Vincent Lisita | L’ Aragon, Pau (Frankreich)
Foto: Alain Barbero | Text: Vincent Lisita | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp
Niemand aus meiner Familie hätte es gewagt, die Tür der Brasserie L’Aragon zu öffnen: „zu exklusiv“ – ein Tabu, mit dem ich (auch heute noch) jeden Tag ringe.
Seit 1994 bin ich das einzige konstante Element dieser Brasserie, die sich aus der Ferne mit den Pyrenäen misst: Chefs, Personal, Stammgäste, Einrichtung, alles um mich herum verändert sich immer wieder mal … Aber ich kann nur hier arbeiten, nichts lenkt mich ab, kein Geräusch stört mich. Ich habe keinen festen Tisch, sondern mag eine Zeit lang diesen Platz und dann jenen, wie die Katzen … Nichts, keine Uhr oder Kalender, weder das Kommen noch das Gehen der anderen sagt mir, welchen Tag und welche Uhrzeit wir haben. Ich war der Erste, der einen Laptop mitbrachte – seitdem habe ich Schule gemacht! –, und die neuesten Sitzbänke sind ideal: Ich kann stundenlang schreiben, ohne Nackenschmerzen zu bekommen. Lachen Sie nicht: Das ist ein echtes Thema für Autoren, die sich den 50 Jahren nähern!
Seit langem kommen meine Angehörigen unangemeldet zu mir, und jedes Mal entschuldigen sie sich dafür … dabei sollten sie sich ein für alle Male klar machen, dass sie mich nur dann stören, wenn sie nicht kommen.
Im Aragon habe ich in vollen Zügen sämtliche Intimitäten erlebt, die dreißig Jahre mit sich bringen können … Aber lassen Sie mich an ein goldenes Zeitalter zurückdenken. Als ich Student war, setzte ich mich an einen dieser Tische, die man auf Ihrem Foto erahnen kann, lieber Alain – diese Tische, die vom Boulevard aus nicht zu sehen sind … Dort schrieb ich meinen ersten Roman, unter strengster Geheimhaltung, da meine Eltern glaubten, ich sei in der Vorlesung. Ich hielt mich, relativ gesehen, für den „Jean-Claude Romand des Romans”!
Gestehen muss ich eine gelegentlich Untreue gegenüber meiner Lieblingsbrasserie. Die stellt sich dann ein, wenn ich von meinen Verlegern unter Druck gesetzt werde, mein Manuskript abzugeben, und ich den gesprächigsten Stammgästen entkommen muss …
Dennoch kehre ich immer wieder ins Aragon zurück.
Zwar habe ich noch nicht mit dem Wirt gesprochen. Aber ich weiß genau, wo meine Urne ihren Platz finden wird!
Interview mit dem Autor
Was kann Literatur bewirken?
Vincent Lisita: Wir drängen uns auf einer großen Kugel, die mit voller Geschwindigkeit ins Nichts geschleudert wird …
Glücklicherweise fördert die Literatur den Austausch von Emotionen und Ideen! Sie reist wie das Licht, und Tausende von Jahren können ihre Sender von ihren Empfängern trennen. Manchmal predigt sie sogar denen, die sich nicht bekehren lassen …
Wird man in unseren Cafés beim nächsten Urknall viel Aufhebens darum machen?
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VL: Da ich kein richtiges Büro habe, arbeite ich in der größten Brasserie meiner Stadt. Wenn ich auf Reisen bin, bin ich meinen Reisezielen ebenso treu wie den Cafés, die ich dort entdeckt habe: Sa Musclera in Binibeca, Pasticceria Rio Marin in Venedig, Pré aux Clercs in Saint-Germain-des-Prés …
An anderen Orten bin ich zerstreut, in Cafés finde ich wieder zu mir selbst.
Wo fühlst du dich zu Hause?
VL: Ich werde nicht mehr „in meinem alten Familienhaus” antworten, da ich mich dazu entschließen muss, es zu verkaufen … Ich fühle mich also zu Hause, sobald ich ungestört in mich selbst eintauchen kann. Wenn möglich mit einem langen Kaffee ohne Zucker!
BIO
Vincent Lisita wurde 1977 in Pau geboren und ist Kunsthistoriker.
Seit über dreißig Jahren beschäftigt er sich mit den Denkmälern seiner Heimatstadt und dem Werk und Leben von Charles Trenet.
Seine Schubladen und sein Klavier sind voll mit Romanen, Liedern … oder umgekehrt!