Simone Buchholz | Kurhaus, Hamburg

Foto: Alain Barbero | Text: Simone Buchholz

 

Vielleicht ist das Kurhaus mein eigentliches Zuhause, vielleicht bin ich aber auch nur eine Art Möbelstück im Kurhaus, bestimmt werde ich es nie erfahren, denn dein Zuhause sagt dir nicht „ich bin übrigens dein Zuhause!“, und einem Möbelstück sagt niemand „du bist übrigens eine Couch!“.
Für das Zuhause spricht, dass ich jede Ecke des Ladens kenne, dass es mir egal ist, wie ich in welcher Ecke des Ladens aussehe, dass es nur wenige Orte gibt, an denen ich mich so geliebt fühle, und dass mein Vater mich sehr gern im Kurhaus besuchte, um dort heimlich mit mir zu trinken und zu rauchen, als er es noch konnte.
Für das Möbelstück spricht, dass ich den Blick auf die kleine Kreuzung vorm Kurhaus seit über 25 Jahren kenne, und zwar zu jeder Jahreszeit, zu jeder Uhrzeit, und bei jedem Wetter (es ist traumhaft, wenn es schneit und alles ganz still ist, es ist traumhaft, wenn es 30 Grad hat und Hamburg fröhlich durchdreht), und dass ich nirgends sonst so schön unsichtbar und einfach nur anwesend sein kann.
Vielleicht ist es auch egal, was genau das Kurhaus ist oder was genau ich bin, so ein großer Unterschied ist ja nicht zwischen „sich irgendwo zu Hause fühlen“ und „irgendwo irgendein Möbelstück sein“.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Simone Buchholz: Gedanken befreien und Herzen öffnen, Literatur ist internationale Antifa.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SB: Sie sind die einzigen Lagerfeuer, die wir noch haben.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SB: Genau genommen in jeder guten Bar.

 

BIO

Simone Buchholz wurde 1972 in Hanau geboren und ist im Spessart aufgewachsen. 1996 zog sie nach Hamburg, wegen des Wetters. Ihre Romane erscheinen im Suhrkamp Verlag, die Chastity-Riley-Reihe wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Krimipreis und dem International Dagger Award. Im September 2022 erschien Unsterblich sind nur die anderen.
Simone Buchholz wohnt auf St. Pauli und schreibt regelmäßig die Kolumne Getränkemarkt im SZ-Magazin sowie Texte für die ZEIT.

Patrick Pécherot | Le Wepler, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Patrick Pécherot Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Das Foto wurde im Wepler aufgenommen. Eine Pariser Brasserie am Place Clichy, fast eine Institution. Ein Ort, der mit Erinnerung beladen ist, der sie aber nicht kultiviert. Weit entfernt vom Vintage-Stil, der so viele Orte in Kulissen verwandelt hat, die ins Auge stechen. Das Wepler besitzt richtige Tische, die sich gegen 18 Uhr mit weißen Tischdecken und dazu passenden Servietten schmücken. Aber schlürfen Sie weiter ihren Espresso oder Ihren Zitronentee, wir lassen Sie in Ruhe.
Ich mag das Moleskin des Lokals, den Zeitungsständer, die Glasfront, durch die man auf die Straße schielt, die Kellner in ihrer Livree, die Kunden, die weder ganz jung noch angesagt sind. Ich weiß nicht mehr, ob Maigret, als er untertauchte, dort Lammhals gegessen hat, aber es war im Wepler, wo Nadja an André Breton schrieb: „Sag, warum hast du mir meine Augen genommen?“. Didier Blonde erzählt das in seinem schönen Buch „Cafés, etc.“ Es ist mit Didier, mit dem ich ins Wepler komme. Wir trinken dort ein Bier, knabbern Brot und Olivenpaste, die dazu serviert werden, wir reden über das Schreiben, das Radio und die ganz kleinen Freuden. Gott lädt sich manchmal zu unseren Gesprächen ein. Er ist gar nicht prüde und sein Sohn liebte die Gasthäuser. Wenn wir wieder auf den Boden gleiten, dann, um dort Fantomas, Nestor Burma oder Arsène Lupin zu treffen, deren Schattenbilder an verregneten Abenden Geister spielen.
Bevor du das Foto machst, Alain, hast du mir über deine Arbeit erzählt. Ich mag die Worte der Arbeit. Ich hatte diesem Treffen zugestimmt, weil ein gemeinsamer Freund als Bindeglied fungierte. Ich war neugierig auf das Projekt. Seitdem frage ich mich, wie viele Worte die Autoren hastig auf einen Cafétisch gekritzelt haben, aus Angst, sie könnten wegfliegen. Aber mehr noch denke ich an die, die verloren sind, weil keine Bar, kein Bistro oder keine Brasserie ihnen einen rettenden Halt geboten hat.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Patrick Pécherot: Die Frage verweist auf die Begegnung zwischen einem Buch und den Lesern. Auf einer Skala, die vom Intimen zum Globalen reicht, scheint mir die Literatur viel oder gar nichts zu können. Das macht sie zu etwas Rätselhaftem, wie alle Begegnungen. Auch zu einem „System“. Der Autor hat geschrieben, und es liegt oft nicht an ihm, ob das Buch lebt oder stirbt.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PP: Cafés sind Orte der Träumerei und der Beobachtung. Man findet dort den menschlichen Teig, aus dem eine zukünftige Figur gemacht ist, die manchmal verschwindet, wenn man wieder draußen ist. Man kann ein Detail einfangen, das später wieder auftaucht. Oder einfach eine für das Träumen günstige Atmosphäre finden. Aber „zu bestimmten blassen Stunden der Nacht“, wie Léo Ferré sang, können Cafés auch Orte der stillen Brüderlichkeit sein.

Wo fühlst du dich zu Hause?
PP: Zunächst mal bei mir zu Hause, in meiner Höhle, meinem Kokon. Aber im weiteren Sinn bin ich überall zu Hause, wo die Orte zu mir sprechen und mich berühren. 

 

BIO

Patrick Pécherot, geboren 1953, hat rund fünfzehn Romane und Essays geschrieben. Sie brachten ihm mehrere literarische Preise ein (Grand prix de littérature policière, Prix Mystère de la critique, Trophée 813, Prix Transfuge, Prix Marcel Aymé). In den verschiedenen Genres, die er bedient (Kriminalroman, Roman noir, diverse Texte), zeigt sich seine Vorliebe für soziale Geschichte und deren Zeitgeist.
www.pecherot.com

 

Regina Hilber | Bar Ariosto, Ferrara

Foto: Alain Barbero | Text: Regina Hilber

 

Gerade hallt das dunkle Klirren der dickwandigen Espressotassen auf dem Marmortresen der Bar Ariosto in meinen Ohren, ein Klang, der ausschließlich in einer italienischen Bar diesen unverkennbaren Ton erzeugen kann. Die Tassen sind aus dickwandigem Porzellan oder Steingut. Der Tresen besteht stets aus dickem Marmor, der Boden des Lokals ist mit echtem Terrazzo überzogen, der Grundriss der Bar langgezogen und schmal, die Rückwand mit den Regalen für Gläser und Spirituosen mit Spiegeln ausgekleidet. Nur dann durchdringt dieser eine dumpfe Klang die italienische Bar, die ein Stehcafè ist. Verweilt wird draußen an den kleinen Tischchen, regionales who is who inklusive. 
Laut und dumpf klirrend muss sich das Abstellen der dicken Espressotasse auf dem Marmortresen anhören. Für den hellen, lichten Klang dazwischen sorgt der Espressolöffel auf der Untertasse, während der Barista schon die nächsten Untertassen lauthals auf den Marmortresen knallt. Vielleicht muss auch die Luft ein wenig flirren von der Hitze, so wie hier in Ferrara an einem Augustnachmittag, kurz bevor das tägliche Gewitter noch mehr Schwüle bringt. 
Dann kann ich nicht anders, als das Zirpen der Zikaden anzubeten, nachmittags um drei, unter dem Laubengang des Palazzos sitzend und hinausblickend auf die Weite der Piazza Ariosto, während der schöne Terrazzo nie frei von Müll ist. Der Duft der Pinien überdeckt den kleinen ästhetischen Mangel, macht ihn unsichtbar. Kein Makel, der nicht von einer anderen Schönheit wieder aufgewogen wird. Ferraras große Söhne – Ludovico Ariostos mittelalterliches Versepos Der rasende Roland und Giorgio Bassanis italienischer Jahrhundertroman Die Gärten der Finzi Contini, tönen leise zwischen dem ohrenbetäubenden Zirpen der Zikaden. Cirruswolken? Zigarrenqualm vom Signore am Tischchen gegenüber, hat er seinen Bugatti sinnmächtig ausgestellt. Ein rasender Roland!

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Regina Hilber: Ich weiß nicht, welcher Drang stärker ist – ob die Literatur (bzw. Lektüreerfahrungen) mich an spezifische Orte bringen, oder mich bestimmte Orte zu spezifischer Literatur führen. Beides ist möglich und beider Impetus findet in meine Essays, in denen Topographien mit Inputs neu gemixt werden. 
Es verhält sich wie das Geleitgedicht „Apopemptikon“ zu seinem Pendant, dem „Propemptikon“: Was war zuerst? Das Abschiedsgedicht des Fortgehenden an die Zurückbleibenden, oder umgekehrt, das Geleitgedicht von den Zurückbleibenden an den Abreisenden, den Scheidenden? Von dem der fortgeht, geht die Intention aus. Er weiß in der Regel früher Bescheid als diejenigen, die an einem Ufer stehend den Fortgang des in die Ferne Ziehenden zu begaffen angehalten sind. In Ferrara werden keine Homerische Geleitgedichte intendiert – die Antike war gestern – was jetzt in den Fokus rückt, bewusst oder zufällig, oder auf Nebenstraßen in Schlaglöchern und Pfützen dahintümpelnd, nimmt Aufstellung neben Lucrezia Borgia, die spätere Herzogin von Ferrara. Giorgio de Chirico und Filippo de Pisis wohnen nicht nur in Museen, de Pisis schmückt auch die Wartezimmer in Bassanis Ferrareser Geschichten. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RH: Ein „capo in b“, ein „aperitivo“, die Laufstege sind eröffnet: Stehend drinnen (Arbeit, Politik, Networking), oder sitzend draußen (who is who und dolce vita) – egal ob in Mailand, Triest, Neapel oder Ferrara – Bewegung garantiert die italienische Bar, die niemals statisches Eiland ist für Kaffeegenuss. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
RH: Die Heimat ist mein Körper. Ihm folge ich überall hin.

 

BIO

Regina Hilber, geb. 1970, in vielen Sprachen zuhause, lebt als freie Autorin in Wien. Zuletzt erschienen ihr Essayband Am Rande – Zwischenaufnahmen aus der Mitte Europas (2024) und der Gedichtband Super Songs Delight (2022).

Corinne Maier | Goupil Le Fol, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Corinne Maier Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Es ist im Café Goupil le Fol in Brüssel, in dem wir uns 2023 treffen, Alain Barbero und ich. Was für eine Freude, ihn wiederzusehen! Wir haben uns Anfang der 1980er Jahre kennengelernt. Alain war ein Jugendfreund von Serge, meinem damaligen Freund; wir waren zwanzig Jahre alt. Aber wir verloren uns aus den Augen, Alain und ich. Ich erinnere mich, dass Alain sich schon in den 80er Jahren neben seiner beruflichen Tätigkeit viel mit Fotografie beschäftigte. Ich selbst hatte überhaupt keine Ahnung, dass ich eines Tages Bücher schreiben würde. Ich war im Leben mehr auf Abwegen als Alain, der schon wusste, wohin er wollte.
Alain bei einer Fotosession zu erleben, ist wirklich eine erstaunliche Erfahrung: Er kreist und schwirrt um sein Objekt herum, während er auf den richtigen Moment lauert. Es ist ein langer Prozess, länger als bei den meisten Fotografen. Der Dialog spielt dabei eine große Rolle. In einem ganz anderen Bereich aber ist er mir ähnlich: Ich beginne über das Thema für ein Buch nachzudenken und bewege mich dann im Zickzack darum herum, manchmal über einen sehr langen Zeitraum. Ich fühle mich wie ein Scharfschütze, der seine Beute verfolgt und ihr auflauert. Währenddessen lese ich Bücher, unterhalte mich mit Leuten und sperre die Ohren auf. Irgendwann macht es Klick und dann weiß ich, dass ich den richtigen Winkel habe. Jetzt muss ich nur noch schießen!

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Corinne Maier: Große Frage. Keine Illusion, sie kann wenig. Aber das Schreiben beschäftigt diejenigen, die es praktizieren und die, die lesen. Das ist schon mal nicht schlecht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CM: Ich liebe die Nachtbars, wo man mit Unbekannten an der Theke diskutiert, während man einen trinkt. Aber ich gehe nicht tagsüber in Cafés, da sind zu viele Leute, die an ihrem Laptop arbeiten und viele der Cafés in Open spaces verwandeln. „Hinter den Fenstern der Cafés reihen sich die Leute hinter ihren Bildschirmen“, schreibt Ivy Pochada in einem ihrer ausgezeichneten Romane „Visitation Street“. Diese Arbeitenden im Dienstleistungssektor kontaminieren den Ort, sollen sie woanders malochen! Überlassen wir die Cafés den Faulenzern!

Wo fühlst du dich zu Hause?
CM: Ich fühle mich zu Hause in einem Bett, mit einem Stapel Bücher, die ich lesen möchte. Dort ist meine wahre Heimat, das einzige Land, dem ich die Treue halte. Mein Lebensziel ist es, so viel Zeit wie möglich lesend im Bett zu verbringen. Als Kind habe ich beschlossen, mein Leben dem Lesen zu widmen. Ich komme gut voran. Aber ich habe noch alle Hände voll zu tun und hoffe, dieses umfangreiche Programm zu erfüllen. Liegend … 

 

BIO

Corinne Maier lebt in Belgien, mit zahlreichen Abstechern nach Frankreich (Lozère). Sie schreibt Bücher (gesellschaftliche Themen, Geschichte, Humor). Das Schreiben ist ihre hauptberufliche Tätigkeit; sie versucht, so wenig wie möglich zu arbeiten. Sie hat zahlreiche non-fiction Bücher veröffentlicht („Tchao la France“, „Dehors les enfants“…), Drehbücher für Comics („Freud“, „Marx“, „Einstein“, „Mein Leben ist ein Bestseller“, „Monsieur Proust“), und einen Roman („A la conquête de l’homme rouge“). Die bekanntesten sind „Die Entdeckung der Faulheit“, ein bissiger Text über die Welt der Unternehmen, und „No Kid“, ein Pamphlet gegen das Elternsein. Das neueste ist „Me First. Manifeste pour un égoïsme au féminin.“
www.corinnemaier.info

Mario Schlembach | Gasthof Schlembach, Sommerein

Foto: Alain Barbero | Text: Mario Schlembach

 

„Gemma zum Schlembach“ sind geflügelte Worte in Sommerein. Gemeint ist damit ein Besuch im Gasthof meines Onkels. Die Eröffnung fand im Frühjahr 1986 statt, weshalb meine Taufe verschoben werden musste. Nicht die Leidenschaft für das Gewerbe, sondern die Liebe brachte meinen Onkel in die Gastronomie. Als gelernter Maurer erfüllte er meiner Tante ihren großen Wunsch. Er gab seine Arbeit auf, verkaufte das selbsterrichtete Einfamilienhaus am Dorfrand und erstand – unter Anhäufung großer Schulden – die Ruine einer alten Schmiede im Ortskern. Abriss und Wiederaufbau erforderten viele helfende Hände, bis das Café-Restaurant Schlembach – Zur alten Schmiede – so der ursprüngliche Name – aufsperren konnte. Der Traum meiner Tante wäre ein einfaches Café gewesen, aber noch vor der Eröffnung mussten Kompromisse eingegangen werden, um sich dem Konkurrenzkampf im Dorf zu stellen. Neben einer Unzahl an Heurigen sowie drei Gasthäusern, gab es nicht viel Spielraum. Der Schlembach wuchs und wuchs. Das geplante Café wurde mit einem Restaurantbetrieb erweitert. Das Dachgeschoss wurde mit Fremdenzimmern ausgestattet. Im Keller wurde eine Disco errichtet. Essen auf Rädern. Veranstaltungen. Catering. Und … und … und. Irgendwann verließ die Tante meinen Onkel und der Gasthof war alles, was ihm von ihr blieb. Die Jahre vergingen und das schleichende Wirtshaussterben erreichte bald auch Sommerein; nur der Schlembach überlebte – händeringend adaptierend, adaptierend. Mein Onkel ist jetzt über 70 Jahre alt. Kinder hat er keine, nur das Wirtshaus, für den es noch keinen Nachfolger gibt. Die Zukunft vom Schlembach ist ungewiss. Die Zeit wird zeigen, ob er weiter bestehen kann oder er seinen Namen verliert.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Mario Schlembach: Für mich war Literatur ein Befreiungsakt. Die Möglichkeit, aus vorgefertigten Strukturen auszubrechen und gleichzeitig eine Ausrede, anders sein zu dürfen. Meine Eltern führten eine Landwirtschaft. Mein Onkel den Gasthof Schlembach. Bei beiden standen mein Bruder und ich in vorderster Front für die Nachfolge. Das Schreiben wurde deshalb für mich zum Akt des Widerstands, der Selbstermächtigung – ein Austreten und Wegtreten. Und gleichzeitig die Möglichkeit, sich seiner eigenen Geschichte zu stellen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Seit meiner Kindheit ist mein Name nicht mit einer Person, sondern mit einem Ort verbunden: der Schlembach. Es birgt alle Vor- und Nachteile, das Medium für ein Café (mit Restaurant und Discokeller) im Dorf zu sein: Gute Ressourcen, Kommentarmistkübel, Kummerbox, etc. Hier bin ich kein Literat, sondern Ansprechpartner für die Gäste und Buchhalter für meinen Onkel. Textgattung: Rechnung und Menüpläne. Trotzdem (oder vielleicht deshalb) sind für mich alle anderen Cafés (die nicht der Schlembach sind) zu den liebsten Schreiborten geworden. Ich genieße die Ruhe, in einer anonymen Masse allein zu sein, loszulassen und gleichzeitig ständig mit der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konfrontiert zu sein. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
MS: Manchmal beim Schlembach.

 

BIO

Mario Schlembach (* 1985) lebt als Schriftsteller und Totengräber in Niederösterreich. Er schreibt Romane, Theaterstücke und Reportagen u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Der Standard. Seine beiden ersten Romane DICHTERSGATTIN (2017) – 2019 auch als Theaterstück uraufgeführt – und NEBEL (2018) erschienen im Otto Müller Verlag (Salzburg) und erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Sein neuestes Buch HEUTE GRABEN erschien im Frühjahr 2022 im Kremayr & Scheriau Verlag (Wien). www.bauernerde.at

Barbara Rieger | Almtaler Haus, Grünau im Almtal

Foto: Alain Barbero | Text: Barbara Rieger, Auszug aus „Eskalationsstufen“ (K&S 2024)

 

Später sitzen wir im Café und ich nippe an meiner Melange, Joe an seinem Bier. Sein Finger zeigt auf einen Fleck auf der Tischplatte, der nicht von uns ist. Das Service war hier auch schon mal besser, sagt er. Und was haben alle diese Kinder hier verloren?
Joe, sage ich, was ist los?
Was soll los sein?
Mit deiner Stimmung.
Meine Stimmung, erklärt er mir, ist auch nicht immer gleich, ich bin auch nur ein Mensch, tut mir leid für dich, wenn du etwas anderes erwartet hast.
Ich schlucke den Kaffee hinunter. Schon okay, sage ich.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Barbara Rieger: Literatur ist das, was – im besten Fall  – durch das Schreiben entsteht. Und mir persönlich die liebste Form der Kunst.

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
BR: Es sind Orte einer Ordnung, um die ich mich nicht selbst kümmern muss und als solche manchmal sehr angenehm.

Wo fühlst du dich zuhause?
BR: Falls ich mal hinfinde, schreibe ich eine Postkarte.

 

BIO

Barbara Rieger, * 1982 in Graz, lebt als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (Oberösterreich). 2013 gründete sie gemeinsam mit Alain Barbero und Sylvie Barbero-Vibet „cafe.entropy.at.“ Schreibt Romane, Kurzprosa und hin und wieder sogar Lyrik. Ihr dritter Roman „Eskalationsstufen“ erscheint am 7. Februar bei Kremayr & Scheriau. Die Erstpräsentationen finden am 15.2. (Wien) und am 17.2. (Almtal) statt. 

https://www.barbara-rieger.at

Nelly Staneva | Café Littéraire, Bern

Foto: Alain Barbero | Text: Nelly Staneva

 

Café Littéraire

Er macht es sich im Lärm gemütlich, lehnt sich bequem dagegen, während seine Augen wieder einmal in dem Punkt versinken, der zwischen den Buchdeckeln vor den Augen der anderen verborgen ist. Der kleinste Tisch, direkt am Eingang, zwei Stockwerke über den knarrenden alten Straßenbahnen, und jedes Mal, wenn sich die Tür öffnet, krümmt er sich unter den ankommenden Vokalen wie in flauschigen Kugeln, füllt seine Lungen mit knackigen Tröpfchen kondensierter Winterluft. Ein echtes Gedränge an diesem Samstagvormittag. Ab und zu schleicht sich mit den kühlen Mänteln und Taschen vom Bauernmarkt ein scharfer Konsonant ins Café, ein kehliges x, sh oder z, das ihn aufschreckt. Zum Glück fallen zu dieser Tageszeit öfter Kaffeebestellungen als  Schneeflocken des ersten Schnees draußen. Der Tanz des heißen Dampfes in den Schläuchen der Kaffeemaschine setzt gerade rechtzeitig ein, spült seine Gehörgänge, und er ruht wieder im Geklimper, das nichts mit ihm zu tun hat, unter der Berührung einer Realität, die er nicht in seine eigene Sprache übersetzen kann. Cafe Litteraire. Er flüstert diesen Namen, seine Lippen beben unter den Muskelkrämpfen einer universellen Verheißung, einer prähistorischen Macht, die er schon einmal besessen hat, an die er einmal geglaubt hat, vor zwei Jahrzehnten, lange bevor er das Zischen hörte, bevor er das Flüstern hörte, ”geh weg”, von Hier und Dort, bevor “Dort” zu “Hier” und “Hier” zu “Anderswo” wurde. 

  • Was soll es sein?
  • Es soll sein. 
  • Bitte?
  • Bitte. Ein Kaffee. Cafe. Litteraire. Da komm ich her.

Dieser Mann, denkt sich der Kellner, der mit dem roten Pass und der schlechten Angewohnheit, rechts zu wählen, dieser Mann, schwarz wie der Teufel, aber wie er die Worte auf den Tisch knallt, ganz wie ein Einheimischer. Wahrscheinlich eine Art Schriftsteller oder so.
„Vom Himmel hoch, da komm ich her / Ich bring’ euch gute neue Mär“  trällert der Kellner amüsiert, während er den Hebel der Kaffeemaschine betätigt, danach erinnert er sich aber, dass er Weihnachtslieder eigentlich verabscheut.
Das Notizbuch schweigt, die Deckel sind geschürzt wie die Lippen eines verärgerten alten Mannes. Aber der Punkt ist gesetzt, und der Klang der Glückseligkeit breitet sich über die weichen Seiten aus und tränkt sie wie eine dunkle, erfrischende Flüssigkeit.

 

Original (Bulgarisch)

Café Littéraire

Уютно му е в този шум, удобно му е да се обляга върху него, докато очите му потъват за пореден път в онази тъмна точка, скрита от чужди погледи между кориците на тетрадката. Най-малката масичка, точно до входа, два етажа над скърцането на старите трамваи и при всяко отваряне на вратата той се загръща с прииждащите на пухкави кълбета гласни, пълни дробовете си с хрупкави капки кондензиран зимен въздух. Истинска навалица в този съботен предиобед. От време на време, наред с хладните палта и торбите от фермерския пазар, в кафенето се вмъква и някоя остра съгласна, която го стряска, някое удрящо го в ребрата, гърлено х, ш или щ. За щастие по това време на деня поръчките за кафе валят по-често и от нервните снежинки на първия сняг навън. Танцът под налягане в тръбите на кафе-автомата започва тъкмо навреме, промива ушните му канали и той отново замира блаженно в звънтящия звук, който няма нищо общо с него, в докосването на една реалност, която той не може да преведе на своя език – Cafe Literaire. Той шепне това име, устните му треперят от мускулните спазми на вселенски обещания, които бълбукат напряко случайността, от една праисторическа сила, която е притежавал, в които е вярвал, преди две десетилетия, преди да чуе съскането, преди да чуе шепненето, преди да чуе “върви си”, от тук и от там, преди “там” да стане “тук” и “тук” да стане другаде. 

  • Какво да бъде?
  • Да бъде. 
  • Моля? 
  • Моля. Едно кафе. Litteraire. Da komm ich her.

Този човек, мисли си келнерът с червения паспорт и лошия навик да гласува за националистическата партия, този човечец, черен като дявол, но как тряска на масата думите, съвсем като местен. Някакъв писател сигурно. Какви ли не ги пласират напоследък. После за кратко си тананика „Vom Himmel hoch, da komm ich her.Ich bring’ euch gute neue Mär„, докато кафето капе в чашата, но после се сеща, че всъщност не може да понася коледни песни.
Тетрадката мълчи, кориците стиснати като устни на недоволен старец. Но точката е сложена и звукът на блаженството се разпространява върху меките страници, пропива ги като тъмна, освежаваща течност.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Nelly Staneva: Uns aus dem Fluss der Zeit, aus der Entropie, befreien. Und wenn es um das Erschaffen von Literatur geht, dann, wie Italo Calvino sagt, erschließt sich die Weite des Ungeschriebenen nur durch den begrenzten Akt des Schreibens. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
NS: Ich bin schon als Schülerin dem Charme des Cafés verfallen. Zum einen begeistert mich das Genussmittel Kaffee, so wie manchen anderen Wein oder Zigarren. In den letzten Jahren im Gymnasium schwänzte ich regelmäßig Stunden, um Zeit mit meinen Notizbüchern und Tagträumen in Cafés zu verbringen. Seit ich Mutter bin, schreibe ich wieder fast immer in Cafés, denn meine kleine Wohnung ist viel zu voll mit diesem laut pulsierenden Lebensabschnitt. Cafés sind zuverlässige Portale, sie bieten mir jederzeit Zugang zu mir selbst, wenn ich ihn brauche. Darum rede ich aber ungern mit anderen Menschen dort, ich treffe mich auch nicht gern mit Freunden und Kollegen in Cafés.

Wo fühlst du dich zu Hause?
NS: Das ändert sich immer wieder, aber bis jetzt war es selten dort, wo meine Adresse registriert war. Zu Hause ist eher ein seltener Zustand der gleichzeitigen Begeisterung und Ruhe als ein Ort. Aber gerade fühle ich mich in meiner Heimat Bulgarien wieder sehr gut, was lange nicht der Fall war. Ansonsten — wenn ich aufwache und das Köpfchen meines Kindes rieche, oder der Arm meines Liebhabers über mir liegt, fühle ich mich für kurze Zeit auf dieser Erde absolut richtig und zu Hause.

 

BIO

Nelly Staneva, 1983, ist Dichterin und Schriftstellerin. Sie ist in Bulgarien geboren und lebt seit 20 Jahren in der Schweiz. Sie hat zwei Lyrik-Bücher herausgebracht und weitere zwei (Lyrik und ihr erster Roman) sind auf dem Weg zur Veröffentlichung.

 

Catherine Cusset | L’Élephant du Nil, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Catherine Cusset | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

        Es gibt viele Cafés auf dem Platz bei der Métrostation Saint-Paul, fünf Minuten von meinem Haus entfernt. L’éléphant du Nil hat mich angezogen, weil das ein echtes Pariser Café ist, mit Zinktheke, kleinen dunklen Holztischen, Bistrostühlen und alten Fliesen. Ich fühle mich dort wohl. Eine Durchreiche öffnet sich zur Küche, wo der Koch gutes und preiswertes Essen zubereitet. Die Kellner sind jung und freundlich, und sie lächeln – im Gegensatz zum Klischee des typischen Pariser Kellners.
        Hier komme ich in Paris an, wenn ich aus New York anreise. Dreißig Jahre lang landete ich drei- oder viermal im Jahr in Roissy, holte meinen Koffer ab, nahm den RER, stieg in Châtelet um und stieg in Saint-Paul gegenüber dem L’éléphant du Nil aus. An der Theke bestellte ich einen Grand Crème, im Stehen, neben Stammgästen, die gerade einen Espresso oder ein Glas Wein tranken. Manchmal blieb ein Croissant übrig, buttrig und knusprig. Es ist Mittag in Paris und 6 Uhr morgens in New York. Der heiße, süße Milchkaffee läuft durch meine Kehle, ich schlucke einen Bissen Croissant hinunter, diese vertrauten Geschmäcker sagen mir, dass ich angekommen bin, dass ich zu Hause bin.
        Im Café lese ich, aber ich schreibe nicht. Zum Schreiben brauche ich Stille und einen abgetrennten Raum. Virginia Woolf hatte nicht Unrecht, als sie auf der Notwendigkeit eines eigenen Zimmers bestand. Ich gehe vom Bett zum Schreibtisch, vom Schlaf und von den Träumen zum Schreiben, ohne Übergang. Ich beginne den Tag nie mit einem Frühstück im Éléphant du Nil, obwohl ich den Grand Crème und die Croissants so sehr liebe. Nur, wenn ich aus New York ankomme.

 


Interview mit der Autorin

Was kann die Literatur leisten?
Catherine Cusset: Kafka schreibt, dass sie die Axt für das gefrorene Meer in uns sein muss. Ja. Sie öffnet uns – uns selbst, dem anderen, der Welt. Sie macht uns größer, reicher, bewegt uns fort. Es gibt zwei Arten von Literatur: in der einen geht es um Unterhaltung, in der andern um Suche. Obwohl ich diejenigen bewundere, die Bücher schreiben, die von Teenagern verschlungen werden, bevorzuge ich die andere Art. Ich lese nicht für die Handlung, sondern für die Bedeutung, für die lebendige Anwesenheit eines menschlichen Geistes. Gute Bücher sind solche, bei denen man das Ende bereits kennt und die man noch einmal lesen kann, ohne sich je zu langweilen. Ich lese und schreibe, weil ich auf der Suche bin – nach Wahrheit, nach Sinn, nach Verbindung, nach Kohärenz, nach Andersartigkeit, nach mir selbst.
        Es fällt mir schwer, ohne schreiben zu leben. Ich werde sehr schnell depressiv. Nur das Schreiben macht mein Leben erträglich. Weil es vereint, sammelt, Bedeutung schafft, die Erinnerung bewahrt, Zugang zum Anderen und zum Besten von einem selbst gibt. Schreiben ist eine einsame Tätigkeit, aber das einzige echte Mittel, die Einsamkeit zu verlassen.

 

BIO

Catherine Cusset, geboren 1963 in Paris, ist Autorin von fünfzehn Romanen, die zwischen 1990 und 2021 bei Gallimard erschienen und in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt wurden, darunter Janes Roman (Grand Prix des lectrices d’Elle 2000), Hockneys Leben (Prix Anaïs Nin) und Die Definition von Glück. Als ehemalige Studentin der École Normale Supérieure in der Rue d’Ulm, Absolventin der klassischen Philologie und Autorin einer Dissertation über Sade unterrichtete Cusset zwölf Jahre lang in Yale, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach dreißig Jahren in New York lebt sie heute zwischen Paris und der Halbinsel Crozon in der Bretagne.

Béatrice Riand | Cafè de l´Òpera, Barcelona

Foto: Alain Barbero | Text: Béatrice Riand | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack

 

Bringt mir Erinnerung Gewinn, fragt Apollinaire, wenn er die Seine und die Mirabeau Brücke besingt… komme du Nacht, Stunden schlagt sacht, die Tage vergehen, ich bleibe bestehen. Und auch die Erinnerungen, immerfort die Erinnerungen. Wenn ich durch die Tür des Café de l’Opéra in Barcelona gehe, begebe ich mich auf die ungewisse Brücke der Erinnerung. Und ich suche, suche die Silhouetten vergangener Zeiten. Die schützenden Schatten, die meine Kindheit umfassen, sie bei der Hand nehmen, um sie jeden Sonntag in den Genuss von churros con chocolate zu bringen. Ins Ohr flüstern zärtliche Stimmen, du bist Katalanin, Kleines, vergiss das nicht, vergiss das nie. Ich vergesse nicht. Und ich vergesse sie nicht. Weder meinen tapferen Großvater, der sich weigert, auf seine Brüder zu schießen, als der Bürgerkrieg das Land und die Herzogsstadt auseinanderreißen, noch meine schwache Urgroßmutter, die ihr eigenes Leben riskiert, um für viele Jahre drei verängstigte Klosterschwestern hinter einer falschen Mauer in einem Weinkeller zu verstecken, noch meine siebzehnjährige Großmutter, die über die Gewalt der Männer weint und inmitten der Trümmer einer vereitelten Existenz Klavier spielt. Die churros aus dem Café de l’Opéra sind meine Madeleine von Proust, mein Erbe. Ich schließe die Augen, greife zu einem gezuckerten Krapfenteig und sehe sie wieder, sie lächeln mir zu. Ich höre ihre Stimme. Ihrem Atem auf mir. Und die Tage vergehen, die Wochen vergehen, die Jahre vergehen, was spielt Zeit, ihr Zerfasern, für eine Rolle, glaubt mir, ich sehe sie wieder. Sie sind hier. Pedro und seine gepunktete Krawatte, Eulàlia und ihr Kranz aus Rosenblüten, Maria und ihre fächernde Milde. Und ich feiere aus meinem tiefsten Inneren den Mut jener, die damals den Krieg kennenlernen mussten. Oder die heutigen Grausamkeiten erfahren. Und ich sage euch, die Gestorbenen sterben nie. Ich sage euch, ja, komme du Nacht, Stunden schlagt sacht, die Tage vergehen, Erinnerungen bestehen.

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Béatrice Riand: Literatur bedeutet ein Luftholen, das zwischen Realem und Plausiblen schwebt, zwischen Wahrem und Wahrhaftem. Und dieser ungewisse Atem ermöglicht allen einen anderen Blick auf die Welt zu erfahren. Aber Achtung, nicht falsch verstehen: „die Literatur dient nicht dazu, besser zu sehen. Sie dient nur dazu, die Dicke des Schattens besser einzuschätzen.“ (William Faulkner)

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
BR: Auf die Gefahr hin, dass ich dich enttäusche, muss ich zugeben, dass ich nicht viel in Kaffeehäusern schreibe, nicht in Kaffeehäusern lese. Die einzigen Einrichtungen, in die ich regelmäßig gehe, sind mit alten Erinnerungen verbunden.

Wo fühlst du dich zuhause?
BR: Ohne Zweifel in meiner Bibliothek. Wenn ich mich an meinen Schreibtisch setze, von Büchern umgeben, die mich seit Jahren begleiten, eingehüllt in Worte von anderen, empfinde ich einen echten inneren Frieden. Ich kenne weder Einsamkeit noch Stille.

 

BIO

Béatrice Riand wuchs als Tochter eines Schweizer Vaters und einer katalanischen Mutter zwischen zwei Kulturen und drei Sprachen auf. Nach einem Master in französischer Literaturwissenschaft und Psychologie widmet sie sich dem Schreiben. Sie wurde zwei Mal mit dem Prix du Jury des Arts et Lettres de France ausgezeichnet, drei Mal mit dem Prix du Jury de la Société des Écrivains Valaisains, darunter erst unlängst für ihren Roman Si vite que courent les crocodiles (BSN Press), der sich mit Problematiken der Pubertät beschäftigt. Im Oktober 2023 erschien ihr dritter Roman Ces jours-là (Editions Slatkine), der sich mit dem Thema des Inzests auseinandersetzt.

Evelyn Schalk | Die Scherbe, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Evelyn Schalk

 

nische und bühne, geschichte in sesselfugen, tischplatten, die sprachwelten beherbergen. das einst bürgerliche kaffeehaus ist rasch zum gegenort des sakralen wohnzimmers geworden. eine bleibe für all jene, die den eigenen vier wänden entfliehen wollen, müssen oder dürfen. weil der platz fehlt, zuviel lärm herrscht oder erstarrte stille, erinnerungen alles leben ersticken oder leere sich in die unendlichkeit zu dehnen droht. um mit anderen oder allein zu sein. das kaffeehaus ist zufluchtsort und manchmal der einzige kleine luxus. allein dieses bewusstsein ist überlebensmittel.
im gegensatz zu vielen cafés ist die Scherbe ein ankerpunkt über viele jahre geblieben, zu nahezu jeder tages- und nachtzeit. denn ein kaffeehaus hebt normzeiten auf, nachmittags frühstücken, über mitternacht schreiben, bis in den morgen diskutieren, in der zeitlosigkeit wird die zeit individuell. gleich um die ecke der Scherbe habe ich meine ersten tage in einer redaktion verbracht, im selben haus, in dem jahrzehnte zuvor drei frauengenerationen meiner familie auf engstem raum lebten, als die gegend noch nicht hip war, sondern ein arme-leute-viertel. ein foto meiner uroma zeigt sie im einzigen raum der wohnung sitzend, neben sich die aufgeschlagene tageszeitung, darauf eine große lupe. „ihr interessiert’s euch viel zu wenig!“, hatte sie, der neben all der arbeit kaum zeit blieb und wenn, dann zum lesen, immer gemahnt, erinnerte sich meine mutter. bei ebendieser zeitung habe ich später, am stadtrand, journalismus von der pike auf gelernt. ins kaffeehaus sind alle gegangen. ungezählte paare haben sich dort gefunden und wieder verloren. eine politische und private institution gleichermaßen. ein wahrlich öffentlicher salon und ein salon der öffentlichkeit. genau deshalb – und nicht aus einem verstaubten, verrauchten klischee – entsteht hier literatur.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Evelyn Schalk: bei nah alles.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
ES: das kaffeehaus ist einer der ersten orte, die ich in einer noch fremden stadt besuche und das erste ziel, wenn ich wieder zurückkomme. es bedeutet ankommen und unterwegs sein gleichzeitig, nur so kann ich entfliehen, und nur so in eine bis dahin unbekannte geographie eintauchen. da sein. am rand, im zentrum. ins café zu gehen heißt immer, etwas zu teilen, eine stillschweigende übereinkunft, code über grenzen. anonymität und vertrautheit. raumnahme und fluchtort. frei raum. widerstand gegen die verprivatisierung des seins. und genau deshalb auch schreibort. nicht immer, aber immer und immer wieder. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
ES: in bewegung.

 

BIO

Evelyn Schalk ist Journalistin, Autorin, Kulturarbeiterin; Mitherausgeberin und Chefredakteurin des ausreißer – Die Wandzeitung und tatsachen.at; Studium der Romanistik, Germanistik und Medienfächerkombination. Kolumnistin bei perspektive – hefte für zeitgenössische literatur; Reportagen, Artikel, Essays für Frankfurter Rundschau, Standard, mare, Megaphon, Datum, Beton International, jungle world u.a.;  Publikation des Bandes Graz – Abseits der Pfade (2018); Literaturprojekt nacht.schicht quer durch Europa. Aktuelle Serie: About War – Die Sprache des Krieges