Schlagwortarchiv für: Barbara Rieger

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Safiye Can | Heimathafen, Offenbach am Main

Foto: Alain Barbero | Text: Safiye Can, Auszug aus „Rose und Nachtigall“ (Wallstein, 2020)

 

Im Land der Rosen und Nachtigallen
wurde eine andere zu der
die ich sein sollte.
Nun geschieht immer alles an Orten
an denen ich mich nicht aufhalte
man kann sich in einen Kilim
einrollen, in einer Tasse Kaffee ertrinken
einer Pusteblume um den Hals fallen
und losschluchzen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Safiye Can: Sauerstoff, Nahrung, Bildung, Freude. Und so viel Arbeit, dass es an Selbstzerstörung grenzt.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SC: Kommt auf das Kaffeehaus an. Ein Ort der Begegnungen, des Austauschs und bestenfalls des guten Schreibens.

Warum hast du den Heimathafen ausgewählt?
SC: Aufgrund des Namens und wegen des Bembels in einem der stylischen Regale.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
SC: Ich fände eher die Frage interessant, was das Café macht, wenn ich nicht im Café bin.

 

BIO

Safiye Can, Lyrikerin, Autorin, Dichterin der konkreten und visuellen Poesie, Herausgeberin sowie literarische Übersetzerin. Die Lyrikbände der Autorin wurden kurz nach der Publikation zu Bestsellern.
Can leitet Schreibwerkstätten an Schulen und anderen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche im In- und Ausland, und sie ist Gründerin der Schreibwerkstatt Dichter-Club.
Sie ist Kuratorin der Zwischenraum-Bibliothek der Heinrich-Böll-Stiftung, wurde u.a. mit dem Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis und dem AMF-Preis für aufrechte Literatur ausgezeichnet, und sie ist als Gastdozentin tätig (u.a. Northern Arizona University/USA).
Sie ist Vorstandsmitglied der renommierten Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik: die horen, Mitglied bei der internationalen Schriftstellervereinigung PEN, ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Amnesty International und setzt sich darüber hinaus stark für Tierrechte ein.
www.safiyecan.de

Letzte Publikationen:
Rose und Nachtigall, Liebesgedichte
Kinder der verlorenen Gesellschaft. Gedichte

 

Philippe Baudry | Aux Sportifs, Vanves

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Baudry | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Unendliche Veralterung, die Langeweile räkelt ihre Ausschweifungen, Belieben des Wartens im exakten Mittelpunkt der Seele. Der Bierdeckel saugt das Elixir zuerst auf und sabbert dann den Überschuss auf den Lack, klebrige Gerstensaftringe in der perlmuttenen Dunkelheit.

Eindringender Nebel, bitteres Gift der Adern der Sorglosigkeit. Nichts hervorbringen, Unendlichkeit, getarnte Effizienz der Trägheit. Göttliches Geheimnis unserer Seelen, die das Absolute des unvermeidlichen Anderen suchen, hervorquillt langsam die erhabene Melancholie des bitteren Sehnens.

Instabiles Gleichgewicht der Seele, stummer Star, Lebenskäfig, ich strebe nach dem anderen. Blauer Himmel zerzaust von lachenden Wolken, keinerlei Talent für die Gewissheit, Notwendigkeit zu leben. So viele Idioten um uns… jemand werden. Also gut: sein genügt nicht?

Auflachen, provokant, gurrend vor Präsenz. Stück eines Theaters, einfach, des Lebens.
Schulterstoß: Luftzug der schlagenden Tür, geölte Scharniere, Gelächter, Klappern von Geschirr, das Café wird voller, kleine Tische. Menschensittiche übertreiben es mit dem existenziellen Getöse.
Batman, der Lakritz-Minz-Kater, wackelt mit einem buschigen Schwanz zwischen Stuhlsprossen und Füßen.
Ich ertrinke in menschlicher Trägheit, benommen von Glück…

 


Interview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Philippe Baudry: Verblüfft, alle, durchqueren wir die Logik des Absurden unserer Leben; schreiben dient daher dazu:
– den alchimistischen Kreis aufzulösen
– den Reichtum unserer Sprache zu genießen, sie bis an die Grenzen eines subtilen und poetischen Verständnisses zu strapazieren; eine kleine innere Musik der Seele. Indem wir die Wörter hinunterstürzen, suchen wir ihr verschüttetes Geheimnis.
– in Resonanz mit dem Universellen zu treten und, befreit, sich selbst zu finden und sich den anderen zu öffnen

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
PB: Kaffeehäuser, gemeinschaftliche Orte, an denen man in eremitischer Einsamkeit leben kann, mit den anderen, dem Außer-sich. Sich vergessen, von der langweiligen Beständigkeit seines Seins abweichen, Niemandsland des Wartens.

Warum hast du „Aux Sportifs“ gewählt?
PB: Pariser Großstadtkind aus der Banlieue in rauen Mengen… sich in einer echten, normal gebliebenen Café-Brasserie, wie es sie bald nicht mehr geben wird, unters Volk mischen:
Zwei Schwestern schaffen eine erstaunliche Vorstadt-Symphonie; Martha am Klavier (… am Ofen), Germaine, Kammer- und Wirtsstuben-Sängerin, eine Bianca Castafiore mit kristallenem Lachen. In Sachen Schlagfertigkeit würde ein Michel Audiard neben ihr wie ein Ministrant dastehen. Thomas, der Neffe, sucht vergeblich nach einem noch so kleinen Platz für Männer, während Lélé (Eleonora), einer Lithographie von Toulouse Lautrec entsprungen, mit leichter Hand für beeindruckende Effizienz sorgt.
Von dieser gutbürgerlichen Küche mit ihren überquellende Speisefolgen hätte ein Chirac hier alles verschlungen, eingehüllt ins anschwellende Getöse. Die Zeit vergeht… die große Szene des dritten Akts kippt in Hysterie, eine surrealistische Kakophonie.
Oft allein an meinem Tischchen, gelingt es mir, dort zu lesen, zum fünfzehnten Mal dieselbe Zeile, manchmal im Nahkampf mit Lélé… damit sie mir die Holztafel mit dem Tagesmenü, die mir als Lesezeichen dient, nicht wegnimmt… Jetzt reichts aber, die Tafel ist nicht dafür da!… Batman, der Lakritz-Minz-Kater, hat etwas zugenommen. Weltgewandt und ungezwungen holt er sich flüchtige angedeutete Streicheleinheiten ab. Nach so langer Zeit immer noch an ihrem Platz, hält die Matte des alten, hinkenden, längst toten Hundes die Anwesenheit und das Verschwinden der Erinnerung an früher fest…

Was machst du, wenn du nicht in einem Café anzutreffen bist?
PB: Geschichte, Schreiben, Tai Chi und Daito Ryo, Neo-Genealogie, Aquarell, Irrungen der Seele und andere spirituelle Exegesen

 

BIO

Philippe Baudry, geboren am 11. Januar 1953, Magister der Geographie, später Doktorand, hat sich zuerst in Richtung Graphik orientiert, eher er, spät, zu schreiben begann. Seine Feder versucht die Idee der Geographie selbst in ihrem lebendigsten Sinn zu rehabilitieren, an eine körperliche Sprache des Materials „Natur“ anzuknüpfen, den universalistischen Geist der Gelehrtenrepublik wiederzufinden.
Publikation: „Du côté d’Oléron…“ : Edition LOCAL Mai 2020

Blog Entropy, Katharina Goetze, Alain Barbero, Barbara Rieger, Villa Neukölln, Café, Berlin

Katharina Goetze | Villa Neukölln, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Katharina Goetze

 

märz

du, der sich nicht bewegt
und ich, die so tut, als gäbe es da draußen was zu sehen
ihr schatten hängt noch immer an der wand
und ich erkenne dich
du bist jetzt ein fremder

so vieles wäre zeit
so vieles braucht zeit
in deinen augen fahren schiffe
und auf dem gehweg zertritt ein kind den ersten feuerkäfer des jahres
so sanft stirbt deine liebe für mich

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Katharina Goetze: Freiheit, Abenteuer, Hoffnung, Utopie, Schönheit. Zuflucht vor dem Wahnsinn.

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
KG: Meine Vorstellung vom Paradies: Den ganzen Tag im Café verbringen, mit Notizbuch und Zeitung oder Laptop und Roman. Ab und zu kommen Freunde vorbei, in den Stunden zwischendrin entsteht ein neuer Text. Abends gibt es weißen Spritzer (oder in Berlin eben Weißweinschorle), wir stehen vor dem Café und irgendjemand spendiert mir eine Zigarette, weil ich eigentlich nicht rauche.

Warum hast du die Villa Neukölln ausgewählt?
KG: Vor meiner Zeit in Wien habe ich einige Jahre in Neukölln gewohnt. Ich komme immer wieder gern hierher, am liebsten nach einem Spaziergang auf dem Tempelhofer Feld. Mit der Villa Neukölln verbinde ich auch die Erinnerung an mein früheres Berliner Autor*innenkollektiv Novelists Anonymous. Hier ist zum Beispiel eine meiner ersten Kurzgeschichten – „Bevor ich für immer verschwand“ – entstanden.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
KG: Autofiktionale Texte in der 2. Person schreiben oder systemkritische Liebesbriefe, mit dem Zug von Berlin über Dresden und Prag nach Wien fahren und die ganze Zeit im Speisewagen schreiben, lesen, Tee trinken (fast schon ein mobiles Kaffeehaus), die raue Schönheit von Plattenbauvierteln bewundern, mich nicht entscheiden können, beim Radfahren laut singen, in Buchläden Wärme suchen, bei einer Runde über das Tempelhofer Feld oder durch den Prater eine aus den Fugen geratene Welt wieder zurechtrücken, zu spät ins Bett gehen.

 

BIO

Geboren 1984 in Dresden. Nach Stationen in England, Ägypten, Laos, Österreich und Äthiopien, lebt sie seit 2020 in Berlin. Studium der Journalistik, Soziologie und der Modernen Nahostwissenschaften in London, Kairo, Oxford.
Preisträgerin beim Bundeswettbewerb Treffen junger Autoren, Lyrik in Fahrt und zeilen.lauf-Wettbewerb 2017. Finalistin des Open Mike 2018, des FM4-Wortlaut 2017 und 2019, sowie des Irseer Pegasus 2020.
Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Schreibt Prosa, Lyrik und Theaterstücke, und arbeitet derzeit an ihrem ersten Roman.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Philippe Mari, Café des Auteurs, Bistrot, Café, Paris

Philippe Mari | Le Café des Auteurs, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Mari | Übersetzung aus dem Französischen: Iris Harlammert & Martine Bernardin

 

Ein Café auf der Suche nach Autoren.

Ende der 90er Jahre war ich an der Gründung des Cafés im „Haus der Autoren“ in der Rue Ballu im 9. Arrondissement von Paris beteiligt. Als Drehbuchautor von TV-Serien und interaktiven Videospielen gehörte ich in dieser Zeit dem „Conseil d´administration de la Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques“ an, diesem renommierten Haus, das 1770 von Beaumarchais gegründet und später von Victor Hugo höchstpersönlich geleitet wurde.

Gerade als Sohn eines Bistrobesitzers hat man mich um eine Stellungnahme zur Organisation eines Cafés gebeten, das gleichzeitig ein gemütlicher Ort der Begegnung und ein geeigneter Arbeitsplatz für die Entwicklung von Projekten in den Bereichen der darstellenden Kunst und des Audiovisuellen sein soll. Ein echtes Café, aber ausschließlich für Autoren. Also brachte ich einige Vorgaben zu Papier, davon ausgehend, dass ein Schriftsteller ein Gast wie jeder andere ist, sobald er sich an einen Tisch gegenüber der Bar hinsetzt, bereit etwas zu verzehren.

Anscheinend war die Wette riskant: am Tag nach der Eröffnung fanden sich die ersten Ankömmlinge, ausgerüstet mit ihren Laptops, verstreut an den Tischen sitzend wieder, wahrhafte Pioniere dessen was sich heutzutage Co-Working nennt, auf ihren Tastaturen klimpernd, sich aus dem Augenwinkel belauernd, mit dem unangenehmen Gefühl in der Filmszene aus „Le Fantôme de la Liberté“ von Bunuel mitzuspielen, in der die Gäste in einem Salon versammelt sind, wo jeder auf einem Toilettensitz Platz genommen hat.

Unter dem Blick von anderen Schriftstellern zu schreiben war damals noch beinah obszön und es hat einige Jahre gebraucht, bis sie ihr literarisches Schamgefühl überwinden konnten.

Wenn es Sie heute danach dürstet, dort an einem Tisch ein paar Zeilen zu schreiben, dann empfehle ich Ihnen zu reservieren.

 


Interview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Philippe Mari: Ohne Literatur gibt es keinen Austausch, weder über den individuellen Blick auf die Welt noch über das Erleben jeden Bewusstseins, die zwei Komponenten, die unsere Zugehörigkeit zur Menschheit ausmachen. Die Literatur ist, wie die Mehrheit der höheren Künste, die letzte Bastion des Geistes gegen die künstliche Intelligenz.

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
PM: Das Kaffeehaus ist der Lebensmittelpunkt meiner Kindheit. Ich habe dort mehr Zeit in kurzen Hosen bei den Hausaufgaben verbracht, als jetzt als Schriftsteller vor dem leeren Blatt Papier.

Warum hast du das Café im „Haus der Autoren“ ausgewählt?
PM: Dieses Café ist dort vor 20 Jahren entstanden, wo vorher eine leerstehende Polizeistation war. Ich empfinde es als Sieg der Kultur über die Polizei, mit der Notwendigkeit eines Tages zu einem Geständnis zu gelangen.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
PM: Ich reihe die Stunden aneinander, bis die Zeit gekommen ist, mich an den Tisch, der mich empfängt, zu setzen, damit aus dem unterwegs mit vielversprechenden Eindrücken vollgesaugten Schwamm ein brauchbarer literarischer Saft herausfließt.

 

BIO

Philippe Mari war Drehbuchautor von zahlreichen Videospielen für Konsole und Internet sowie von vielen TV-Serien. Schließlich kam er wieder zurück zum Papier und veröffentlichte Erzählungen wie „Tch tch tchtt“ oder „L´Homme qui ne pouvait pas mourir“ (Der Mann der nicht sterben konnte), derzeit arbeitet er am Roman „La Dame au Taliban“.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Ally Klein, Einer der Tagen, Café, Berlin

Ally Klein | Einer dieser Tage, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Ally Klein, Auszug aus „Carter“ (Droschl, 2018)

 

Ein Windzug kam auf, fegte ihr das Gesicht frei, änderte seine Richtung und blies wieder einzelne Strähnen hinein. Haarsträhnen wie feine Linien, feine Striche, Streichungen, eine verwirrte sich in ihrem Mund und verlängerte den Zug bis in die Schläfe, den Haaransatz, schwarz wie die Nacht, wurde unsichtbar zur ihr, nur Dunkelheit statt Kopf.

Carter sah hinauf. „Es wird bald regnen.“

Zu Hause machte ich Eier. Carter aß nichts, sie schenkte lachend den mitgenommenen Whisky in die Schalen ein, wir stießen an und kippten ihn gegen alle Regeln wie Kurze. Die spitzen Ränder stachen beim Trinken leicht in die Lippen. Ich kicherte jedes Mal, weil es kitzelte, mir war leicht. Ich erzählte Carter eine lange Geschichte, ohne dass sie auf etwas hinauslief, sie lächelte sich durch sie und schwieg die meiste Zeit.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Ally Klein: Literatur bietet eine Ansicht der Dinge und gibt eine Einsicht in sie, zu der unsere alltägliche Sprache nicht fähig ist. Es entsteht eine sprachlose, sprachunfähige Unmittelbarkeit, eine stumme Erkenntnis, der wir ausgeliefert sind, an die wir anders mit Worten nicht herankommen, die wir anders verbal nicht ausdrücken können. Es scheint ein Widerspruch zu sein, dass wir mit literarischer Sprache etwas errichten, etwas sehen können, was sich der Sprache eigentlich entzieht.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AK: Da denke ich recht praktisch: In Cafés kriegt man im besten Fall guten Kaffee, trifft seine Leute und hat ein gutes Gespräch an einem neutralen Ort. Lesen tue ich da manchmal auch. Aber nie schreiben. Dafür brauche ich absolute Stille, weil ich immer laut vorlesen muss, was ich da fabriziere. Rhythmus und Sprachklang sind für mich das A und O.

Warum hast du das Café „Einer dieser Tage“ in Berlin ausgewählt?
AK: „Einer dieser Tage“ mag ich, weil es ein Nachbarschaftscafé ist, ein Treffpunkt für alle möglichen Leute. Es ist um die Ecke von meiner Wohnung, sie haben guten Kaffee, fantastisches Eis und sehr freundliche Inhaber.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
AK: Wenn ich nicht im Kaffeehaus sitze, sitze ich auf meinem Fahrrad, das ist die Verlängerung meines Körpers. Ich dachte nicht, dass ich einen Gegenstand so lieben kann. Ich nutze nie öffentlichen Verkehr, aber bin meistens unterwegs. Ich treffe Menschen, lese und bewege mich fort.

 

BIO

Ally Klein, 1984 geboren, studierte Philosophie und Literatur. Sie lebt und arbeitet in Berlin. „Carter“ ist ihre erste literarische Veröffentlichung.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Claude Ber, Le Cavalier Bleu, Café, Paris

Claude Ber | Le Cavalier Bleu, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Claude Ber, Auszug aus Mues, Ed. PUHR 2020 | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

(…)
Die Café-Terrasse gärt – Fortsatz eines unsteten, zu Ende gehenden Traums.
Die Zeit hat an einem Netz aus Flechten angehalten
einem Vorhängeschloss am Blech einer Autowerkstatt, gelb auch dieses
dem Geräusch eines Flaschenregals und von Kuhglocken.

Man zerreißt ein Stück Papierserviette, einen in der Tasche vergessenen Fahrschein
in den Bewegungen Gründlichkeit
eine unschuldige Weise, sich dem Jetzt anzupassen.
Die Welt kickt Köpfe, mit genagelten Tretern
Füße gehen vorbei in grellbunten Schuhen und scheuchen Schritt für Schritt Spatzen auf.
Der Schwung entsteht aus dem Abdrücken über die große Zehe, nicht aus der Wade oder dem Schenkel. Aus der Zähmung der kleinen.
Dass die Schönheit die Welt retten wird, ist ein Traum von Fantasten, setzt der Papst der Tafelrunde fort. Oder eher die Wette eines Spielers. Gibt es übrigens etwas zu retten?
Falls ja, dann gehört dieses winzige Gestammel
uns.

Man hat den Glauben ans Wort nicht ständig an die Seele gedübelt. Mit Augen und Ohren suche ich nach einem Hinweis darauf. Eine erreichbare Assonanz im Neonrosa des Erdbeereises.
In der Ferne zu suchen bringt nichts, suchen auch nicht. Und da die Welt an den Flachdächern der Sozialbauten zerschellt, richte ich auf ihre türlosen Flure einen neugierigen und desillusionierten Blick.
Wer wird aus der besprayten Höhle kommen?
Plato und seine fleißigen Schüler schlummern vor den Schatten. Ich vor den sonnenbeschienenen Plakaten und ihren Scharaden aus Leuchtflecken. Das Licht eignet sich genauso gut für den Traum wie die Nacht.
(…)

Der Morgen stürzt auf sein Ende zu
angelehnte Dinge – Fenster, Münder, Tore, halbgeöffnete Hände – bleiben stehen
es ist woanders Mitternacht und Mittag knapp über den heruntergelassenen Rolläden
die Höflichkeit würde verlangen, dass man in ähnlicher Weise zu leben verstehe.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Claude Ber: Sie ist untrennbar mit dem Leben verbunden. Das ist meine Weise, auf dieser Welt zu sein.

Was bedeuten Cafés für dich?
CB: Ein Ort der Begegnung und der Beobachtung, der das Vertraute mit dem Unbekannten verbindet. Ich finde dort die Atmosphäre der Samstage meiner Kindheit wieder, im Café, das mein Großvater führte, und wo ich Gesichter und Szenen beobachtete, in ihrer Mischung aus Unerwartetem und Ritual – dem der Stammgäste, des Aperitifs, des Kaffees… ich lege dort einen Vorrat an Eindrücken und Bildern an.

Warum hast du „Le Cavalier Bleu“ gewählt?
CB: Der Cavalier Bleu befindet sich in einem zentralen Viertel von Paris, wo ich regelmäßig Freunde nach einem Stück oder einer meiner Lesungen in der Maison de la Poésie de Paris treffe, oder auch nach dem Besuch einer Ausstellung im Centre Pompidou.
Ich liebe sein reges Treiben wie in einer typischen Pariser Brasserie, wo einander Menschen aller Art begegnen, und seinen Namen Cavalier Bleu (= Der Blaue Reiter), mit allem, was er für mich an Verbindung mit der Malerei und mit Erinnerungen an Deutschland verkörpert. Mehrere Vorstellungswelten kreuzen sich dort. Die Bierkellnerin von Manet trifft die Kandinskys und Bacons aus dem Centre Pompidou, der Geist des Blauen Reiters den belebten und weltstädtischen Alltag des Pariser Lebens…

Was machst du, wenn du nicht in ein Café gehst?
CB: Ich lebe! Ich liebe, ich schreibe, ich lese, spreche, höre zu, reise, besichtige, spaziere, träume, treffe, wandere, esse, schwimme, schlafe, atme, schaue, betrachte usw, usw.

 

BIO

Nach einem Studium der Literatur und Philosophie unterrichtete Claude Ber in der Sekundarstufe und an der Universität. Sie hat vor allem Lyrik veröffentlicht, aber auch Theatertexte, die in französischen Nationaltheatern uraufgeführt wurden. Zahlreiche Artikel, Studien und Zeitschriften wurden ihren in mehrere Sprachen übersetzten Werken gewidmet. Letzte erschienene Bücher:  Il y a des choses que non, La Mort n’est jamais comme (prix international de poésie Ivan Goll) Ed. Bruno Doucey, Mues, Ed. PUHR Site : www.claude-ber.org

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Norbert Gstrein, Café Leonard, Kaffeehaus, Café

Norbert Gstrein | Café Leonar, Hamburg

Foto: Alain Barbero | Text: Norbert Gstrein

 

Seit einiger Zeit schon sitze ich, wenn ich in Hamburg bin, am Morgen im Café Leonar am Grindelhof, um dort die Neue Zürcher Zeitung zu lesen und die Süddeutsche durchzublättern, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setze. Davor gehe ich in das dem Abaton Kino gegenüberliegende Balzac Café und lese dort die FAZ. Ich sehe streng zu, dass die ganze Prozedur nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nimmt. Im Leonar ist mein Platz nicht auf dem Sofa wie auf dem Bild, das Alain Barbero von mir gemacht hat, sondern an einem kleinen runden Tischchen mit Blick aus dem Fenster direkt daneben. Das Café öffnet um acht Uhr am Morgen, und ich treffe gewöhnlich zwischen acht Uhr zehn und acht Uhr zwanzig ein und bin mir meiner Zwanghaftigkeit und Schrulligkeit durchaus bewusst. Wenn ich zu glauben anfange, dass die Kellnerinnen und Kellner über den merkwürdigen, nicht mehr jungen Mann zu sprechen beginnen, den ich für sie darstellen muss, bleibe ich ein paar Tage lang weg und starte irgendwann den nächsten Zyklus. Ich betrete das Café dann wie zum allerersten Mal, ein Doppelgänger oder Stellvertreter meiner selbst, und bin am zweiten Tag schon wieder Stammgast. Neulich hat mich eine andere Besucherin des Cafés offensichtlich mit einem österreichischen Schriftsteller verwechselt und mir von dessen jüngstem Buch vorgeschwärmt. Sie hat gesagt, sie sei selbst aus der Buchbranche und sie werde es sich über ihre Kanäle kommen lassen. Ich wollte sie nicht fragen, warum sie dafür Kanäle benötigte und es nicht einfach kaufte wie andere Menschen auch, aber diese Formulierung und ihr Gehabe als ausgewiesene Vertreterin der Hamburger Kulturwelt haben mich zutiefst demoralisiert. Deshalb habe ich mir vorgenommen, das Café den ganzen Winter nicht mehr zu betreten und lieber an die Elbe zu gehen und den Möwen zuzusehen, nach Tirol zurückzukehren und Skilehrer zu werden oder ein für alle Mal nach Australien auszuwandern und dort Schafe zu züchten.

 


BIO

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis, den Uwe-Johnson-Preis und 2019 den Österreichischen Buchpreis. Bei Hanser erschienen: „Die Winter im Süden“ (Roman, 2008), „Die englischen Jahre“ (Roman, Neuausgabe 2008), „Das Handwerk des Tötens“ (Roman, Neuausgabe 2010), „Die ganze Wahrheit“ (Roman, 2010), „In der Luft“ (Erzählungen, Neuausgabe 2011), „Eine Ahnung vom Anfang“ (Roman, 2013), „In der freien Welt“ (Roman, 2016), „Die kommenden Jahre“ (Roman, 2018) und „Als ich jung war“ (Roman, 2019).

 

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Ditha Brickwell, Feuerbach Café, Café, Berlin

Ditha Brickwell | Feuerbach Café, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Ditha Brickwell

 

Das Kaffeehaus ist mein Sehnsuchtspol. Um mich herum ist Vielfalt, und nach überall hin sind Wünsche unterwegs. In meinem Berliner Café Feuerbach sehne ich mich nach Wien, nach meinem Stammcafé in der Josefstadt (wo ich, noch nicht 14 Jahre alt, meine ersten Zigaretten rauchte, Kakao trank und Lesenachhilfe gab, um das zu finanzieren). Dort im Café Hummel herrscht eine Schwirrwolke glücklicher Stimmen, zum Klappern von Schachfiguren, zum Rascheln der Weltpresse. Ein Berliner Freund sagte, wenn er traurig sei, wünsche er sich nach Wien, dass ihm die Kaffeehausstimmen wieder froh machten… Und wenn ich in Wien ankomme, begrüßen mich die Ober überschwänglich in meinem geistigen Zuhause, und ich setze mich auf meinen Stammplatz – und sehne mich nach Berlin, nach den fröhlichen Stimmen der jungen Menschen auf harten Stühlen an eng gestellten Tischen, nach dem Stimmenlärm, der von den Wänden zurückschlägt und mich ärgert, nach dem ironisch-knappen Wortgeplänkel des Kellners – nach der klaren Wirklichkeit Berlins. Ich träume von den Alleen, großzügigen Gründerzeitbauten mit ihren Balkonen und Loggien, den lichtdurchfluteten Räumen und den gläsernen Schiebetüren; ich liebe die leeren Flächen und nackten Brandmauern, die einer unbestimmten Zukunft entgegen warten … und die Rätselschriften der Graffiti an den Stützwänden der S-Bahn Schluchten. Ich warte auf den Duft der Linden und auf das Herbstgold der Buchenwälder in Wannsee. Berlin, sagt man, hat viele Kulturen. In Wien sagt man, es sei eine Weltstadt der Kultur, die man überallhin exportiere; Berlin ist bescheiden, Wien ist eigensüchtig, kommt mir vor; und ich bin in beiden Städten zu Hause. Metropolen sind sie, meine beiden Lieblinge, die alle unsere Spannungen abbilden, wer sie zu lesen vermag, und viele Kulturen zeigen, wenn ihr hinschaut; und sie kommen alle ins Kaffeehaus zu dir herein, dass du sie begreifst und ich darüber schreiben kann. Das Kaffeehaus – mein Sehnsuchtspol der Welt.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Ditha Brickwell: Literatur bannt den besonderen Augenblick, überhöht ihn – und ist eine Möglichkeit, der Wahrheit hinter den Dingen näher zu kommen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
DB: Cafés sind eine Theaterumgebung, du hörst die Stimmen, siehst die Leute, lernst, was vor sich geht in der Gesellschaft

Warum hast du das Café Feuerbach ausgewählt?
DB: Es ist mir vertraut, seit unsere Tochter zwei Stockwerke darüber wohnte. Leute aus dem Quartier kommen, die Küche ist gut und das Ambiente bescheiden. So mag ich das.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
DB: Schreiben. Den Alltag bändigen. Mit Kindern sein – im Sommer im Garten. Im Herbst und im Winter gelegentlich auf Reisen.

 

BIO

Ditha Brickwell ist 1941 in Wien geboren; studierte in Wien, Berlin und New York; wirkte für die ökonomische Entwicklung der Städte in Berlin, Brüssel und Paris; schreibt seit 1987 Romane, Essays und Erzählungen, seit 2005 als freie Schriftstellerin, lebt in Berlin und Wien. Bislang liegen elf Bücher vor.

 

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Aiat Fayez, Das Möbel, Paris

Aiat Fayez | Das Möbel, Wien [2/2]

Foto: Alain Barbero | Text: Aiat Fayez | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Seine große Liebe zum Café Möbel liegt bestimmt darin begründet, dass der Schriftsteller hier seine Art zu sein bewahrt fühlt: All die Computer auf so vielen Tischen zu sehen gibt ihm jedes Mal aufs Neue die Sicherheit, völlig anonym sein zu dürfen, in diesem langgestreckten Raum, der es ihm erlaubt, nach vorne zu schauen und seinen Blick sich im Leeren verlieren zu lassen, wie der Fischer seine Schnur auswirft, mit einem Haken am Ende: Der Fisch, das ist die Idee, die Vorstellung. Und oft findet der Autor den Gedanken amüsant, dass er aussehen muss wie ein alter Doktorand unter all diesen Studierenden. Die Beleuchtung in diesem Café könnte besser sein, kein Tisch wird für Stammgäste freigehalten, doch im Grunde kann der Schriftsteller noch auf vieles mehr verzichten, solange er im Gegenzug dafür Unsichtbarkeit bekommt. Wenn das Jelinek auch das Café seines Herzens ist, so hat das Möbel darin ohne den geringsten Zweifel einen bevorzugten Platz.

Nein, zuhause könnte er nicht bleiben: Die Stille würde ihn umbringen: Die Stille einer Bibliothek oder eines Museums bringt ihn sofort um die Konzentration. Er braucht die anderen, der Schriftsteller, dieser hier wenigstens: Er will die Gegenwart von Menschen, aber als Hintergrund, um auf sich selbst konzentriert bleiben zu können: Dank der anderen kann er sich allein fühlen. Die Abgeschiedenheit ist seine Sache nicht, doch die Einsamkeit ist das Brett, an das er sich klammert.

So oft, wie er ins Möbel geht, wird er dort eines Tages als Teil des Mobiliars gelten, dachte der Schriftsteller einmal, innerlich lachend. Im Gesicht jeder einzelnen Kellnerin entdeckt er ein Gemälde oder eine Romanfigur: es gibt dort das Selbstporträt von Parmigianino, von Anfang an ein kurzer Schimmer in seinem Herz, so wie eine andere, die ihn an Nadja von André Breton denken lässt; bei wieder einer anderen sieht der Schriftsteller eine Kombination aus Leonardos Mona Lisa und Ginevra de‘ Benci, während er der vierten insgeheim für ihren Kleidungsstil gratuliert, und so geht es bei den anderen weiter.

Unabänderlich bestellt der Schriftsteller Cappuccino: Würde man ihm die Augen verbinden, müsste er nur daran nippen, um zu erraten, welche der Kellnerinnen ihn serviert: Es sind die gleichen Kaffeebohnen, die Maschine ist dieselbe, und doch ist der Cappuccino der einen stärker als der der anderen; der einer dritten ist milder; eine andere füllt die Tasse ein kleines bisschen weniger an als ihre Kolleginnen, dafür ist der Milchschaum bei ihr ungleich samtiger. So geht es dem Schriftsteller: Niemals beginnt sein Tag auf die gleiche Weise, er, der auf Arbeitsdisziplin und seine kleinen Marotten Wert legt, befindet sich am gleichen Ort, im gleichen Viertel, umgeben von den gleichen Gesichtern: er ist zuhause, ohne zuhause zu sein. Und im Grunde ist es diese Erschütterung, die ihn anrührt: ein paar Takte Exil.

 


BIO

Aiat Fayez, geboren 1979, studierte Philosophie in Paris. 2010 verließ er Frankreich, lebte in Berlin, Oxford, später Wien, wo er sich dem Schreiben widmet. Er hat bisher drei Romane im Verlag P. O. L. veröffentlicht, sowie zehn Theaterstücke im Verlag L’Arche. 2016 war er im Finale des Grand Prix de littérature dramatique, im selben Jahr wurde ihm der Prix Scenic Youth zuerkannt. Das Kulturministerium verlieh ihm 2018 den Orden Chevalier des Arts et des Lettres.

Romane: 2009 : Cycle des manières de mourir, éditions P.O.L, 2012 : Terre vaine, éditions P.O.L, 2014 : Un autre, éditions P.O.L
Theater: 2011: Les Corps étrangers, L’Arche Éditeur (deutsche Übersetzung : Fremdkörper. In: Scène 16, Neue französische Theaterstücke, Hg. v. Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand, Theater der Zeit, Berlin 2013), 2015: La Baraque, L’Arche Éditeur, 2016: De plus belles terres / Angleterre, Angleterre, L’Arche Éditeur, 2018: Place des Minorités / Le Monologue de l’exil, L’Arche Éditeur. Bei L’Arche Agence: 2013: Perceptions, 2013: Naissance d’un pays, 2015: L’Éveil du printemps (deutsche Übersetzung : Frühlingsgefühle, verfügbar unter: https://henschel-schauspiel.de/de/werk/5209), 2016: La Valise, 2019: Un pays dans le ciel

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Aiat Fayez | Das Möbel, Wien [1/2]

Foto: Alain Barbero | Text: Aiat Fayez | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Der Schriftsteller liebt sie alle, die Kellnerinnen des Café Möbel, wenn er auch nicht mit Sicherheit sagen kann, ob das auf Wechselseitigkeit beruht. Daraus schöpft er seine Melancholie, und ziemlich oft fragt er sich, ob nicht auch ein anderer Ort möglich wäre, ein Woanders. In seinem Innersten weiß er jedoch, dass das nicht sein kann: dass er dort ist, in diesem Café, allein, vor handgeschriebenen oder gedruckten Sätzen, und dass er das immer bleiben wird, in allen Cafés, die er besucht, egal ob in Wien, Paris, Budapest, Zürich, Oxford oder Basel, weil er keinen anderen Weg gefunden hat, zu sein, als einen einsamen, nebelverhangenen, in vielerlei Hinsicht stillen Pfad.

Wenn der Schriftsteller sein Innerstes erforscht, was er mit der gleichen Selbstverständlichkeit tut, mit der andere atmen, und das so gründlich, dass er sich oft verirrt, in sich selbst genauso wie in den Straßen dieses Wien, in dem er doch seit so vielen Jahren lebt, wenn er also sein Innerstes erforscht, wird ihm klar, dass er nicht geliebt werden kann, da er die Liebe, die er für andere empfindet, ständig in ihrer Erfüllung scheitern lässt: er wirft ihr Knüppel zwischen die Beine, damit sie unmöglich wird: So genießt er es – wobei der Genuss mit der Verzweiflung spielt – sich verlassen zu fühlen, vereinsamt, ohne Zuflucht: im Exil. Es ist mehr als eine Bedingung für seine Arbeit, Schriftsteller zu sein ist schließlich in vielerlei Hinsicht mehr als eine Arbeit: es ist eine Art zu sein, bei der es darum geht, außen vor zu bleiben, sich am Rand herumzutreiben, sich dem Abgrund zu nähern: Ausgegrenzt sein zu wollen, das heißt: die Realität nicht zu akzeptieren. Sie nicht zu verleugnen, sondern sich dazu zu zwingen, sie durch das Prisma der Kunst zu sehen; dafür zu sorgen, dass sie durch die Kunst erhöht wird. Und zwischen der Liebe zu den (vorgestellten) Menschen und der Angst vor diesen (wirklichen) Menschen, da liegt nur ein schmaler Grat, auf dem der Schriftsteller taumelt. Eines Tages wird er vielleicht abstürzen. So, wie alle Schriftsteller, die vor ihm abgestürzt sind und alle diejenigen, die nach ihm abstürzen werden. So einsam sie verharren, so schweigsam sie sind, so fremd sie einander bleiben – was die Schriftsteller, die wahren, ohne ihr Zutun verbindet, ist eine Schicksalsgemeinschaft über Zeit und Raum hinweg: Sternenfreundschaften, erschaffen durch das Lesen der Bücher.

Fortsetzung folgt…

 


BIO

Aiat Fayez, geboren 1979, studierte Philosophie in Paris. 2010 verließ er Frankreich, lebte in Berlin, Oxford, später Wien, wo er sich dem Schreiben widmet. Er hat bisher drei Romane im Verlag P. O. L. veröffentlicht, sowie zehn Theaterstücke im Verlag L’Arche. 2016 war er im Finale des Grand Prix de littérature dramatique, im selben Jahr wurde ihm der Prix Scenic Youth zuerkannt. Das Kulturministerium verlieh ihm 2018 den Orden Chevalier des Arts et des Lettres.

Romane : 2009 : Cycle des manières de mourir, éditions P.O.L, 2012 : Terre vaine, éditions P.O.L, 2014 : Un autre, éditions P.O.L
Theater: 2011: Les Corps étrangers, L’Arche Éditeur (deutsche Übersetzung : Fremdkörper. In: Scène 16, Neue französische Theaterstücke, Hg. v. Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand, Theater der Zeit, Berlin 2013), 2015: La Baraque, L’Arche Éditeur, 2016: De plus belles terres / Angleterre, Angleterre, L’Arche Éditeur, 2018: Place des Minorités / Le Monologue de l’exil, L’Arche Éditeur. Bei L’Arche Agence: 2013: Perceptions, 2013: Naissance d’un pays, 2015: L’Éveil du printemps (deutsche Übersetzung : Frühlingsgefühle, verfügbar unter: https://henschel-schauspiel.de/de/werk/5209), 2016: La Valise, 2019: Un pays dans le ciel