Serge Deruette | Le Ropieur, Bergen (Belgien)
Foto: Alain Barbero | Text: Serge Deruette | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach
Das Bistrot Le Ropieur auf dem Grand-Place von Mons, aber an einer Ecke. Oder wenn man will, auch an einer Ecke, aber auf dem Grand-Place. Im Herzen der Stadt, aber etwas abseits. Einfach und diskret: das Antidot zum hochtrabenden und pharaonenhaften Bahnhof von Mons. Zufluchtsort einer bunt gemischten Fauna, bescheiden und urwüchsig zugleich. Ein Schlupfwinkel für Künstler, Faulenzer, Schwätzer, Studierende, Mann und Frau, Jung und Alt, die alle miteinander verkehren und sich vermischen. Und von morgens bis abends gehört „der Mann mit dem Hut voller Federn und den Sandalen voller Zehen“ zum Inventar. Kupfertische mit seinen eingravierten Zeichnungen, sowie denen von Poliart und anderen lokalen Künstlern. Auch ein Wandgemälde von Marat. Der Geist von Batia schwebt hier: Batia moûrt soû (tot betrunken – „Das trunkene Schiff“, im guten Französisch Rimbauds), die Satire-Zeitschrift der Gegend!
In Mons ist es mein „Stamm-Café“. Ein Schlupfwinkel ohne allzu viele Markierungen, wo alles auch sein Gegenteil ist. Man findet sich dort unter Kumpeln wieder und man findet sich selbst. Wenn man dort zufällig jemandem begegnet, der in der Nachbarschaft sitzt, begegnet man sich selbst. Sich dort einzuschließen ist eine Befreiung. Ein Ort ohne Überraschungen, aber nicht ohne Entdeckungen. Man hat hier seine Gewohnheiten, doch sind sie immer mit dem Unvorhergesehenen besiedelt, so dass es zur Gewohnheit wird, dort auf das Unvorhergesehene zu warten.
Raum der Ruhe schafft Unruhe, aus reger Betriebsamkeit wird Gelassenheit; man geht hinein, um besser herauszukommen, aus sich selbst und aus der Routine. Man setzt sich dort hin, lässt alles sich setzen, setzt sich aus. Und wenn man dort Ideen austauscht, dann um die eigenen zu verfeinern – obwohl … Man tankt dort Energie, aber nicht mit Wasser: man berauscht sich. Und wenn man benommen wird – manchmal, oder oft, je nachdem –, dann schwebt man auch.
Und dann gibt es den Orval – keinen gelagerten*, übertreiben wir nicht, der ist sehr schwierig zu finden –, aber wenigstens den gut temperierten, wie es für diejenigen, die das zu schätzen wissen, sein muss.
* l’Orval vieux, der Orval – spezielles, auch teureres Bier, das mindestens 6 Monate, bis zu 20 Jahren gelagert wird.
Interview mit dem Autor
Welche Bedeutung hat Geschichte für dich?
Serge Deruette: Normalerweise würde man antworten, dass sie hilft, die Gegenwart zu verstehen. Aber welche Geschichte? Die der „großen Männer“ oder die der breiten Masse? Und welche Gegenwart? Die der guten Werte, so befriedigend für die Demokratie (welcher?), der Freiheit (für wen?), der Menschenrechte (welche und für wen?) …, oder die der Machtverhältnisse, der Gewalt, der Unterdrückung, der Kriege, die diese guten Werte umso mehr verdecken, je lauter sie beschworen werden
Und die Geschichtslehre?
SD: Unterrichten bedeutet für mich, meine Studenten dafür zu rüsten sorgfältig zu sein, nicht Intellektuelle, die über allem, sondern im Dienste der Massen stehen. Zeigen, dass Geschichte nicht die der Werte noch der Ideen ist (mein Kurs über die Geschichte des politischen Denkens ist einer der Geschichte der materiellen Bedingungen, ihrer Emergenz und ihrer Evolution), sondern die der Klassen und ihrer Kämpfe untereinander.
Wo fühlst du dich zu Hause?
SD: In der Welt der einfachen Leute, die der Armen und Unterdrückten, die Welt, aus der ich komme und der ich treu bleibe. Im Kampf um eine bessere Welt, die der Arbeitermassen, und in der Solidarität mit den Völkern, die man niederschlägt, unterdrückt und demütigt.
BIO
Serge Deruette geboren und aufgewachsen in La Louvière, Arbeiterstadt im belgischen Kohlebergbau-Gebiet. Er lehrt an der Universität von Mons (UMONS) Zeitgeschichte und Geschichte der politischen Ideen, und zwar als resilienter Kritiker des Mainstream-Denkens: Geschichte aus der Perspektive von unten/ der unteren Schichten, die der Arbeitermassen, die sie schreiben. Er trägt auch dazu bei, die Ideen von Jean Meslier bekannt zu machen, diesem guten atheistischen Priester, Materialisten, Kommunisten und Revolutionär aus den Anfängen der Aufklärung.










