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Stephen Clarke | Les Eiders, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Stephen Clarke | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Ich liebe es zu reisen, neue Orte zu entdecken, unseren Planeten zu erforschen. Ich suche ständig nach neuen Stränden, um Bodyboarding zu machen. Eines meiner größten Vergnügen ist  es, mit meiner Maske und meinem Schnorchel im tropischen Meer zu tauchen, um das Unsichtbare zu sichten – die unter der Oberfläche versteckten Fische und Korallen.
Aber gleichzeitig mag ich auch zu Hause im 19. Arrondissement sein, den gleichen Tee zum Frühstück trinken, die gleiche Amsel (ein Weibchen mit schokoladebraunem Gefieder), die jeden Tag den Innenhof besucht, beobachten.
Früher ging ich jeden Morgen in das gleiche Café und ließ mich an der Theke nieder. Ich brauchte nicht mal etwas zu bestellen. Ich sagte Bonjour und bekam einen Espresso. Dort begegnete ich wie immer den Nachbarn, Jacqueline und Michel, die seit Jahrzehnten im Viertel wohnen. Getrennt. Jacqueline lebt mit ihrem Ehemann in den Hochhäusern gegenüber, Michel mit seiner Freundin in einer der Straßen da vorne. 
Sie beschrieben mir das Leben hier vor dem großen Abriss in den 80er Jahren. Ich erzählte ihnen meine Abenteuer als englischer Schriftsteller in Paris – und besonders interpretierte ich die letzten Kapitel des Epos von der englischen Königsfamilie. 
Dann, gleich nach dem Lockdown, wurde dieses Café von neuen Besitzern abgekauft, die all diejenigen verabscheuen, die es wagen zu lange mit nur einem Getränk an der Bar zu schwatzen. Also boykottieren wir es.
So bin ich ein bisschen nomadisch in meinem Viertel. Es gibt die gewohnten Begegnungen nicht mehr. An Markttagen gehe ich da lang. An sonnigen Tagen auf eine der Terrassen dort. Mittags komme ich regelmäßig hierher, ins Eiders, ein Café, wo die Besitzer gastfreundlich sind, wo das Tagesgericht in Ordnung ist und ich mein Glas Chardo bekomme ohne es bestellen zu müssen. Das schafft Kontinuität im Leben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Stephen Clarke: Ablenken und informieren. Zum Lachen bringen, wenn möglich. Allem voran kommunizieren. Die nettesten Bemerkungen, die meine Leser gemacht haben: „Am Ende Ihres Buches sagte ich mir, dass die Welt doch nicht so schlecht ist“; „ich fände es schön, wenn Geschichte an der Schule so gelehrt würde, wie Sie sie erzählen.“
Ich lese meine Texte – Romane und Essays – immer wieder laut, um sicherzugehen, dass der Rhythmus stimmt, die Sätze nicht zu lang sind, die Gedanken fließen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SC: „Café“ als Getränk ist für mich lebenswichtig. Vor dem ersten Kaffee des Tages funktioniert mein Gehirn nicht. Das Café als Institution ist also zunächst mal meine Tankstelle. Dann ist es ein Ort, wo ich mich gerne mit Freunden und Nachbarn treffe, um herauszufinden, was so in der Welt passiert. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
SC: Überall und nirgends. Ich passe mich schnell an einen neuen Ort an, ich nehme schnell neue Gewohnheiten an, trotzdem werde ich mich immer ein bisschen wie ein Outsider fühlen. Denn als ich neun Jahre alt war, verkündigte meine Mutter mir und meiner Schwerster eines Morgens, dass wir „abreisen“, und ich habe meine Freunde nie wiedergesehen.  

 

BIO

Stephen Clarke ist ein Pariser Engländer und ein englischer Pariser. Er ist Autor von etwa zwanzig Büchern, die in etwa zwanzig Sprachen übersetzt sind. Von seinem ersten Roman „Ein Engländer in Paris“ wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Sein erstes Geschichtsbuch „Liberté, Egalité, Fritten zum Tee: Warum die Engländer Frankreich erfunden haben“ war Nummer 1 in England und hat ein Museum in Frankreich inspiriert, das Centre Culturel de l’Entente Cordiale, im Château d’Hardelot.
Er spielt Bass und komponiert Chansons. 

 

Pia Petersen | La Belle Hortense, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Pia Petersen | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach

 

Vor der Belle Hortense diskutieren die Leute miteinander, ihr Glas in der Hand. Einige rauchen. Drinnen ist die Bar brechend voll. Hinter der Theke ist Brigitte sehr damit beschäftigt, alle zu bedienen, A hilft ihr dabei. Sie nimmt sich immer Zeit, mich zu begrüssen., genau wie A, der zwischen dem Petit Fer à Cheval und der Belle Hortense hin- und her pendelt. Das Lokal ist winzig, langgezogen, links vom Eingang die Bar mit Weinflaschen bis zur Decke und rechts die Bücherregale, ebenfalls bis zur Decke. Davor zwei Bistrot-Tische. 
An den Wänden Fotos der Ausstellung von David Turnley. Die Barhocker sind immer besetzt. Manchmal gruppiert Brigitte die hier sitzenden Leute um, um mich in der Mitte unterzubringen. Ich sage mit Absicht »unterbringen«, weil ich mich hier zuhause fühle, sozusagen im Familienkreis. Wein und Bücher an ein und demselben Ort. Vor Jahren hatte ich in Marseille eine Café-Buchhandlung eröffnet, denn ich wünschte mir einen solchen Ort für meine Verabredungen. Damals gab es das nicht. Mir scheint, es seien ein paar Leute aus Paris hergekommen, um einen Augenschein zu nehmen. So bekamen sie eine Vorstellung davon, von einer Buchhandlung mit Weinbar. Ich sage mir gerne, es sei die Belle Hortense gewesen, und vielleicht war sie es auch.
Schreibe ich, wenn ich in die Belle Hortense komme? Nein, nicht wirklich. Eher lebe ich mit ihr. Ich habe meinen Schreibtag abgeschlossen und trinke zur Entspannung ein Glas mit diesen Büchern, die nicht meine sind, und mit Freunden. Es tut gut, ein fertiges Buch zu sehen, das in die Welt hinausgegangen ist, um sein eigenes Leben zu leben. Wenn ich über meinem Manuskript sitze, denke ich nicht an das fertige Buch. Es existiert nicht. 

Die Bücher sind meine natürliche Umgebung. Wenn ich das Manuskript liegen lasse, an dem ich arbeite, um an der Welt teilzunehmen, gehe ich gern an einen Ort, an dem die Bücher ihr Après-Schreiben-Leben haben. In einer Weinbar sind sie so lebendig. Sie stehen zwar nicht immer im Mittelpunkt, der Wein ist ein starker Konkurrent, sind aber doch sehr präsent. Wer in der Belle Hortense verkehrt, liebt Bücher. Worte und Ideen flirren noch und noch durch das kleine Lokal.
Die Bücher beruhigen mich, in der Belle Hortense hole ich jedoch nur selten eins aus dem Regal, um darin zu blättern. Man muss sich ausruhen können, absehen, Abstand nehmen können.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Pia Petersen: Ohne Worte, ohne Sprache gibt es keine Welt. Die Literatur erfindet Möglichkeiten, schafft Durchblicke. Sie lässt existieren, was nicht mehr existiert, was noch nicht existiert, was eines Tages existieren wird. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PP: Ich arbeite gern in Cafés. Sie sind Orte der Begegnung, im Zentrum der Gesellschaft. Hier treffen sich die Menschen, sprechen miteinander, können sich manchmal nicht ausstehen. Es geht darum, sich in die Lage zu versetzen, schreiben zu können, ohne etwas von der Welt zu verpassen, die ringsum lebt und vorbeigeht. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
PP: Nirgends.

 

BIO

Pia Petersen kam in Dänemark zur Welt. Sie schreibt auf Französisch und auf Englisch. 
Ihr letztes Buch La vengeance des perroquets (Die Rache der Papageien) ist bei den Editions Les Arènes erschienen. 
Sie hat zwölf Romane publiziert, sechs davon bei Actes Sud. 
Pia Petersen hat die Buchbranche erkundet, indem sie in Marseille das Buchhandlungs-Café Le Roi Lire eröffnete.
Sie wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix de la diffusion de la langue et de la littérature françaises, Académie française, 2014, und kürzlich, 2024, mit dem Internationalen Rotary-Preis des französischsprachigen PEN-Clubs.
Sie hat an mehreren Residenzen teilgenommen: Haiti, China, Chaumont, Lille.
Website: www.piapetersen.net

 

Mamadou Mahmoud N’Dongo | Bar Bukowski, Amsterdam

Foto: Alain Barbero | Text: Mamadou Mahmoud N’Dongo | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Charles Bukowski (1920-1994) war der erste Schriftsteller, dessen Biographie ich las, als ich auf dem Gymnasium war. Eine pittoreske Figur der Westküste, Underground-Poet des Suffs, des Sex, Novellist und Erzähler des Gothisch-Absurden, ein Romancier des Lumpenproletariats. Ein großzügiger Schriftsteller, der sich der Selbstironie und des Humors bediente. Chronist des künstlerischen L.A. – so lernte ich durch ihn das Werk von John Fante kennen. Bukowski war der talentierte Porträtist eines anderen Amerikas aus Kneipengängern, himmlischen Pennern, ätherischen Schönheiten, wunderbar verkörpert von Faye Dunaway in dem großartigen Film Barfly von Barbet Schroeder, wo Mickey Rourke Chinaski ist, also Bukowski! 

Einige Jahrzehnte später, Freude und Überraschung, als ich in meinem neuen Viertel in Amsterdam die so passend benannte Bar Bukowski entdecke. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Mamadou Mahmoud N’Dongo: Schlechte Schriftsteller machen 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
MMN: Es gibt eine Erzählung von Borges mit dem Titel „Das Aleph“,  in der man diesen Satz findet: „(…) und mir schwindelte und ich weinte, weil meine Augen dieses geheime und auf Vermutungen beruhende Objekt gesehen hatten, dessen Namen die Menschen sich aneignen, aber das nie ein Mensch geschaut hat: das unfassbare Universum. (…)“*
Ist es dir schon mal passiert, dass du durch ein Land, eine Stadt, ein Viertel oder auch nur durch eine Straße spazierst, und du zufällig um die Ecke biegst und auf ein Café triffst? Du siehst an seiner Architektur, seinem Licht, seinem Dekor und den Menschen, die dort sind, dass du nicht mehr in einer Straße, einem Viertel, einer Stadt oder einem Land bist, sondern dass dieses Café ein ganzes Universum ist, und manchmal, ich sage manchmal, hast du den Eindruck, die Figur, der Erzähler des „Aleph“ zu sein …, so kann dieses Café, diese Bar, eine Art „Horizont der Ereignisse“ sein; wenn du die Schwelle überschreitest, tauchst du ein!

Wo fühlst du dich zu Hause?
MMN: In meinem Innersten. 

 

BIO

Mamadou Mahmoud N’Dongo, 1970 im Senegal geboren, ist Schriftsteller, Dramaturg, Fotograf und französischer Filmemacher, der in Drancy und Amsterdam lebt. Seine ersten Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Berichte veröffentlichte er ab 1997. Neben seinem literarischen Werk ab 1991, wurde er Dokumentarfotograf und drehte experimentelle Filme. 

*Freie Übersetzung aus dem Spanischen El Aleph von Jorge Luis Borges (Seix Barral)

Regina Hilber | Bar Ariosto, Ferrara

Foto: Alain Barbero | Text: Regina Hilber

 

Gerade hallt das dunkle Klirren der dickwandigen Espressotassen auf dem Marmortresen der Bar Ariosto in meinen Ohren, ein Klang, der ausschließlich in einer italienischen Bar diesen unverkennbaren Ton erzeugen kann. Die Tassen sind aus dickwandigem Porzellan oder Steingut. Der Tresen besteht stets aus dickem Marmor, der Boden des Lokals ist mit echtem Terrazzo überzogen, der Grundriss der Bar langgezogen und schmal, die Rückwand mit den Regalen für Gläser und Spirituosen mit Spiegeln ausgekleidet. Nur dann durchdringt dieser eine dumpfe Klang die italienische Bar, die ein Stehcafè ist. Verweilt wird draußen an den kleinen Tischchen, regionales who is who inklusive. 
Laut und dumpf klirrend muss sich das Abstellen der dicken Espressotasse auf dem Marmortresen anhören. Für den hellen, lichten Klang dazwischen sorgt der Espressolöffel auf der Untertasse, während der Barista schon die nächsten Untertassen lauthals auf den Marmortresen knallt. Vielleicht muss auch die Luft ein wenig flirren von der Hitze, so wie hier in Ferrara an einem Augustnachmittag, kurz bevor das tägliche Gewitter noch mehr Schwüle bringt. 
Dann kann ich nicht anders, als das Zirpen der Zikaden anzubeten, nachmittags um drei, unter dem Laubengang des Palazzos sitzend und hinausblickend auf die Weite der Piazza Ariosto, während der schöne Terrazzo nie frei von Müll ist. Der Duft der Pinien überdeckt den kleinen ästhetischen Mangel, macht ihn unsichtbar. Kein Makel, der nicht von einer anderen Schönheit wieder aufgewogen wird. Ferraras große Söhne – Ludovico Ariostos mittelalterliches Versepos Der rasende Roland und Giorgio Bassanis italienischer Jahrhundertroman Die Gärten der Finzi Contini, tönen leise zwischen dem ohrenbetäubenden Zirpen der Zikaden. Cirruswolken? Zigarrenqualm vom Signore am Tischchen gegenüber, hat er seinen Bugatti sinnmächtig ausgestellt. Ein rasender Roland!

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Regina Hilber: Ich weiß nicht, welcher Drang stärker ist – ob die Literatur (bzw. Lektüreerfahrungen) mich an spezifische Orte bringen, oder mich bestimmte Orte zu spezifischer Literatur führen. Beides ist möglich und beider Impetus findet in meine Essays, in denen Topographien mit Inputs neu gemixt werden. 
Es verhält sich wie das Geleitgedicht „Apopemptikon“ zu seinem Pendant, dem „Propemptikon“: Was war zuerst? Das Abschiedsgedicht des Fortgehenden an die Zurückbleibenden, oder umgekehrt, das Geleitgedicht von den Zurückbleibenden an den Abreisenden, den Scheidenden? Von dem der fortgeht, geht die Intention aus. Er weiß in der Regel früher Bescheid als diejenigen, die an einem Ufer stehend den Fortgang des in die Ferne Ziehenden zu begaffen angehalten sind. In Ferrara werden keine Homerische Geleitgedichte intendiert – die Antike war gestern – was jetzt in den Fokus rückt, bewusst oder zufällig, oder auf Nebenstraßen in Schlaglöchern und Pfützen dahintümpelnd, nimmt Aufstellung neben Lucrezia Borgia, die spätere Herzogin von Ferrara. Giorgio de Chirico und Filippo de Pisis wohnen nicht nur in Museen, de Pisis schmückt auch die Wartezimmer in Bassanis Ferrareser Geschichten. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RH: Ein „capo in b“, ein „aperitivo“, die Laufstege sind eröffnet: Stehend drinnen (Arbeit, Politik, Networking), oder sitzend draußen (who is who und dolce vita) – egal ob in Mailand, Triest, Neapel oder Ferrara – Bewegung garantiert die italienische Bar, die niemals statisches Eiland ist für Kaffeegenuss. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
RH: Die Heimat ist mein Körper. Ihm folge ich überall hin.

 

BIO

Regina Hilber, geb. 1970, in vielen Sprachen zuhause, lebt als freie Autorin in Wien. Zuletzt erschienen ihr Essayband Am Rande – Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas (2024) und der Gedichtband Super Songs Delight (2022).

Eva Brunner | Schönes Café, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Eva Brunner

 

»Schönes Café« ist ein schwieriger Name. Eine Behauptung und grammatikalische Herausforderung. Treffen wir uns im Café Schönes Café oder im Schönen Café? Aber es kann den Namen tragen, löst ihn unaufgeregt ein. Ich bin froh, dass es das Café gab, als ich das erste Mal in den späten 00er Jahren in der Ecke mit einer Freundin nach einem guten Ort für unseren Sonntagskaffee gesucht habe. Dass es da war, als ich in den 10er Jahren eine kurze Pause vom Familienalltag wollte, mir was gönnen. Und dass es immer noch da ist, als ich in 20er Jahren nach einem Lieblingscafé in Berlin suche, das in der Nähe meiner Immernoch-Arbeit liegt, in den Straßen Berlins, in denen ich mich am meisten Zuhause fühle, auch wenn ich nicht mehr dort wohne. In Uppsala wüsste ich sofort, welches Café ich nehmen würde. Das Årummet an der Ecke zum Fluss mit seinen tiefen Omasesseln und der grandiosen Tortenauswahl.
Im Schönes Café liegt der Schwerpunkt mittlerweile auf der Mittagszeit, wenn Tagesgerichte selbstgekochter Fusion-Kost gereicht werden. Soulfood könnte man sagen. Generell herrscht in dem kleinen Raum ein guter Geist. Dezent stilvoll und gemütlich ohne zu cool zu sein. Schön einfach – farbig lackiertes Holz, weiß verputzte Wände, kleine Vasen mit einzelnen Schnittblumen, fast auf eine deutsche Art skandinavisch.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Eva Brunner: Hm, große Frage, viel, auch wenn es viele Menschen gibt, denen sie gar nichts bedeutet, was ich auch manchmal eine ganz heilsame Perspektive finde, um alles nicht zu ernst zu nehmen. Ich finde es gut, wenn es ganz unterschiedliche Literatur geben darf und alle das lesen können und dürfen, was ihnen gerade Spaß macht. Zum Beispiel, wenn Erwachsene auch für sich Kinder- oder Jugendbücher lesen. Literatur kann eine gute, ganz persönliche Erfahrung sein, einen inneren Dialog in Gang setzen, neue Ideen geben, Träume anfüttern, eine mit anderen Orten und Zeiten verbinden. Und Literatur kann ein gutes Gesprächsthema sein, eine Art, sich persönlich auszutauschen, ohne direkt von sich zu sprechen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
EB: Cafés sind besondere Unterbrechungen für mich, ein bewusstes mir Zeit nehmen oder Zeit überbrücken mit einem Fokus auf Kaffee und was Leckerem zu Essen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
EB: Ich fühle mich am meisten Zuhause, wo mein Bett steht. Und an allen Orten, wo ich mal gelebt habe oder meine Familie lebt.

 

BIO

Eva Brunner, *1980 in Siegen, lebt in Uppsala und arbeitet in einer Berliner Kommunikationsagentur. Sie promovierte über “confessional poetry” und publiziert seit 2010 regelmäßig literarische Texte. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt “Achtung, die Naht” in der parsitenpresse. Diesen Winter erscheint ebendort ein zweiter Band. Ebenfalls erhältlich das Lyrikbüchlein “Die Mandarinenorakel”, zusammen mit Elke Cremer und Illustrationen von Yayo Kawamura (GE59, 2021). 

Cordula Simon | Skurril Café Bar, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Cordula Simon

 

Das skurril ist nicht skurril, es ist das Unskurrilste, was es hier zu finden gibt: Der Kaffee ist gut, das Frühstück ist gut, die Drinks sind gut. Skurril, was soll das schon sein? Es ist mitten in Geidorf, dem Viertel der Studenten und Hofratswitwen, auch das, keine Skurrilität. Professoren wie Einwohner des Bezirkes kommen hier zusammen. Das Bica gegenüber hat in den letzten zehn Jahren gefühlt dreimal zugemacht und wurde immer wieder verkauft. Im Churchill, auch gegenüber, ist es zwar schick, aber eine Bar und kein Café. Im Skurril, wie damals im Alchimiya, bringt man mir den ersten Kaffee schon ungefragt. Die gute Seele des skurril weiß. Sie liegt niemals falsch. Das Einstein? Das Liebig? Mehrfache Besitzerwechsel. Ein Kaffeehaus in das man regelmäßig geht kann doch nicht ständig großen Änderungen unterworfen sein – wie kann man einen Stammplatz haben, wie diesen hier, vor der großen Scheibe, wenn sich die Möbel ständig ändern. Das Kaffeehäferl? Gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite der Uni? In der Zinzendorf? Auch nicht anders als hier in der Heinrich: Ein Kommen und Gehen. Dazwischen: Fotter? Harrach? Sonstwas? Die gibt es schon lange, aber. Aber: So viele Kaffeehäuser, doch sobald die Studenten weg sind, zack, alles geschlossen! Schon während des Semesters Sonntag alles dicht, weil alle heim zu Mami fahren. Samstagvormittag frühstücken gehen? Viel Glück! Nur das skurril, auf das skurril ist Verlass. Das skurril hat auch Tage an denen es geschlossen ist: Jeden ersten Jänner. Sonst ist das skurril da. Das skurril lässt dich nicht im Stich. Du weißt nicht wohin mit dir? Du willst ins Kaffeehaus, weil du zum Alleinsein die Kulisse der anderen Menschen willst? Stunden durch die Scheibe auf die Straße schauen? Hunde, Spaziergänger, Einkäufer? Alles andere hier ist unstet im Taumel, nur nicht dieses. Skurril, nicht?

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
Wo fühlst du dich zu Hause?

Cordula Simon: Literatur kann uns einander näher bringen, mit schönen Elementen hässlich gesagt und hässlichen Elementen schön gesagt konfrontieren und durch den Bruch mit dem Gewöhnlichen unsere Augen öffnen für Gefühle, Ansichten und Welten anderer. Dabei zeigt Literatur immer wieder, dass wir alle gar nicht so unterschiedlich sind. Egal wohin ich fahre, ich lerne die Cafés kennen. Meine ersten beiden Bücher habe ich im Café Alchimiya auf der Deribasovskaya in Odessa geschrieben. Dort habe ich mich zu Hause gefühlt. Ich habe aber auch gelernt, dass ich mich überall zu Hause fühlen kann, wohin ich meinen Kopf bette, habe ich nur die richtigen Menschen um mich. Ob in Deutschland, Sri Lanka oder sonstwo, das hat sich stets bestätigt. Das gesagt habend: Ich bin noch nie, ob in den Cafés oder anderen Orten, falschen Menschen begegnet, alle waren sie zumindest echt, so wie die Gefühle, Ansichten und Welten in der Literatur – Dort bin ich zu Hause. Weltweit.

 

BIO

Cordula Simon, geb. 27.3.1986 in Graz, bis 2011 Studium der deutschen und russischen Philologie sowie Gender Studies in Graz und Odessa. Workshopleiterin der Jugend-Literatur-Werkstatt Graz. Bis 2014 als freie Autorin wohnhaft in Odessa, nun wieder tätig in Graz. Mitglied der GAV. Mitglied des ACIPSS mit Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit auf Medienlinguistik, Medialer Literarizität und Radikalisierungspräventionim digitalen Raum. Nebenberufliche Mitarbeit bei Bestattung PIUS Graz. Zahlreiche literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen, Preise und Stipendien. Zuletzt erschienen: Die Wölfe von Pripyat (Roman, Residenz 2022).

Jade Samson-Kermarrec | Nathanja & Heinrich, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Jade Samson-Kermarrec | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack

 

Jule fragt sich schon, wem Nathanja und Heinrich ähnlich sehen. Existieren sier nur? Die Frage streift sie, ohne sie wirklich zu beschäftigen. Seitdem sie hierherkommt, hätte sie einen der Barkeeper fragen können. Um ehrlich zu sein, hat Jule das sicher schon gemacht, einmal, als sie jedoch stockbetrunken war und ihre Erinnerung, im Alkohol versumpfend, abgedankt hatte und bis zur nächsten Verordnung aufhörte neue Informationen abzuspeichern.

Unmöglich, sich zu erinnern, wenn es keine Erinnerungen gibt.

Auf einer Bank sitzend und am Fenster lehnend, spielt Jule nervös mit dem Gummiband ihres Notizheftes, während sie die gekonnten Bewegungen hinter der Theke beobachtet.

Jule trank und trinkt nicht mehr.

Seither wird sie, ohne Vorwarnung, regelmäßig von der Schwere und den Folgen ihrer Abhängigkeit heimgesucht. Dennoch kann sie nichts dagegen tun, dass sie Lust auf den Cocktail hat, den die Bardame gerade zubereitet. Jule macht die Augen zu. Sie ruft in ihrer sensorischen Erinnerung den Geschmack von Gin Basil auf, das Basilikumblatt, das ihre Nase kitzelt, den klaren und säuerlichen Geruch des Gin und der Zitrone, die scharfe Kälte des Eiswürfels, der auf der Mitte des Whiskyglases schwimmt. Die Verheißung des Geschmacks, der Kühle, des Rausches, der Schwebezustand ist so perfekt, dass sie kaum den Alkohol spürt, das erste Glas so gut, so tückisch, dass es nach dem nächsten ruft, dann nach noch einem, schließlich all ihre Kumpel versammelt. Jule unterdrückt einen Schmollmund, der Geschmack von zu viel überkommt sie wieder, ihre Sprachfähigkeit wie Neuronen, ihr Anstand und Schamgefühl ziehen Leine. Sie macht die Augen wieder auf. Das Aufrufen ihrer Erinnerung hat seine Wirkung getan, ihre Lust ist vergangen.

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Jade Samson-Kermarrec: Sehr viel Verschiedenes. Sie kann sowohl Rückzugsort sein als auch Ventil für etwas. Ich denke, dass sie mehr als ein Fenster zu einer Welt oder Zugang zu einem anderen Ort ist und tiefgreifende Veränderungen im Inneren wie Äußeren auslösen kann. Ich mag es, mir Literatur als eine Bewegung vorzustellen, als eine Welle, die im Inneren entsteht um sich dann auszubreiten. Ich mag, dass sie sämtliche Paradoxe vereinen kann, das macht sie meiner Meinung nach komplex, vollkommen und vor allem unendlich.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JSK: Als Pariserin war ich mit der Bedeutung des Cafés als Ort des Zusammenkommens seit der Pubertät vertraut. „Auf einen Kaffee gehen“ war Teil des Alltags. In Berlin sind Kaffeehäuser anders, hybrider, weniger vereinheitlicht. Wie auch immer, ich habe Kaffeehäuser immer mit menschlicher Erfahrung verbunden, mit der Beobachtung von KundInnen oder PassantInnen, mit der Körpersprache des Barkeepers/der Barkeeperin und der KellnerInnen. Ich mag diese nicht wirklich anonyme Anonymität, die dort vorherrscht, ich mag diese Zwischenzone und die Möglichkeit Zuschauerin des menschlichen Karussells zu sein, ohne sich jedoch ganz daraus zurückzuziehen. Ein Café (in seiner Bedeutung als Ort und allen anderen Bedeutungsebenen) ist eine Schatzkammer.

Wo fühlst du dich zuhause?
JSK: Das ist eine Frage, die einen das ganze Leben beschäftigen kann. Ich bin 2003 nach Berlin gekommen, ich war 16 Jahre alt und habe mich sofort zuhause gefühlt, obwohl ich nicht viel von dem, was man mir erzählte, verstanden habe. Das war mir gleich ganz klar und seitdem hat mich dieses Gefühl, hier auch „zuhause“ zu sein, nie verlassen. Ich hatte fortan also mehrere „Zuhause“ ; das ist ein Luxus, der jedoch mit dem Nachteil einhergehen kann, sich nirgends komplett zu fühlen. Aber davon abgesehen ist Berlin mein Zuhause, da bin ich bei mir, da bin ich ich selbst.

 

BIO

Jade Samson-Kermarrec ist 1987 in Paris geboren und lebt seit 2013 in Berlin. 2018 gründete sie die französisch-deutsche Theatertruppe „Theater im Nu“ und 2022 das Theaterfestival „Le Lampenfieber“. 2021 trat sie der Berliner Autorinnenvereinigung bei und nimmt seither aktiv an den verschiedenen Initiativen des Netzwerkes teil (Hôtel des Autrices, Calendrier de l‘Avent, La Colec…)

Andrea Grill | Mediamatic, Amsterdam

Foto: Alain Barbero | Text: Andrea Grill 

 

Fragebogen

  1. Kennen Sie eine Sehnsucht?
  2. Betrifft Ihre Sehnsucht einen Menschen oder einen Ort?
  3. Wenn ja, wen?
  4. Oder, wohin?
  5. Was würden Sie tun, um Ihre Sehnsucht zu stillen?
  6. Würden Sie sie denn stillen wollen?
  7. Würden Sie dafür den Ort, an dem Sie leben, verlassen? Für immer?
  8. Würden Sie dafür Ihren Geliebten / Lebensgefährten aufgeben?
  9. Ist Ihr Geliebter / Ihre Geliebte Ihre Sehnsucht?
  10. Führt Ihre Sehnsucht Sie wieder und wieder in eine Zeit, als Sie jünger waren?
  11. Ist Ihre Sehnsucht Ihre Mutter?
  12. Wenn nein, ist Ihre Sehnsucht Ihr Vater?
  13. Wen würden Sie in diesem Moment am liebsten bei sich haben?
  14. Ist es ein Mensch?
  15. Würden Sie mit diesem Menschen die Nacht verbringen wollen?
  16. Wieviele Sehnsüchte gibt es, Ihrer Ansicht nach?
  17. Waren Sie schon einmal an einem Ort, an dem alle Sehnsüchte von Ihnen abgefallen sind?

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Andrea Grill: Alles. (Und nichts.)

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AG: Die italienischen Bars liebe ich seit jeher.
Sie heißen Bar, sind aber um sieben Uhr in der Früh schon offen.
Du kannst jederzeit allein hineingehen.
Oder zu soundsovielt.
Du brauchst dich nicht hinzusetzen.
Der Kaffee ist billig, schmeckt köstlich.
Du zahlst im Stehen an der Kassa.
Alle schnattern unentwegt.
Die Fenster sind hoch.
Die Theke glänzt.
Im Sommer gibt es Eis.

In Wien habe ich früher meine Texte immer in Kaffeehäusern korrigiert. Habe genossen, dass ich bestellte, mir gebracht wurde; ich aber auch stundenlang sitzen bleiben konnte, ohne etwas Neues zu bestellen.

Kaffee ist mein Lieblingsgetränk.

In Amsterdam sind die Terrassen das wichtigste an den Cafés, das Sitzen unter den Weiten des Himmels.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AG: Wo meine Füße stehen. Hätte ich früher gesagt. Mittlerweile würde ich sagen: die Sprachen, die ich spreche und verstehe, sind mein Zuhause. Wo ich im Kaffeehaus bestellen kann; und scherzen. Und die Leute mit mir lachen.

 

BIO

Andrea Grill lebt als Dichterin und Schriftstellerin in Wien und Amsterdam, macht Kurzfilme und übersetzt aus mehreren europäischen Sprachen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (2011) und dem Anton-Wildgans-Preis (2021). Der Roman „Cherubino“ war 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Gedichtband „Happy Bastards“ stand auf der Liste der Lyrikempfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. www.andreagrill.org

Regine Koth Afzelius | Intermezzo Bar, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Regine Koth Afzelius
 

Immer schon beides: gern nachgiebig, gern bestimmt. Gern königliche Pferdediebin, gern pferdestehlende Königin. Gern Kellertheater Pocky Pockberger, gern Burgtheater Ofczarek. Gern Heuriger Hengl-Haselbrunner Trio Lepschi, gern Musikverein Wiener Philharmoniker. Gern Cartoons Martin Perscheid, gern Malerei Franziska Maderthaner. Gern Texte Selma Heaney, Peter Hodina, gern Heimito von Doderer. Gern Helge Schneider, gern Lisa Eckhart.

Gern Katze, gern Hund! Gern Betrachten der Hühner – das gscheckte: grad rennts durchs Gehege im Schnabel den Wurm, erhobenen Hauptes, hinterdrein die anderen, und gleich drauf in umgekehrter Richtung das braune, denselben Wurm in der Reißn, verfolgt von gackerndem Geflatter.

Gern Heumarkt, gern Bar Intermezzo. Visavis voneinander. Ich parke dazwischen. In beiden daheim. Um beide stets bangend: beim einen droht Geldnot, beim anderen Abriss. Im einen weiß man Persönliches, im anderen meinen Cocktailwunsch. Im Heumarkt sitz ich auf dem schwarzen Klebestreifen einer ermüdeten roten Kunstlederbank, verklärt vom Surren der Mehlspeisvitrine und vom geliebten schrägen Brüderpaar, im Intermezzo versinke ich in wohnzimmerlicher Poltrona, verklärt vom internationalen Pathos und dem schönsten Luster der Welt. Erst essen im einen, dann enden im anderen. Amen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Regine Koth Afzelius: Sprachkunst. Fesseln muss ein Text, überraschen und entführen. Im eigenen Schreiben suche ich nach Ventil und Portal zur Bewältigung von Realität. Will alles loswerden an möglichst viele – aber nicht zu deren Betroffenheit, sondern zur unterhaltsamen Erkenntnis. Wie hochtrabend! So what. Und dafür Lob und Anerkennung. Ha.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RKA: Ich lebe auf dem Land – und pflege Stadtfreundschaften. Dazu bedarf es Cafés als Raum für Austausch. Nur in den beiden vorhin genannten nonchalanten finde ich die Atmosphäre für Gespräche, wie ich sie mag: konzentriert, nährend, intim.

Warum hast du die Bar Intermezzo ausgewählt?
RKA: Dieser Luxushauch!

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
RKA: Aufstehn! Hendl aus dem Stall! Samt Kaffee zurück ins Bett, WhatsAppen mit der Welt. Dann Schreiben am neuen Roman. Nachmittags Entfernen morscher Föhren und Birken mit der Motorsäge. Oder Waldgang. Wenn Gedanken drängen: nochmals schreiben. Zur blauen Stunde Dahinschmelzen im Sofa, als Abspann des Tages schwindender Fernblick hinaus aufs Federvieh, bis es Zeit für den Abendfilm.

 

BIO

Geboren 1962 in Wien. Studierte Architekturen an der Arkitektskolen Aarhus | Dänemark und an der Universität für angewandte Kunst Wien. 1997 Architekturdiplom. Seit 2008 Landleben. Webdesignerin. Bildende Künstlerin. Autorin. Arbeit am vierten Roman.

Nadya Radulova | Schroedinger Bar, Sofia

Foto: Alain Barbero | Text: Nadya Radulova | Übersetzung des bulgarischen Textes: Vera Trajanova, des Interviews und der Bio auf Englisch: Daniela Gerlach

 

Herbst im Hof der Bar Schroedinger

Am Hofende, am Katzentisch,
unter dem welken Blauregen, zwischen dem
Nachmittagskaffee und dem Vorabendpastis,
keine einzige Zeile geschrieben, schaue ich zu
wie eine rötliche Streunerkatze
den Schwanz nach oben richtet und
abermals das Experiment übt:

sie hebt den Kopf, macht einen Buckel,
rafft sich auf, springt mit aller Kraft als ob sie über die Mauer will
und als sie die Höhe erreicht, 
wo ich erwarte, dass sie Flügel zückt und spannt,
streckt sie bloß eine Pfote aus, hebt den Deckel 
und kratzt den Himmel blutig
mit ihren Tintenkrallen.

 

Original (Bulgarisch)

Есен в градината на бар Шрьодингер

От масата в дъното на двора,
под посърналата глициния, между
следобедното кафе и привечерния пастис,
ненаписала нито ред, наблюдавам как
една рижо-червена улична неподобрена
вирва опашка и за пореден път днес
упражнява експеримента:

вдига нагоре глава, извива гръбнак,
набира се, скача с все сила уж да прехвърли оградата
и когато достигне височината, на която
очаквам да извади крилe и да ги разпери,
тя просто протяга лапа, повдигa капака
и одира небето до кръв
с мастилените си нокти.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Nadya Radulova: Als radikale Form der Identifizierung und der Umsetzung verlängert Literatur unsere Lebensdauer, gibt uns das Geschenk der Unsterblichkeit. 

Was bedeuten Cafés für dich?
NR: Räume zum Runterkommen und Nachdenken, wo ich mich nicht für mein Nichtstun schuldig fühlen muss.

Wo fühlst du dich zu Hause?
NR: Überall, wo ich meine Stimme hören und sie als meine eigene erkennen kann.

 

BIO

Nadya Radulova ist Schriftstellerin, Verlegerin und literarische Übersetzerin. Sie hat sechs Gedichtbände geschrieben, darunter die preisgekrönten Bände „Albas“, „When They Fall Asleep”, und „Little World, Big World”. Radulovas Gedichte und Kurzgeschichten wurden u.a. ins Englische, Spanische, Deutsche, Rumänische, Türkische und Griechische übersetzt ; der zweisprachige Gedichtband „Kleine Welt, große Welt“ ist ihr erstes Werk in deutscher Übersetzung und erscheint im März 2023 beim eta Verlag. !
https://www.eta-verlag.de/produkt/kleine-welt-grosse-welt/