Englische übersetzt worden. Das letzte heißt: Pourquoi nous voulons tuer GretaNos raisons inconscientes de détruire le monde (Warum wir Greta töten wollen – Unsere unbewussten Gründe, die Welt zu zerstören, érès, 2023) 

Jean Portante | Café La Liberté, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Jean Portante | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In Luxemburg war ich ein eifriger Cafégänger. Es gab eins, das mythischste, in der Zwischenzeit verschwunden, das mein zweites Zuhause war, jeden Abend oder fast jeden, bis zum Morgengrauen; das Bier floss da in Strömen. Das war in den Siebziger Jahren. Es gab endlose Diskussionen zu führen. Nach unseren Träumen kam die Zukunft. Die Utopie in Reichweite der Wünsche. Liebeleien für eine Nacht keimten da auf und erstarben. Es hieß „Chez Malou“. Studierende, Künstler, Politiker, Anwälte vermischten sich dort. Ich habe dort meinen ersten Dichter getroffen: Edmond Dune.
Der Autor von „Je vous écris d’un café triste“. Ich denke oft an ihn. Der traurige Poet. Er ist es wohl, der mir den ersten Stupser gab, der mich hin zur Poesie trieb. Dann ging ich weg. Nach Paris. Ich wollte Dichter werden. Schriftsteller. Ich schrieb meine ersten Bücher. Danach die anderen. Aber ich brauchte keine Cafés mehr. Außerdem waren die legendären Orte im Niedergang. Es gab noch in den Achtziger Jahren das Saint-Claude auf dem Boulevard Saint-Germain, wo man Dichtern begegnen konnte, aber ganz schnell hat es einem Geschäft für schicke Kleidung Platz gemacht. In den anderen, Les Deux-Magots, le Flore, Lipp, La Closerie des Lilas trieben die Touristen die Preise in die Höhe. 
Und ich war ein Sans-le-sou, ohne einen Pfennig. Wie alle meine Dichter- und Künstlerfreunde. Man traf sich mal bei dem einen, mal beim anderen, trank Wein für drei Groschen, ins Café ging ich nur zu Verabredungen. Das Sarah Bernhardt vor allem, in Châtelet, denn alle Metros führten dorthin. La Liberté schließlich, an der Edgard Quinet, näher bei mir zu Hause. Da, wo Sartre am Ende seines Lebens hinging. Aber weder die Kellner noch die Kunden wissen das. Ich schon. Deswegen setze ich mich nie an den selben Tisch. Als wäre ich auf der Suche nach dem Stuhl, den er ausgewählt hätte. 

 


Interview mit dem Autor

Kann Literatur noch die Welt retten? 
Jean Portante: Die Literatur erzählt die Welt. Sie schafft eine Welt. Sie bereichert die Vorstellungskraft für die Welt. Aber gegen das Auseinanderdriften der Welt hat sie keine Waffen. Sie hat keine Waffen gegen die Kriege, die Hungersnöte, die Diktaturen, das Geld, den ethischen Bankrott, die Lüge, die Entmenschlichung, den zunehmend allgemeiner werdenden Sinnverlust … Ein Gedicht, ein Roman, eine Novelle, ein Theaterstück sind nur intime Momente, die sich an das Innerste des Lesers wenden, ihm Vergnügen bereiten, ihn manchmal warnen, ihm helfen zu verstehen, ihn menschlicher machen, ihm Horizonte eröffnen, aber an seiner sozialen Lage ändern sie nichts. Was ist eine Bibliothek wert gegen eine Bombe, die in Gaza, in der Ukraine oder anderswo auf das Gebäude fällt, das sie beherbergt. Wenn die Menschheit sich eine Zukunft geben will, muss sie eine soziale Utopie schaffen. Auf diesem Boden könnte die Literatur vielleicht ihre Samen pflanzen, aber ob sie die Zeit hat. Es gibt jetzt eine Dringlichkeit. Das Haus brennt schon.  

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JP: Ich weiß, dass es Schriftsteller gibt, die sich in die Ecke eines Cafés setzten, um Notizen zu machen, und sogar um zu schreiben, oder einfach, um ihrem Geist zu erlauben,  abzuschweifen,  ich nicht.  Beziehungsweise nicht mehr.  Oder nicht mehr in Paris.  Wenn ich woanders bin,  mache ich mich  systematisch  auf die  Suche  
nach den Cafés,  die andere Schriftsteller vor mir frequentiert haben.  Ich suche dort die Stadt zu lesen,  bevor ich sie mit Schritten durchmesse.  Und ich mache mir Notizen …

Wo fühlst du dich zu Hause?
JP: Um zu schreiben: bei mir, an meinem Schreibtisch, in Paris, umgeben von meinen Büchern. Ansonsten, auf der ganzen Welt.

 

BIO

Jean Portante wurde 1950 als Sohn italienischer Eltern in Differdange (Luxemburg) geboren. Er lebt in Paris. Sein reiches Werk, bestehend aus ungefähr fünfzig Büchern – Poesie, Romane, Essays, Theaterstücke – wurde weitgehend übersetzt. In Frankreich ist er Mitglied der Academie Mallarmé. 2003 erhielt er für sein Buch L’étrange langue den Prix Mallarmé. 2011 wurde er in Luxemburg mit dem Prix national geehrt. Seit 2018 schreibt er seine Bücher in zwei Sprachen, Französisch und Italienisch. Seit mehr als 30 Jahren übt er eine Tätigkeit als literarischer Übersetzer aus.

Beata Umubyeyi Mairesse | La Diplomate, Bordeaux

Foto: Alain Barbero | Text: Beata Umubyeyi Mairesse | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Es gibt Orte, deren bloßer Name die Erinnerung an einen bestimmten Augenblick hervorrufen, so erging es mir mit dem Teesalon „La Diplomate“.  Dabei ging ich dort nur sporadisch hin. Das erste Mal beeindruckte mich der Teesalon 2014.  Ich war mit zwei Freundinnen verabredet, um ihnen ein Projekt vorzustellen, das mir schon lange am Herzen lag: in Bordeaux einen afro-karibischen Lesezirkel ins Leben zu rufen. Es war Spätsommer, und diese Marguerite Duras-Atmosphäre, gedämpft und kühl (wegen der Steinmauern der Altstadt-Gebäude), das schien wie geschaffen für eine flammende literarische Unterhaltung. Sie teilten meine Leidenschaft und unsere unterschiedliche Herkunft bot einen unendlichen Horizont an Lesestoff. Ich war hochschwanger und deshalb vereinbarten wir, dass die Treffen des neuen Buchclubs im Herbst beginnen sollten. Mein Sohn kam am nächsten Tag zur Welt, und der Lesekreis wurde im November gegründet. 
Ich ging wieder in den Teeladen „La Diplomate“, um Tees und Kräutertees zu kaufen, hatte aber keine Zeit mehr, um zu verweilen, und so schwor ich mir, es nachzuholen, wenn die Kinder älter wären. Ich verließ den Laden mit Duftsäckchen, deren Namen von Städten aus aller Herren Länder den Hauch der großen weiten Welt verströmten und deren Besitzer diese poetische Beschreibungen hinzugefügt hatten. Am meisten liebe ich diese hier wie:

Kigali (Grüner Rooibos, Eisenkraut, Orangenschalen, ganze Himbeeren, Johannisbeeren, Ringelblumenblüten, Passionsblume, Apfelstücke): „Land der tausend Hügel, der endlich wiedergefundene Frieden, eine Hommage an die Zärtlichkeit der Seele, in der die Weiblichkeit Mutter und Licht ist“.

Sansibar (Grüner Tee Sencha, Erdbeerstückchen, ganze Himbeeren, Rosenblätter und Rosenknospen): „Afrika, Asien, die Feluken warten auf die Abfahrt nach Ceylon, die Segel blähen sich“.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur tun?
Beata Umubyeyi Mairesse: Als ich mit dem Schreiben meines ersten Buches begann, bin ich in einem Text von Zadie Smith über David Foster Wallace auf diese schöne Antwort gestoßen, die ich mir zu eigen gemacht habe „Gute Literatur ist dazu da, gestörte Menschen zu trösten und bequeme Menschen zu stören“.

Wie wichtig sind Kaffeehäuser für dich?
BUM: Es ist ein uneingelöstes Versprechen. Ein Buch, ein Tee, wiedergefundene Zeit.

Wo fühlst du dich zu Hause?
BUM: Dort, wo mich niemand fragt, woher ich (in Wirklichkeit) herkomme.

 

BIO

Beata Umubyeyi Mairesse ist in Ruanda geboren und aufgewachsen. 
Sie hat 15 Jahre lang Projekte zur Gesundheitsprävention in Frankreich und im Ausland koordiniert. 
Seit 10 Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Gedichte und mehrfach ausgezeichnete Romane. Zuletzt erschienen: ein Album für junge Leser (Peau d’épice, Éd. Gallimard jeunesse, 2023), ein Gedichtband (Culbuter le malheur, Éd. Mémoire d’encrier, 2004) und eine Erzählung, Le Convoi (Flammarion, 2024). Letztere wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix de l’essai France Télévision und dem deutsch-französischen Franz Hessel-Preis.

Marius Daniel Popescu | Café Romand, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Marius Daniel Popescu | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Du bist mehrere hundert Mal hier gewesen. Mit René-Luc, der dir von Gustave Roud erzählte, ihr habt Weißwein aus der Gegend getrunken. Mit Dominique, er erzählte dir von seinen Schülern und seinen Gedichten, ihr habt auf die Gesundheit aller Bewohner der Rue de Maupas angestoßen. Mit Marie-José, Sarah und Oana, ihr habt Fondue moitié-moitié gegessen und ihr seid zusammen größer geworden. Mit Michel und Véronique, ihr habt über Bücher und über das Schreiben gesprochen. Mit Pierre Louis, ihr seid von Zeit zu Zeit bis zur Sperrstunde geblieben. Mit François, da habt ihr über die Jagd gesprochen und Bier getrunken. Mit Jean-Christophe, ihr habt an eine nächste Nummer der Literaturzeitschrift « le persil » gedacht. Mit Daniel und Vincent, ihr habt Gedichte aus dem Alltagsleben aufgesagt. Mit Jean-Louis, genannt «Le Papillon» (der Schmetterling). Mit Béatrice, ihr habt der Welt die Finger und eure Augen gezeigt. Mit Isaac, ihr seid in euren News und Kurzgeschichten geschwommen. Mit Dominique und Véronique, ihr habt über die in einer Gitarre versteckten Worte gelächelt. Mit Victor, ihr habt mit Bob Dylan gelebt. Mit Francine, Ingrid, Robert und seiner Frau, mit Ramon, Philippe und Sergueï. Mit vielen anderen Frauen und Männern aus Lausanne und von anderswo. 

Du trittst ein, du hast zwei Plätze für mittags reserviert, du schaust ins Lokal, du siehst die Kellnerinnen und die Kellner hinten im Saal, du gehst zwischen den Tischen durch, du gehst auf sie zu, du grüsst sie, sie sagen «Guten Tag», eine der Kellnerinnen kümmert sich um dich, sie begleitet dich zu eurem Tisch, sie zeigt darauf, sie sagt «Hier ist es». 

Heute bist du mit Alain hier, ihr werdet Papet vaudois essen (würzige Würste auf Lauch und Kartoffeln an einer typischen Sauce), ihr werdet über euer Leben reden, über das, worauf ihr Lust habt, über eure m und eure d und eure i. Hier wird Alain von dir Fotos machen. Du wirst ihn anschauen: als nähmen Times New Roman, Calibri, Garamond und Bahnschrift zusammen ein Calamin-Bad. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Marius Daniel Popescu: Leben erfassen Leben erschaffen Leben schenken Leben überraschen Leben denken Leben sehen Leben hören Leben vermitteln Leben vergehen lassen Leben bringen Leben lenken Leben zeigen Leben erfinden Leben weitergeben Leben überleben Leben gewinnen Leben verdienen Leben behalten Leben vervielfachen Leben hervorbringen Leben verstehen Leben nähren Leben ankurbeln Leben zur Blüte bringen Leben aussprechen Leben lang dauern  Leben fortsetzen Leben ankündigen Leben schützen Leben schreien Leben leben Leben lernen Leben lehren Leben erhalten Leben sichern Leben entwickeln Leben teilen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MDP: Allein sein und mit den andern sein. Allein sein. Mit den andern sein. Die anderen sein. Mich selbst sein. Ankommen. Sprechen. Schauen. Essen. Trinken. Sprechen. Schauen. Weggehen. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
MDP: In den Wohnungen und den Häusern. In den Cafés den Bars den Restaurants. Im Blick der anderen. In den Worten. In den Büchern. In den Träumen. In den Straßen. In den Wäldern. Auf den Feldern. In den Bussen Zügen U-Bahnen Flugzeugen. In meinem Gedächtnis. In den Wörtern. 

 

BIO

Marius Daniel Popescu wurde am 10. Juni 1963 in Rumänien geboren und lebt seit dem 01.08.1990 in der Schweiz. 
Als Lyriker und Romanautor französischer Sprache hat er zahlreiche Literaturpreise erhalten. Den Rilke-Preis, Sierre/Siders, 2006 für «Arrêts déplacés» (Editions Antipodes, Lausanne); den Walser-Preis Biel/Bienne für «La Symphonie du Loup» (Editions José Corti, Paris – deutsch von Michèle Zoller, Die Wolfssymphonie, Engeler, 2013); den Waadtländer Literaturpreis, Lausanne 2008; den Grand Prix Littéraire du Web, Paris, 2012; den Prix de l’Inaperçu, Paris, 2012; den Eidgenössischen Literaturpreis, Bern, 2012, für «Les Couleurs de l’hirondelle» (Editions José Corti, Paris, 2012, deutsch von Yla von Dach, Die Farben der Schwalbe, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017).

Nora Bouazzouni | Café du Coin, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Nora Bouazzouni | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

 

Ich mag das Gewirr der Stimmen in Bars, Cafés und Restaurants, weil es mein eigenes, mein inneres Stimmengewirr zum Schweigen bringt. Tagsüber würde es mich von der Arbeit abhalten – ich brauche Ruhe, um zu schreiben –, aber abends hält es mich vom Grübeln ab. Ich atme das Stimmengewirr ein, sauge es auf, es umhüllt und beruhigt mich. Andere meditieren, um den Kopf frei zu bekommen oder negative Gedanken zu vertreiben. Ich hingegen setze mich allein an die Bar, bestelle ein Glas Wein oder einen Negroni und höre hin. Jeder Ort hat sein eigenes Stimmengewirr, eine eigene akustische Signatur. Darum könnte ich die Geräusche meiner Lieblingsbars und -restaurants unter Tausenden wiedererkennen: das Geräusch der Zapfanlage, der sich öffnenden Kühlschränke, die Art, wie die Stimmen von den Wänden abprallen, sich Stühle und Hocker über den Boden schieben. Ich lausche den Gesprächen und Fragen der Kunden und Kundinnen, nehme Seitenblicke wahr, die verschränkten Arme, die hinters Ohr gekämmten Haare, die neuen Schuhe, den Lidstrich, die Bücher, in denen jemand blättert, während er auf eine Verabredung wartet. Ich versuche zu erraten, wer ein Kollege ist, wer eine Freundin, vielleicht auch Geliebte oder ein bereits Verliebter ist, der seine Frau betrügt; wer sich langweilt, wer nur auf der Durchreise ist in diesem Café, dieser Bar, diesem Restaurant, dieser Stadt, diesem Land. Ich höre alles, ich sehe alles. Ich werde unsichtbar.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Lage der Welt noch gemütlich in einem Café sitzen?
Nora Bouazzouni: Erlauben Sie mir, diese Frage mit einer anderen zu beantworten: Was würde sich an der (verzweifelten) Lage der Welt ändern, wenn wir aufhören würden, Cafés zu besuchen?

Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
NB: Beides! Eine halbe Stunde lang an derselben ausgepressten Orange nippen; eine Vorspeise oder zwei Nachspeisen bestellen; seinen Kummer in Chenin Blanc ertränken … Das könnte man auch zu Hause tun, aber es würde sich anders anfühlen. Man geht in ein Café, um zu trinken oder zu essen, aber auch um zu sehen (oder gesehen zu werden), sich auszutauschen, zuzuhören, zu riechen … Die soziale Interaktion beginnt, sobald man durch die Tür tritt, unabhängig davon, ob man sich entscheidet, andere Gäste anzusprechen oder nicht.

Hat das Café heute noch eine soziopolitische Bedeutung? Wenn ja, welche?
NB: Cafés haben zahllose soziale und darum auch politische Funktionen: Sie durchbrechen die Isolation, fördern Begegnungen und Diskussionen … Sie sind Orte der Geselligkeit, der Pause oder des Feierns, aber auch der militanten Organisation und damit der politisch gefärbten Geselligkeit: Anfang des 20. Jahrhunderts trafen sich die Arbeiterbewegungen mangels geeigneter Räumlichkeiten in Cafés!

 

BIO 

Nora Bouazzouni, geboren 1986, lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Videos und Podcasts vor allem mit den Themen Ernährung, Gender und Serien. Ihr letztes Buch, „Violences en cuisine, une omerta à la française“, ist im Mai bei Stock erschienen. Außerdem hat sie drei Essays im Nouriturfu-Verlag veröffentlicht: „Mangez les riches – La lutte des classes passe par l’assiette“ (2023), „Steaksisme – En finir avec le mythe de la vege et du viandard“ (2021) und „Faiminisme – Quand le sexisme passe à table“ (2017).

Stephen Clarke | Les Eiders, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Stephen Clarke | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Ich liebe es zu reisen, neue Orte zu entdecken, unseren Planeten zu erforschen. Ich suche ständig nach neuen Stränden, um Bodyboarding zu machen. Eines meiner größten Vergnügen ist  es, mit meiner Maske und meinem Schnorchel im tropischen Meer zu tauchen, um das Unsichtbare zu sichten – die unter der Oberfläche versteckten Fische und Korallen.
Aber gleichzeitig mag ich auch zu Hause im 19. Arrondissement sein, den gleichen Tee zum Frühstück trinken, die gleiche Amsel (ein Weibchen mit schokoladebraunem Gefieder), die jeden Tag den Innenhof besucht, beobachten.
Früher ging ich jeden Morgen in das gleiche Café und ließ mich an der Theke nieder. Ich brauchte nicht mal etwas zu bestellen. Ich sagte Bonjour und bekam einen Espresso. Dort begegnete ich wie immer den Nachbarn, Jacqueline und Michel, die seit Jahrzehnten im Viertel wohnen. Getrennt. Jacqueline lebt mit ihrem Ehemann in den Hochhäusern gegenüber, Michel mit seiner Freundin in einer der Straßen da vorne. 
Sie beschrieben mir das Leben hier vor dem großen Abriss in den 80er Jahren. Ich erzählte ihnen meine Abenteuer als englischer Schriftsteller in Paris – und besonders interpretierte ich die letzten Kapitel des Epos von der englischen Königsfamilie. 
Dann, gleich nach dem Lockdown, wurde dieses Café von neuen Besitzern abgekauft, die all diejenigen verabscheuen, die es wagen zu lange mit nur einem Getränk an der Bar zu schwatzen. Also boykottieren wir es.
So bin ich ein bisschen nomadisch in meinem Viertel. Es gibt die gewohnten Begegnungen nicht mehr. An Markttagen gehe ich da lang. An sonnigen Tagen auf eine der Terrassen dort. Mittags komme ich regelmäßig hierher, ins Eiders, ein Café, wo die Besitzer gastfreundlich sind, wo das Tagesgericht in Ordnung ist und ich mein Glas Chardo bekomme ohne es bestellen zu müssen. Das schafft Kontinuität im Leben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Stephen Clarke: Ablenken und informieren. Zum Lachen bringen, wenn möglich. Allem voran kommunizieren. Die nettesten Bemerkungen, die meine Leser gemacht haben: „Am Ende Ihres Buches sagte ich mir, dass die Welt doch nicht so schlecht ist“; „ich fände es schön, wenn Geschichte an der Schule so gelehrt würde, wie Sie sie erzählen.“
Ich lese meine Texte – Romane und Essays – immer wieder laut, um sicherzugehen, dass der Rhythmus stimmt, die Sätze nicht zu lang sind, die Gedanken fließen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SC: „Café“ als Getränk ist für mich lebenswichtig. Vor dem ersten Kaffee des Tages funktioniert mein Gehirn nicht. Das Café als Institution ist also zunächst mal meine Tankstelle. Dann ist es ein Ort, wo ich mich gerne mit Freunden und Nachbarn treffe, um herauszufinden, was so in der Welt passiert. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
SC: Überall und nirgends. Ich passe mich schnell an einen neuen Ort an, ich nehme schnell neue Gewohnheiten an, trotzdem werde ich mich immer ein bisschen wie ein Outsider fühlen. Denn als ich neun Jahre alt war, verkündigte meine Mutter mir und meiner Schwerster eines Morgens, dass wir „abreisen“, und ich habe meine Freunde nie wiedergesehen.  

 

BIO

Stephen Clarke ist ein Pariser Engländer und ein englischer Pariser. Er ist Autor von etwa zwanzig Büchern, die in etwa zwanzig Sprachen übersetzt sind. Von seinem ersten Roman „Ein Engländer in Paris“ wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Sein erstes Geschichtsbuch „Liberté, Egalité, Fritten zum Tee: Warum die Engländer Frankreich erfunden haben“ war Nummer 1 in England und hat ein Museum in Frankreich inspiriert, das Centre Culturel de l’Entente Cordiale, im Château d’Hardelot.
Er spielt Bass und komponiert Chansons. 

 

Alexandre Caldara | Bistrot Chauffage Compris, Neuchâtel (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Caldara | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

zarte bruchstücke eines schweizerischen westerns im dämmerlicht 

der fotograf der unbekannte Barbero kommt um meine wenigkeit Caldara in meinem bistrot le chauffage compris* zu sondieren an diesem 14. januar in Neuchâtel erzählt er mir seine geschichte als kinofan als kinokind seine sicht auf den film mauvais sang** von léos carax trifft meine wenigkeit und flickt meine flüchtige kinoerfahrung das alles sickert schimmert durch in meinem bistrot und reaktiviert „stimmen alter kinofilme“ wie man sie gerade in mauvais sang hört 

oh geplagter leser 
lass dich mitreißen zu den zombie-zonen der theke so nehme ich meinen abdrift wieder auf an diesem 14. januar mein bistrot gedenkt seiner 30 jahre es präsentiert eine schiefertafel ein tagesmenue concassage von aromen zum anbeißen und da kommt der fotograf der unbekannte er spricht über sein leben bevor er bahnbeamter wurde der den dunklen kinosaal mehr liebt als die Schiene   

eines nachts als er mehr sieht

lässt er sich vom schrei des films mauvais sang durchdringen am nächsten morgen zittrig nach einer schlaflosen nacht macht er es sichtbar auf der schiefertafel seiner arbeitsstelle das beben die neuralgie er trägt mauvais sang in goldenen lettern ein das macht seine Kollegen sprachlos und katapultiert ihn auf die Schienen seines zukünftigen lebens als fotograf 

die beiden schiefertafeln die des chauffage compris und die des unbekannten fotografen stoßen zusammen

meine wenigkeit empfängt das alles über den körper und ich tanze im auge des objektivs der fotograf derjenige der mit einem kleinen digital-apparat verewigt und die tonnen von nostalgischen negativen in seinem schwarz-weiß-gepäck setzt eine bestimmte Geschwindigkeit in gang die die bewegung wieder aufnimmt 

die tafeln erhalten ihre eigenschaft als dunkle materie zurück meine wenigkeit denkt wieder an das bistrot le chauffage compris wo ich eine apfel-tarte gegessen habe sie hängt mir nach wie der film mauvais sang
das alles nur wegen mir
der fotograf Barbero und ich Caldara sind nun keine unbekannten mehr wir sind also jetzt verbunden verknotet befreit politisiert ästhetisiert durch das warme mauvais sang und die chauffage compris wo man zum teufel nicht friert
schließlich enthält mauvais sang eine anthologische szene einer rasierschaumschlacht feinfühlige hommage an den big shave von martin scorsese mein treffen mit Barbero ähnelt dem rasierschaum aus mauvais sang es tanzt fröhlich

*Heizung inbegriffen (Anm. Übers.)
**schlechtes/ böses Blut (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Alexandre Caldara: Sie beginnt, wenn sie sich vom Machtwort abwendet. Sie hält dem Lektüreverschlingen die Wange hin. Oder anders ausgedrückt, die wunderbare Nicht-Macht der Literatur erlaubt uns, „Die wilden Detektive“, eine leuchtende Romanhöhle, von Roberto Bolaño, im Gegenwind zu öffnen, egal auf welcher Seite, und dieses Gefühl zu spüren, das notwendig ist, um aus der Banalität auszubrechen. Dieser Hauch viszeraler Poesie. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AC: Ich empfinde Cafés wie Kokons, wie Sandburgen, wie Wartesäle, wie ein Aufenthalt. Die Bistrots, die ich mag, tragen ein Stückchen zerknitterte Anonymität in sich, das im Dialog mit der Masse steht.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AC: Allein indem ich die Gesellschaft anderer gründe. Im Angesicht zweier Flamenco-Gitarren, die meine Free Jazz-Bibliothek schützen. 

 

BIO

Alexandre Caldara, Poet, Performer, Journalist, geboren in Neuchâtel, 1977, lebt in dieser Stadt nach Umwegen über die Seine und den Ganges. Improvisator zerbrechlicher Silben auf der Zunge, schreibt er, seit er sich erinnern kann. Er veröffentlicht seit 2015 ein knappes Dutzend Werke, darunter L’Emacié, Volubiles Nudités und Mystère Bouffe bei edition Samizdat; Peseux Paterson bei D’autre Part; Demi-Nuit bei éditions A Côté de cela und Pulp Vendage bei éditions du Griffon. Die Zeitschrift Belles Lettres hat seine Beiträge über Dadaismus und die écrits bruts veröffentlicht. Seine Tanzbewegungen sind vor allem seiner regelmäßigen Beschäftigung mit Butoh und anderen würdigen Meistern des stillen Schreis wie Kazuo und Yoshito Ohno zu verdanken.