Beata Umubyeyi Mairesse | La Diplomate, Bordeaux

Foto: Alain Barbero | Text: Beata Umubyeyi Mairesse | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Es gibt Orte, deren bloßer Name die Erinnerung an einen bestimmten Augenblick hervorrufen, so erging es mir mit dem Teesalon „La Diplomate“.  Dabei ging ich dort nur sporadisch hin. Das erste Mal beeindruckte mich der Teesalon 2014.  Ich war mit zwei Freundinnen verabredet, um ihnen ein Projekt vorzustellen, das mir schon lange am Herzen lag: in Bordeaux einen afro-karibischen Lesezirkel ins Leben zu rufen. Es war Spätsommer, und diese Marguerite Duras-Atmosphäre, gedämpft und kühl (wegen der Steinmauern der Altstadt-Gebäude), das schien wie geschaffen für eine flammende literarische Unterhaltung. Sie teilten meine Leidenschaft und unsere unterschiedliche Herkunft bot einen unendlichen Horizont an Lesestoff. Ich war hochschwanger und deshalb vereinbarten wir, dass die Treffen des neuen Buchclubs im Herbst beginnen sollten. Mein Sohn kam am nächsten Tag zur Welt, und der Lesekreis wurde im November gegründet. 
Ich ging wieder in den Teeladen „La Diplomate“, um Tees und Kräutertees zu kaufen, hatte aber keine Zeit mehr, um zu verweilen, und so schwor ich mir, es nachzuholen, wenn die Kinder älter wären. Ich verließ den Laden mit Duftsäckchen, deren Namen von Städten aus aller Herren Länder den Hauch der großen weiten Welt verströmten und deren Besitzer diese poetische Beschreibungen hinzugefügt hatten. Am meisten liebe ich diese hier wie:

Kigali (Grüner Rooibos, Eisenkraut, Orangenschalen, ganze Himbeeren, Johannisbeeren, Ringelblumenblüten, Passionsblume, Apfelstücke): „Land der tausend Hügel, der endlich wiedergefundene Frieden, eine Hommage an die Zärtlichkeit der Seele, in der die Weiblichkeit Mutter und Licht ist“.

Sansibar (Grüner Tee Sencha, Erdbeerstückchen, ganze Himbeeren, Rosenblätter und Rosenknospen): „Afrika, Asien, die Feluken warten auf die Abfahrt nach Ceylon, die Segel blähen sich“.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur tun?
Beata Umubyeyi Mairesse: Als ich mit dem Schreiben meines ersten Buches begann, bin ich in einem Text von Zadie Smith über David Foster Wallace auf diese schöne Antwort gestoßen, die ich mir zu eigen gemacht habe „Gute Literatur ist dazu da, gestörte Menschen zu trösten und bequeme Menschen zu stören“.

Wie wichtig sind Kaffeehäuser für dich?
BUM: Es ist ein uneingelöstes Versprechen. Ein Buch, ein Tee, wiedergefundene Zeit.

Wo fühlst du dich zu Hause?
BUM: Dort, wo mich niemand fragt, woher ich (in Wirklichkeit) herkomme.

 

BIO

Beata Umubyeyi Mairesse ist in Ruanda geboren und aufgewachsen. 
Sie hat 15 Jahre lang Projekte zur Gesundheitsprävention in Frankreich und im Ausland koordiniert. 
Seit 10 Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Gedichte und mehrfach ausgezeichnete Romane. Zuletzt erschienen: ein Album für junge Leser (Peau d’épice, Éd. Gallimard jeunesse, 2023), ein Gedichtband (Culbuter le malheur, Éd. Mémoire d’encrier, 2004) und eine Erzählung, Le Convoi (Flammarion, 2024). Letztere wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix de l’essai France Télévision und dem deutsch-französischen Franz Hessel-Preis.

Marius Daniel Popescu | Café Romand, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Marius Daniel Popescu | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Du bist mehrere hundert Mal hier gewesen. Mit René-Luc, der dir von Gustave Roud erzählte, ihr habt Weißwein aus der Gegend getrunken. Mit Dominique, er erzählte dir von seinen Schülern und seinen Gedichten, ihr habt auf die Gesundheit aller Bewohner der Rue de Maupas angestoßen. Mit Marie-José, Sarah und Oana, ihr habt Fondue moitié-moitié gegessen und ihr seid zusammen größer geworden. Mit Michel und Véronique, ihr habt über Bücher und über das Schreiben gesprochen. Mit Pierre Louis, ihr seid von Zeit zu Zeit bis zur Sperrstunde geblieben. Mit François, da habt ihr über die Jagd gesprochen und Bier getrunken. Mit Jean-Christophe, ihr habt an eine nächste Nummer der Literaturzeitschrift « le persil » gedacht. Mit Daniel und Vincent, ihr habt Gedichte aus dem Alltagsleben aufgesagt. Mit Jean-Louis, genannt «Le Papillon» (der Schmetterling). Mit Béatrice, ihr habt der Welt die Finger und eure Augen gezeigt. Mit Isaac, ihr seid in euren News und Kurzgeschichten geschwommen. Mit Dominique und Véronique, ihr habt über die in einer Gitarre versteckten Worte gelächelt. Mit Victor, ihr habt mit Bob Dylan gelebt. Mit Francine, Ingrid, Robert und seiner Frau, mit Ramon, Philippe und Sergueï. Mit vielen anderen Frauen und Männern aus Lausanne und von anderswo. 

Du trittst ein, du hast zwei Plätze für mittags reserviert, du schaust ins Lokal, du siehst die Kellnerinnen und die Kellner hinten im Saal, du gehst zwischen den Tischen durch, du gehst auf sie zu, du grüsst sie, sie sagen «Guten Tag», eine der Kellnerinnen kümmert sich um dich, sie begleitet dich zu eurem Tisch, sie zeigt darauf, sie sagt «Hier ist es». 

Heute bist du mit Alain hier, ihr werdet Papet vaudois essen (würzige Würste auf Lauch und Kartoffeln an einer typischen Sauce), ihr werdet über euer Leben reden, über das, worauf ihr Lust habt, über eure m und eure d und eure i. Hier wird Alain von dir Fotos machen. Du wirst ihn anschauen: als nähmen Times New Roman, Calibri, Garamond und Bahnschrift zusammen ein Calamin-Bad. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Marius Daniel Popescu: Leben erfassen Leben erschaffen Leben schenken Leben überraschen Leben denken Leben sehen Leben hören Leben vermitteln Leben vergehen lassen Leben bringen Leben lenken Leben zeigen Leben erfinden Leben weitergeben Leben überleben Leben gewinnen Leben verdienen Leben behalten Leben vervielfachen Leben hervorbringen Leben verstehen Leben nähren Leben ankurbeln Leben zur Blüte bringen Leben aussprechen Leben lang dauern  Leben fortsetzen Leben ankündigen Leben schützen Leben schreien Leben leben Leben lernen Leben lehren Leben erhalten Leben sichern Leben entwickeln Leben teilen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MDP: Allein sein und mit den andern sein. Allein sein. Mit den andern sein. Die anderen sein. Mich selbst sein. Ankommen. Sprechen. Schauen. Essen. Trinken. Sprechen. Schauen. Weggehen. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
MDP: In den Wohnungen und den Häusern. In den Cafés den Bars den Restaurants. Im Blick der anderen. In den Worten. In den Büchern. In den Träumen. In den Straßen. In den Wäldern. Auf den Feldern. In den Bussen Zügen U-Bahnen Flugzeugen. In meinem Gedächtnis. In den Wörtern. 

 

BIO

Marius Daniel Popescu wurde am 10. Juni 1963 in Rumänien geboren und lebt seit dem 01.08.1990 in der Schweiz. 
Als Lyriker und Romanautor französischer Sprache hat er zahlreiche Literaturpreise erhalten. Den Rilke-Preis, Sierre/Siders, 2006 für «Arrêts déplacés» (Editions Antipodes, Lausanne); den Walser-Preis Biel/Bienne für «La Symphonie du Loup» (Editions José Corti, Paris – deutsch von Michèle Zoller, Die Wolfssymphonie, Engeler, 2013); den Waadtländer Literaturpreis, Lausanne 2008; den Grand Prix Littéraire du Web, Paris, 2012; den Prix de l’Inaperçu, Paris, 2012; den Eidgenössischen Literaturpreis, Bern, 2012, für «Les Couleurs de l’hirondelle» (Editions José Corti, Paris, 2012, deutsch von Yla von Dach, Die Farben der Schwalbe, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017).

Nora Bouazzouni | Café du Coin, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Nora Bouazzouni | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

 

Ich mag das Gewirr der Stimmen in Bars, Cafés und Restaurants, weil es mein eigenes, mein inneres Stimmengewirr zum Schweigen bringt. Tagsüber würde es mich von der Arbeit abhalten – ich brauche Ruhe, um zu schreiben –, aber abends hält es mich vom Grübeln ab. Ich atme das Stimmengewirr ein, sauge es auf, es umhüllt und beruhigt mich. Andere meditieren, um den Kopf frei zu bekommen oder negative Gedanken zu vertreiben. Ich hingegen setze mich allein an die Bar, bestelle ein Glas Wein oder einen Negroni und höre hin. Jeder Ort hat sein eigenes Stimmengewirr, eine eigene akustische Signatur. Darum könnte ich die Geräusche meiner Lieblingsbars und -restaurants unter Tausenden wiedererkennen: das Geräusch der Zapfanlage, der sich öffnenden Kühlschränke, die Art, wie die Stimmen von den Wänden abprallen, sich Stühle und Hocker über den Boden schieben. Ich lausche den Gesprächen und Fragen der Kunden und Kundinnen, nehme Seitenblicke wahr, die verschränkten Arme, die hinters Ohr gekämmten Haare, die neuen Schuhe, den Lidstrich, die Bücher, in denen jemand blättert, während er auf eine Verabredung wartet. Ich versuche zu erraten, wer ein Kollege ist, wer eine Freundin, vielleicht auch Geliebte oder ein bereits Verliebter ist, der seine Frau betrügt; wer sich langweilt, wer nur auf der Durchreise ist in diesem Café, dieser Bar, diesem Restaurant, dieser Stadt, diesem Land. Ich höre alles, ich sehe alles. Ich werde unsichtbar.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Lage der Welt noch gemütlich in einem Café sitzen?
Nora Bouazzouni: Erlauben Sie mir, diese Frage mit einer anderen zu beantworten: Was würde sich an der (verzweifelten) Lage der Welt ändern, wenn wir aufhören würden, Cafés zu besuchen?

Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
NB: Beides! Eine halbe Stunde lang an derselben ausgepressten Orange nippen; eine Vorspeise oder zwei Nachspeisen bestellen; seinen Kummer in Chenin Blanc ertränken … Das könnte man auch zu Hause tun, aber es würde sich anders anfühlen. Man geht in ein Café, um zu trinken oder zu essen, aber auch um zu sehen (oder gesehen zu werden), sich auszutauschen, zuzuhören, zu riechen … Die soziale Interaktion beginnt, sobald man durch die Tür tritt, unabhängig davon, ob man sich entscheidet, andere Gäste anzusprechen oder nicht.

Hat das Café heute noch eine soziopolitische Bedeutung? Wenn ja, welche?
NB: Cafés haben zahllose soziale und darum auch politische Funktionen: Sie durchbrechen die Isolation, fördern Begegnungen und Diskussionen … Sie sind Orte der Geselligkeit, der Pause oder des Feierns, aber auch der militanten Organisation und damit der politisch gefärbten Geselligkeit: Anfang des 20. Jahrhunderts trafen sich die Arbeiterbewegungen mangels geeigneter Räumlichkeiten in Cafés!

 

BIO 

Nora Bouazzouni, geboren 1986, lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Videos und Podcasts vor allem mit den Themen Ernährung, Gender und Serien. Ihr letztes Buch, „Violences en cuisine, une omerta à la française“, ist im Mai bei Stock erschienen. Außerdem hat sie drei Essays im Nouriturfu-Verlag veröffentlicht: „Mangez les riches – La lutte des classes passe par l’assiette“ (2023), „Steaksisme – En finir avec le mythe de la vege et du viandard“ (2021) und „Faiminisme – Quand le sexisme passe à table“ (2017).

Stephen Clarke | Les Eiders, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Stephen Clarke | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Ich liebe es zu reisen, neue Orte zu entdecken, unseren Planeten zu erforschen. Ich suche ständig nach neuen Stränden, um Bodyboarding zu machen. Eines meiner größten Vergnügen ist  es, mit meiner Maske und meinem Schnorchel im tropischen Meer zu tauchen, um das Unsichtbare zu sichten – die unter der Oberfläche versteckten Fische und Korallen.
Aber gleichzeitig mag ich auch zu Hause im 19. Arrondissement sein, den gleichen Tee zum Frühstück trinken, die gleiche Amsel (ein Weibchen mit schokoladebraunem Gefieder), die jeden Tag den Innenhof besucht, beobachten.
Früher ging ich jeden Morgen in das gleiche Café und ließ mich an der Theke nieder. Ich brauchte nicht mal etwas zu bestellen. Ich sagte Bonjour und bekam einen Espresso. Dort begegnete ich wie immer den Nachbarn, Jacqueline und Michel, die seit Jahrzehnten im Viertel wohnen. Getrennt. Jacqueline lebt mit ihrem Ehemann in den Hochhäusern gegenüber, Michel mit seiner Freundin in einer der Straßen da vorne. 
Sie beschrieben mir das Leben hier vor dem großen Abriss in den 80er Jahren. Ich erzählte ihnen meine Abenteuer als englischer Schriftsteller in Paris – und besonders interpretierte ich die letzten Kapitel des Epos von der englischen Königsfamilie. 
Dann, gleich nach dem Lockdown, wurde dieses Café von neuen Besitzern abgekauft, die all diejenigen verabscheuen, die es wagen zu lange mit nur einem Getränk an der Bar zu schwatzen. Also boykottieren wir es.
So bin ich ein bisschen nomadisch in meinem Viertel. Es gibt die gewohnten Begegnungen nicht mehr. An Markttagen gehe ich da lang. An sonnigen Tagen auf eine der Terrassen dort. Mittags komme ich regelmäßig hierher, ins Eiders, ein Café, wo die Besitzer gastfreundlich sind, wo das Tagesgericht in Ordnung ist und ich mein Glas Chardo bekomme ohne es bestellen zu müssen. Das schafft Kontinuität im Leben.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Stephen Clarke: Ablenken und informieren. Zum Lachen bringen, wenn möglich. Allem voran kommunizieren. Die nettesten Bemerkungen, die meine Leser gemacht haben: „Am Ende Ihres Buches sagte ich mir, dass die Welt doch nicht so schlecht ist“; „ich fände es schön, wenn Geschichte an der Schule so gelehrt würde, wie Sie sie erzählen.“
Ich lese meine Texte – Romane und Essays – immer wieder laut, um sicherzugehen, dass der Rhythmus stimmt, die Sätze nicht zu lang sind, die Gedanken fließen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SC: „Café“ als Getränk ist für mich lebenswichtig. Vor dem ersten Kaffee des Tages funktioniert mein Gehirn nicht. Das Café als Institution ist also zunächst mal meine Tankstelle. Dann ist es ein Ort, wo ich mich gerne mit Freunden und Nachbarn treffe, um herauszufinden, was so in der Welt passiert. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
SC: Überall und nirgends. Ich passe mich schnell an einen neuen Ort an, ich nehme schnell neue Gewohnheiten an, trotzdem werde ich mich immer ein bisschen wie ein Outsider fühlen. Denn als ich neun Jahre alt war, verkündigte meine Mutter mir und meiner Schwerster eines Morgens, dass wir „abreisen“, und ich habe meine Freunde nie wiedergesehen.  

 

BIO

Stephen Clarke ist ein Pariser Engländer und ein englischer Pariser. Er ist Autor von etwa zwanzig Büchern, die in etwa zwanzig Sprachen übersetzt sind. Von seinem ersten Roman „Ein Engländer in Paris“ wurden mehr als eine Million Exemplare verkauft. Sein erstes Geschichtsbuch „Liberté, Egalité, Fritten zum Tee: Warum die Engländer Frankreich erfunden haben“ war Nummer 1 in England und hat ein Museum in Frankreich inspiriert, das Centre Culturel de l’Entente Cordiale, im Château d’Hardelot.
Er spielt Bass und komponiert Chansons. 

 

Alexandre Caldara | Bistrot Chauffage Compris, Neuchâtel (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Caldara | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

zarte bruchstücke eines schweizerischen westerns im dämmerlicht 

der fotograf der unbekannte Barbero kommt um meine wenigkeit Caldara in meinem bistrot le chauffage compris* zu sondieren an diesem 14. januar in Neuchâtel erzählt er mir seine geschichte als kinofan als kinokind seine sicht auf den film mauvais sang** von léos carax trifft meine wenigkeit und flickt meine flüchtige kinoerfahrung das alles sickert schimmert durch in meinem bistrot und reaktiviert „stimmen alter kinofilme“ wie man sie gerade in mauvais sang hört 

oh geplagter leser 
lass dich mitreißen zu den zombie-zonen der theke so nehme ich meinen abdrift wieder auf an diesem 14. januar mein bistrot gedenkt seiner 30 jahre es präsentiert eine schiefertafel ein tagesmenue concassage von aromen zum anbeißen und da kommt der fotograf der unbekannte er spricht über sein leben bevor er bahnbeamter wurde der den dunklen kinosaal mehr liebt als die Schiene   

eines nachts als er mehr sieht

lässt er sich vom schrei des films mauvais sang durchdringen am nächsten morgen zittrig nach einer schlaflosen nacht macht er es sichtbar auf der schiefertafel seiner arbeitsstelle das beben die neuralgie er trägt mauvais sang in goldenen lettern ein das macht seine Kollegen sprachlos und katapultiert ihn auf die Schienen seines zukünftigen lebens als fotograf 

die beiden schiefertafeln die des chauffage compris und die des unbekannten fotografen stoßen zusammen

meine wenigkeit empfängt das alles über den körper und ich tanze im auge des objektivs der fotograf derjenige der mit einem kleinen digital-apparat verewigt und die tonnen von nostalgischen negativen in seinem schwarz-weiß-gepäck setzt eine bestimmte Geschwindigkeit in gang die die bewegung wieder aufnimmt 

die tafeln erhalten ihre eigenschaft als dunkle materie zurück meine wenigkeit denkt wieder an das bistrot le chauffage compris wo ich eine apfel-tarte gegessen habe sie hängt mir nach wie der film mauvais sang
das alles nur wegen mir
der fotograf Barbero und ich Caldara sind nun keine unbekannten mehr wir sind also jetzt verbunden verknotet befreit politisiert ästhetisiert durch das warme mauvais sang und die chauffage compris wo man zum teufel nicht friert
schließlich enthält mauvais sang eine anthologische szene einer rasierschaumschlacht feinfühlige hommage an den big shave von martin scorsese mein treffen mit Barbero ähnelt dem rasierschaum aus mauvais sang es tanzt fröhlich

*Heizung inbegriffen (Anm. Übers.)
**schlechtes/ böses Blut (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Alexandre Caldara: Sie beginnt, wenn sie sich vom Machtwort abwendet. Sie hält dem Lektüreverschlingen die Wange hin. Oder anders ausgedrückt, die wunderbare Nicht-Macht der Literatur erlaubt uns, „Die wilden Detektive“, eine leuchtende Romanhöhle, von Roberto Bolaño, im Gegenwind zu öffnen, egal auf welcher Seite, und dieses Gefühl zu spüren, das notwendig ist, um aus der Banalität auszubrechen. Dieser Hauch viszeraler Poesie. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AC: Ich empfinde Cafés wie Kokons, wie Sandburgen, wie Wartesäle, wie ein Aufenthalt. Die Bistrots, die ich mag, tragen ein Stückchen zerknitterte Anonymität in sich, das im Dialog mit der Masse steht.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AC: Allein indem ich die Gesellschaft anderer gründe. Im Angesicht zweier Flamenco-Gitarren, die meine Free Jazz-Bibliothek schützen. 

 

BIO

Alexandre Caldara, Poet, Performer, Journalist, geboren in Neuchâtel, 1977, lebt in dieser Stadt nach Umwegen über die Seine und den Ganges. Improvisator zerbrechlicher Silben auf der Zunge, schreibt er, seit er sich erinnern kann. Er veröffentlicht seit 2015 ein knappes Dutzend Werke, darunter L’Emacié, Volubiles Nudités und Mystère Bouffe bei edition Samizdat; Peseux Paterson bei D’autre Part; Demi-Nuit bei éditions A Côté de cela und Pulp Vendage bei éditions du Griffon. Die Zeitschrift Belles Lettres hat seine Beiträge über Dadaismus und die écrits bruts veröffentlicht. Seine Tanzbewegungen sind vor allem seiner regelmäßigen Beschäftigung mit Butoh und anderen würdigen Meistern des stillen Schreis wie Kazuo und Yoshito Ohno zu verdanken.     

Lauren Malka | Le Gourbi Palace, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Lauren Malka | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Als ich klein war, verliebte ich mich in die Schlingel. Aber was ich an ihnen mochte, war nicht ihre „Schurkenhaftigkeit“. Im Gegenteil, ich wollte sie auf sanfte Weise in flagranti erwischen und malte sie mir mit vor Anstrengung herausgestreckter Zunge akribisch aus.
Genau so habe ich mich in das Gourbi verliebt. Diese Spelunke, in der ich seit vielen Jahren, allein oder in Begleitung, die besten Momente meines Lebens verbringe. Es ist diese Mischung aus Verlassenheit und Sorgfalt. Die Stühle sind schlecht verkeilt, sie zerfallen fast unter unserem Hintern. 
Die Buchhaltung wird mit Bleistift (groß wie ein Kohlestift) in einem unleserlichen Notizbuch geführt. Aber ob die Bar nun leer oder zum Bersten voll ist, Alex wählt mit einer wahnsinnigen Hingabe die Musik aus, entschlossen, wirklich alle zu ergötzen. Und vor allem gibt es da diese Schiefertafel, die ich lächelnd betrachte, während Alain das Foto schießt, ungeduldig ihm zu sagen, was mich zum Lachen bringt (ich muss es ihm „in meinem Kopf“ sagen, hat er gemeint): Diese Tafel ist ein Juwel. Sie ist mit den einstudierten Rundungen einer Grundschullehrerin beschrieben.
Alex, der übergroße Sportklamotten trägt, der keinen Arzt aufsucht, wenn er sich den Fuß bricht, wird äußerst pedantisch, wenn er „hausgemachte Pommes“ auf die beiden Tafeln schreibt, die in seiner Bar hängen. Von Zeit zu Zeit, sagen wir einmal alle drei Monate, schafft er es, die Karte eines Chefs zu kreieren, auf der Pastinakencreme-Suppe, Seelachstartar oder Acras angeschlagen sind, alles von ihm selbst liebevoll zubereitet. Und während ich diese Tafel betrachte, hebe ich es mit für später auf, Alain zu fragen, warum sein Blog „Entropie“ heißt. Zeigt diese Tafel nicht auf das Schönste genau die „Negentropie“? Der Kampfbegriff gegen das Chaos und der spannungsgeladenen, auf das Leben gerichteten Dynamik? Alain weist mich darauf hin, dass ich die Stirn runzle. Ich muss wieder an die Lausbuben meiner Kindheit denken.  

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Lauren Malka: Die Literatur (und Gebäck) haben mir zum Beispiel ermöglicht, mit meiner Großmutter mütterlicherseits (die ich vergötterte) bis in die letzten Tagen ihres Lebens hinein zu diskutieren. Sogar, als sie den Verstand verlor und ich die Einzige war, die mit ihr kommunizieren konnte. Mein Zaubertrick war einfach: ein Roman, den sie auswendig kannte, aus dem ich ihr die ersten Zeilen vorlas, und ein mit Schokolade gefüllter Windbeutel. Von da an war meine Großmutter bei mir!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LM: Ich bin sehr wählerisch, was Cafés angeht. Normalerweise mag ich nur ein einziges während eines langen Zeitraums von sieben bis acht Jahren. Der Moment in der Woche, den ich am liebsten mag, ist der Freitag, wenn ich gerade auf die Person warte, mit der ich mein erstes Glas Wein trinken werde. Ich komme eine Stunde oder zwei Stunden vorher, um weiterzuarbeiten, aber auf eine mehr entspannte Art und Weise. Es ist, als wäre ich zu Hause geblieben und würde mich dehnen, indem ich meine Füße bis zu meinem Lieblings-Café hin ausstrecke. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
LM: Überall, wo ich eine Wärmflasche, ein Notizbuch habe, und wo ich mich zurückziehen kann, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden.

 

BIO

Lauren Malka, geboren 1983 in Paris, ist Autorin von Büchern, die wie Slow Food langsam „gekocht“ werden, das letzte Buch mit dem Titel „Mangeuses. Histoire de celles qui dévorent, savourent ou se privent à l’excès“ (bei Pérégrines). Geschrieben und mit realisiert hat sie auch den Dokumentarfilm „La France aux fourneaux“ (90 Minuten Archivmaterial, präsentiert von François Morel für France 5), eine Reihe von Erzählungen „Le lexique du dyslexique“ für Canal+, und sie hat drei Literatur-Podcasts ins Leben gerufen (für die Bibliothèque du Centre Pompidou, für Livres Hebdo und für l’école Les Mots).

Celia Walden | Cafe Phillies, London

Foto: Alain Barbero | Text: Celia Walden | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson 

 

Es ist erstaunlich schwierig, in London ein lokales und gemütliches Café zu finden. Mittlerweile gibt es eine Reihe von charakterlosen Kaffeehausketten, aber mein Lokal, das Café Phillies, ist eines jener Orte, wie es sie früher einmal gab, wo „jeder jeden kennt“ und wo du stundenlang bleiben kannst, um zu schreiben oder um in einer Ecke zu lesen, wo du nur ab und zu von Bekannten gegrüßt wirst.
Früher konnte ich nicht an öffentlichen Orten schreiben, aber mittlerweile beruhigen mich die Hintergrundgeräusche, besonders wenn ich an einem Roman schreibe. Mit einem journalistischen Text ist die Sache einfacher, da man nicht bei jedem Satz, den man notiert, mit der eigenen Fantasie konfrontiert wird; geht es indessen um fiktive Texte, scheint es mir lebenswichtig zu sein, sich während des „Prozesses“ nicht zu viele Regeln aufzuerlegen. Diese Regeln können sehr schnell zu Aberglauben (und Spleens) werden, die einen bei jedem Schritt behindern:   „Oh, ich kann   nicht   schreiben,  wenn  mein  Tisch  nicht  nach  Osten / Norden  ausgerichtet
ist …“. Wenn ich jedoch in einem Café wie diesem sitze, wo alle um einen herum entspannt und frei sind, dann kann mich das davon abhalten, über jeden erdenklichen Unsinn nachzudenken – und das macht mich frei zum Schreiben.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur bewirken?
Celia Walden: Es heißt, dass Literatur uns an ferne Orte bringt und uns Dinge erleben lässt, die die meisten von uns zu Lebzeiten nie erleben würden, und ich glaube fest daran, dass uns die Literatur alle fest miteinander verbindet. Dieses Gefühl, wenn wir uns mit einem Gedanken oder einer Erfahrung in einem Buch identifizieren, ist eines der verbindendsten Dinge, die es gibt.

Wie wichtig sind für dich Cafés?
CW: Schriftsteller neigen dazu, viele unerwünschte Stimmen in ihrem Kopf zu haben. Meistens ist das eine Stimme, die einem sagt, dass man nicht gut genug ist und dass man jetzt besser aufgeben sollte. Die angenehmen und freundlichen Stimmen eines Cafés um sich herum zu haben, kann ein Gegenmittel sein. Es kann die widersprüchlichsten Stimmen in deinem eigenen Kopf zum Schweigen bringen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
CW: Ich fühle mich am wohlsten an meinem Schreibtisch, mit einer Katze auf meinem Schoß und einer anderen, die in dem Bettchen schläft, das ich ihr hergerichtet habe, nur wenige Zentimeter von meiner Tastatur entfernt: Ich bin aus einem einzigen Grunde da, im Hier und im Jetzt – das hat etwas Beruhigendes für mich.

 

BIO

Celia Walden, geboren und aufgewachsen in Paris, hat in Cambridge französische und italienische Literatur studiert und ist bekannt geworden mit Artikeln über Frauenthemen, Gesundheit und Schönheit. Sie ist Schriftstellerin und Journalistin für den Daily Telegraph und schreibt für Glamour, GQ, Elle, Harper’s Bazaar, Grazia, Stylist, Standpoint, The Spectator und die russische Vogue. Sie tritt in TV-Shows wie The Andrew Neil Show, BBC News, Sky News und auf ITV auf.
Von ihr erschienen „Harm’s Way“ (Bloomsbury Publishing, 2008), „Babysitting George“ (Bloomsbury Publishing, 2011), das für den William Hill Sports Book of the Year Award (2011) nominiert war sowie „Payday“ (Sphere, 2021).
Sie lebt zwischen Los Angeles und London.

Fanny Saintenoy | Les Pères Populaires, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Fanny Saintenoy | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Das Café Les pères populaires oder auch Les pères pop oder das PP, wie man hier im Viertel sagt, ist ein Zufluchtsort, eine Art Zweitwohnung, es ist ein Ort für Treffen und ein Schreibraum … Das « Les pères pop » trägt seinen Namen auf jeden Fall zu Recht, es ist ein geschützter und schlichter Ort.

Die Deko ist aus Ramsch und Trödel: alte, durchgesessene Sofas, Schulstühle, kleine rote Fliesen, ein Transistorradio und Bücher auf einem wackeligen Regal, eine Toilette mit tausend Graffitis. Leute arbeiten dort stundenlang, während man nur einen einzigen Kaffee trinkt, der früher nur einen Euro kostete (inzwischen 1,20). Auf der Terrasse ist Selbstbedienung und an Sommerabenden quillt der Bürgersteig an der Ecke der Straßen Buzenval und Grands Champs geradezu über.

Das PP ist tagsüber immer gut besucht, in der Woche und an den Wochenenden: Mütter, die gerade aus der Schule kommen, solche, die sich verlaufen haben, Junge und Alte, die die gleichen Lieder mitsingen, wenn sie über die Anlage laufen. Es gibt feste Gruppen, die zugleich offen sind, und man kann sich von einer zur anderen bewegen. Es ist der Treffpunkt für die lockeren Leute aus dem Viertel, bei Fußballspielen, Wahlen und all den Veranstaltungen, die uns zusammenführen. Das PP würde es sicher nicht unbedingt mögen, wenn man das so sagt, aber es ist zu einer Art Institution geworden.

Ich habe oft in diesem Café geschrieben und werde auch weiterhin hier schreiben, vor allem, wenn es mir zu Hause nicht gelingt; dann weiß ich, in diesem Raum, der manchmal laut und geruchsintensiv ist, kann ich neu beginnen. Dieser Ort ist vor allem der Ort der ersten Seite für ein neues Buch, eben das, was uns Autoren besonders viel Angst macht. Es ist das einzige Café in Paris, in dem ich jemals diese Notiz im Fenster gesehen habe: „Dieser Film oder jenes Buch wurde zum Teil hier geschrieben“.

Das Les Pères pop hat eine Seele, eine besondere Identität; ohne das PP wären wir in unserem Zuhause verloren.

 


Interview mit der Autorin

Kann Literatur die Welt noch retten? / Warum noch schreiben und lesen?
Fanny Saintenoy: Die Literatur wird, ebenso wie die Schönheit, die Welt nicht retten können. Angesichts der Übermacht der menschlichen Dummheit bedarf es viel mehr, und die Literatur allein wird kaum genügen, um die Welt zu retten. Dennoch kann die Literatur, ebenso wie die Musik oder die Malerei, bestimmte Orte oder auch Menschen, uns sehr helfen: sie kann nämlich diejenigen retten, die die Lust und das Bedürfnis haben, Schönheit zu erfahren und uns für einen Moment aus dieser Welt herausholen.
Das ist der Grund, warum wir lesen und immer noch schreiben. Wir lesen, um zu träumen, zu lernen, zu bewundern, zu staunen, zu lachen oder zu weinen, während wir uns in einer Blase befinden, die uns gleichzeitig die Welt besser verstehen lässt. Und ich denke, dass wir mit einer Art diffusen und verrückten Hoffnung schreiben, um an diesem Prozess teilzuhaben, dass wir einen Moment der Flucht und der Verbindung anbieten, der allein uns Autoren eigen ist.

Wo fühlst du dich zu Hause ?
FS: Ich habe eine ziemlich seltsame Beziehung zu dem Gefühl, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Wenn mir ein Ort auf Anhieb gefällt, manchmal sogar sehr gefällt, fühle ich mich dort sofort zu Hause. Ich fühle mich mit diesem Ort verbunden und denke manchmal (irrtümlicherweise, zumindest kommt es mir manchmal so vor), dass ich diesen Ort viel besser verstehe als die Menschen, die dort leben. Ich fühle mich zu Hause, sobald ich von einem Ort „gefangen“ werde. Das kann ein Land sein, wie Indien oder eine Stadt, wie Granada, ein Haus (in dem ich glaube, zehn Jahre lang gelebt zu haben), ein paar Berge oder selbst ein See.

 

BIO

Fanny Saintenoy begann erst spät mit der Literatur. Sie war Lehrerin für Französisch als Fremdsprache, Assistentin der Geschäftsleitung, in der Politik und in der Kultur tätig. Ginge es nach ihr, müsste die Arbeitswelt so organisiert sein, dass Raum für das Schreiben und Reisen bleibt, um Leser und andere Autoren zu treffen.
Seit 2011 hat sie vier Romane veröffentlicht, darunter ein Roman mit drei anderen befreundeten Autoren sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem SGDL-Preis ausgezeichnet wurde. Sie schreibt ebenso Gedichte, vornehmlich in Zusammenarbeit mit Fotografen.
Bibliographie:
Juste avant, 2011, éditions Flammarion, ins Hebräische übersetzt bei Keter Books
Qu4tre, 2013, éditions Fayard, mit Sébastien Marnier, Caroline Lunoir und Anne-Sophie Stefanini
Les Notes de la mousson, 2015, éditions Versilio
Jai dû vous croiser dans Paris, 2019, Parole éditions, Prix SGDL du recueil de nouvelles 2020
Les clés du couloir, 2023, éditions Arlea

Marcelle Ratafia | Le Buisson Ardent, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Marcelle Ratafia | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Bücher schreiben? Ich? Darauf hätte ich ja nie gewettet. Mein Arbeitsleben bestand aus Abenteuern, aus Zufällen, die mich von den Zeichenateliers in die Straßen des Montmartre, von einem Restaurant in der Avenue Georges V bis in den Lehrberuf brachten … Als ich, völlig unerwartet, dabei war, meine 30 Geburtstagskerzen auszublasen, kam die Buchbranche wie ein Schlag über mich. Wie hätte ich dieses ABC des Argot, mein Hätschelkind der Gossensprache schreiben können, wenn es nicht die Bistros gegeben hätte? Es ist im Mouffetard, wo ich, noch ganz absorbiert vom Schreiben ausgedachter Slang-Zitate, trödelte, um einen weiteren Kaffee zu bestellen. Es ist an der Theke des Verre à Pied, als ich an einem regnerischen Tag, an dem mein dunkler Zweiteiler sogar den Champion der Freude dazu gebracht hätte, sich zu erhängen, meinen Caoua* soff, während ich ohne eine Miene zu verziehen den witzigen Ausfällen der Stammkunden zuhörte, die so richtig in Schwung waren. Es ist unter den goldenen Lichtern des Louis-Philippe, im Schatten der ehrwürdigen Treppe, wo ich meinen Café crème auf das Wohl meiner ersten Verträge schlürfte. Und schließlich ist es im Schutz der Fresken aus dem Jahr 1900 meines geliebten Buisson Ardent, wo ich das Erscheinen dieses Buches feierte und anderer Bücher, die ich im Schatten der Ca-Feen weiterschreibe. Dort ist es, wo Alain, genau so eine Quasselstrippe wie ich, dieses Porträt von mir geschossen hat, während wir, ohne uns zu kennen, Paris, alte Filme, meine geliebten Bistros und die Kinos im Quartier Latin (ein weiterer strategischer Rückzugsort) durchhechelten. Mit seinem Blick eines Knirpses und seiner leidenschaftlichen Redseligkeit, ließ mich der listige Fotograf vergessen, dass er ja jenen nachdenklichen Ausdruck aufstöbern wollte. Zweifellos das typische Gesicht meiner anhaltenden Aufenthalte in meinem Wahlcafé, wo die Zeit wie Kaffee aus dem Perkolator fließt. 

*Caoua, aus dem Arab. „qahwa“ – Kaffee, etwa mit einem „kleinen Schwarzen“ vergleichbar

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Marcelle Ratafia: Auch wenn die Literatur leider nicht viel für den Weltfrieden tun kann, sie wird immer die Aufgabe haben, einen wegzutragen, unbedingt!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Ein Schlupfwinkel, ein Obdach, ein Lebensraum, ein Ort, der mich auf eine Weise schützt, dass ich meinerseits nicht wünsche, ihn entstellt zu sehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: An der Theke: das ist eine Pariser Eigenart, der Kaffee ist nicht teuer, man beobachtet die Bedienungen, die sich dort tummeln, die Leute, die vorbeigehen, während sie den frisch gemahlenen Kaffee riechen.

 

BIO

Marcelle Ratafia ist mit ihrer Leidenschaft für genießbare Etymologien Autorin, Journalistin und kulinarische Kritikerin.
Unter ihrem aus einem Lied der Négresses vertes entnommenen Pseudonym hat sie Les ABC de l’argot, du foot et de la mode geschrieben, bei Le Robert sind 150 drôles d’expressions de la cuisine und Parlons vin, parlons bien erschienen, für das sie 2023 den Preis Prix Curnonsky 2023 du vin erhielt. In der Branche nennt man sie La Bectance (die Fressalien/ evtl. die Futternde, Anm. der Übers.), also ist es besser, sie zum Abendessen im Porträt zu haben!

Kersten Knipp | Café Bauturm, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Kersten Knipp

 

Und dann strömt diese Brise herein, nachmittags um vier, und mit ihr das Licht. Es gleitet heran über die breiten Rücken der Sonnenschirme draußen auf dem Bordstein, mühelos und spielerisch, hier oben, zwei Meter über dem Boden, ist nichts, was es aufhielte, und so umgibt es dich, nicht ohne sich mit dem Schatten des Raumes zu verweben, dessen eines Ende sich zur Straße hin öffnet, den Blick freigibt auf die Menschen etwas unter dir, die anderen Gäste an den Tischen draußen, während du selbst die paar Stufen nach oben genommen hast, in den höheren Teil des Cafés, an jenen zum Glück unbesetzten Platz, der dich immer in einen Zwiespalt stürzt, da du nicht weißt, wie dein Verhältnis zu den anderen Gästen ist: Bist du einer von ihnen, Teil der Masse in diesem Café, oder durch die leichte Erhöhung getrennt von ihnen, isoliert als sitzender Flaneur, die anderen im Blick, sich dessen bewusst und darum von ihnen getrennt? Dabei ist das Café Bauturm an der Aachener Straße ein fast schon zeitloser Ort der Kommunikation, Vorreiter und Schrittmacher jenes urbanen Lebensgefühls, das in Köln inzwischen (es war nicht immer so) selbstverständlich ist das Café und das ihm verbundene Theater: für dich Treffpunkt seit langer (nicht zu langer) Zeit, zugleich aber eben auch Ort, den anderen beim Leben zuzuschauen, etwas zu erhaschen von dem, was Gegenwart ist, was sie sein kann. All dies am liebsten, aber nicht nur im Sommer, wenn, wie du dir gerne einbildest, das Meer direkt um die Ecke ist, seine Brise heranweht, all die warme Luft, die doch nichts anderes ist als glühende Gegenwart. Das Café Bauturm, Ort des Schauens, des Empfindens, der Dankbarkeit. 

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Kersten Knipp: Literatur erschließt neue Welten. War da nicht gerade etwas auf der Seite: eine Idee, eine Empfindung, eine Andeutung? Ja, doch, und so lässt du dich treiben, in dem Text vor dir, in anderen Texten, die wiederum zu anderen führen, eine Reise auf alle Tage, Borges‘ „Unendliche Bibliothek“. Literatur, ein warmer Hauch – vielleicht der Ewigkeit?

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
KK: Du sitzt, du trinkst und du schaust. Du saugst die Welt auf, Gesichter, Bewegungen, Verhaltensweisen. Im Café bündelt sich die Zeit, hier kannst du sie beobachten, ihren Geist schnuppern. Da weht etwas durch die Luft, der Hauch des Kaffees, aber auch noch ein anderer. Das Café ist Begegnung, mit was und wem auch immer.

Wo fühlst du dich zu Hause?
KK: Ein Haus: ein durch Wände abgeschiedener Raum. Nimmst du das wörtlich, fühlst du dich zuhause an deinem Schreibtisch: abgeschieden, allein mit dir und deinen Büchern, ein stummer Dialog. Am Schreibtisch entsteht etwas Neues. Und ist das nicht das Wichtigste an vertrauten Orten: Dass du in ihnen etwas Neues schaffst?

 

BIO

In erster Linie wahrscheinlich Romanist, den romanischen Ländern auf der Spur, dem, was sie mit Deutschland, ihre Vergangenheit mit unserer Gegenwart verbindet. Hoffnung: Wir sind verbunden durch die Eleganz, deren Pariser Ursprüngen ich zuletzt ein Buch gewidmet habe („Die Erfindung der Eleganz“, 2022); auch durch die Kunst des Gesprächs, der ich ebenfalls nachgespürt habe („Im Gespräch“, 2024)