Evelyn Schalk | Die Scherbe, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Evelyn Schalk

 

nische und bühne, geschichte in sesselfugen, tischplatten, die sprachwelten beherbergen. das einst bürgerliche kaffeehaus ist rasch zum gegenort des sakralen wohnzimmers geworden. eine bleibe für all jene, die den eigenen vier wänden entfliehen wollen, müssen oder dürfen. weil der platz fehlt, zuviel lärm herrscht oder erstarrte stille, erinnerungen alles leben ersticken oder leere sich in die unendlichkeit zu dehnen droht. um mit anderen oder allein zu sein. das kaffeehaus ist zufluchtsort und manchmal der einzige kleine luxus. allein dieses bewusstsein ist überlebensmittel.
im gegensatz zu vielen cafés ist die Scherbe ein ankerpunkt über viele jahre geblieben, zu nahezu jeder tages- und nachtzeit. denn ein kaffeehaus hebt normzeiten auf, nachmittags frühstücken, über mitternacht schreiben, bis in den morgen diskutieren, in der zeitlosigkeit wird die zeit individuell. gleich um die ecke der Scherbe habe ich meine ersten tage in einer redaktion verbracht, im selben haus, in dem jahrzehnte zuvor drei frauengenerationen meiner familie auf engstem raum lebten, als die gegend noch nicht hip war, sondern ein arme-leute-viertel. ein foto meiner uroma zeigt sie im einzigen raum der wohnung sitzend, neben sich die aufgeschlagene tageszeitung, darauf eine große lupe. „ihr interessiert’s euch viel zu wenig!“, hatte sie, der neben all der arbeit kaum zeit blieb und wenn, dann zum lesen, immer gemahnt, erinnerte sich meine mutter. bei ebendieser zeitung habe ich später, am stadtrand, journalismus von der pike auf gelernt. ins kaffeehaus sind alle gegangen. ungezählte paare haben sich dort gefunden und wieder verloren. eine politische und private institution gleichermaßen. ein wahrlich öffentlicher salon und ein salon der öffentlichkeit. genau deshalb – und nicht aus einem verstaubten, verrauchten klischee – entsteht hier literatur.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Evelyn Schalk: bei nah alles.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
ES: das kaffeehaus ist einer der ersten orte, die ich in einer noch fremden stadt besuche und das erste ziel, wenn ich wieder zurückkomme. es bedeutet ankommen und unterwegs sein gleichzeitig, nur so kann ich entfliehen, und nur so in eine bis dahin unbekannte geographie eintauchen. da sein. am rand, im zentrum. ins café zu gehen heißt immer, etwas zu teilen, eine stillschweigende übereinkunft, code über grenzen. anonymität und vertrautheit. raumnahme und fluchtort. frei raum. widerstand gegen die verprivatisierung des seins. und genau deshalb auch schreibort. nicht immer, aber immer und immer wieder. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
ES: in bewegung.

 

BIO

Evelyn Schalk ist Journalistin, Autorin, Kulturarbeiterin; Mitherausgeberin und Chefredakteurin des ausreißer – Die Wandzeitung und tatsachen.at; Studium der Romanistik, Germanistik und Medienfächerkombination. Kolumnistin bei perspektive – hefte für zeitgenössische literatur; Reportagen, Artikel, Essays für Frankfurter Rundschau, Standard, mare, Megaphon, Datum, Beton International, jungle world u.a.;  Publikation des Bandes Graz – Abseits der Pfade (2018); Literaturprojekt nacht.schicht quer durch Europa. Aktuelle Serie: About War – Die Sprache des Krieges

Alexandre Delas | Le Réveil du 10ème, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Delas Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

Ich habe mein altes Exemplar des Idioten mitgebracht, weil ich schon immer den Idealismus von Prinz Mychkine bewundert habe, der Charakterzug, der allen großen literarischen Kräften, die in allen Revolutionen auf Papier am Werk waren, gemein ist.

Die Revolution? 
Wie wäre es, wenn wir stattdessen über die Liebe sprechen.
Alain teilt meine Vorliebe für die alten Kinos.
„In den 80er Jahren machte ich einen Test, ich nahm die Mädchen immer mit ins Christine, um Mauvais Sang (Leos Carax, „Die Nacht ist jung“) zu sehen. Wenn sie diesen Film nicht mochten, dann wusste ich, dass zwischen uns nichts möglich sein würde.“
Ich frage Alain, ob es geklappt hat.
Er antwortet mir lächelnd: „Die Frau, mit der ich mein Leben teile, fand ihn ganz gut, mehr auch nicht.“ 

Manch einer könnte den Prinzen heutzutage ohne weiteres umbenennen, „Miskine“
(Bemerk. Übers.: französisches Wortspiel mit „miskine“, Neologismus aus dem Arabischen für „erbärmlich, arm“), doch ich möchte daran glauben, dass das Ideal immer einen Versuch wert ist.

Der Moment für das Foto kommt.
Wenn Brassens und Ferré mit im Bild sein dürfen, an meiner Seite, dann bin ich in sehr guten Kreisen.

 


Interview mit dem Autor

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
Alexandre Delas: Ein Café ist ein exzellentes Mittel gegen Einsamkeit in großen Städten. Es ist eine Blase mitten in der Welt und gleichzeitig außerhalb der Welt. Hier ein Rat: lächelt und sprecht mit eurem Tischnachbarn, selbst wenn diese Person nicht sympathisch wirkt. Vielleicht ist sie auch einsam wie ihr.

Wo fühlst du dich zu Hause? 
AD: Überall da, wo ich ein Fremder bin. 

 

BIO

Alexandre Delas lebt und arbeitet in Paris. Les Premières funérailles ist sein erster Roman (englische Version beim Autor). Er beschreibt eine ultra-kapitalistische Diktatur der extremen Rechten, die nach einem „Welt“-Krieg in Frankreich an der Macht sind, in der niemand mehr das Recht hat, zu sprechen, die Auswirkung auf die Psyche seiner Helden und Personen, die sich kreuzen — ihre Identität, ihre sentimentale Erziehung und ihr Entdecken der Arbeitswelt.
Alexandre Delas, gut informiert über die globalisierte Welt, hat seinem Text durch eigene mannigfaltige Berufserfahrung in Asien und den USA Nahrung gegeben.
https://linktr.ee/alexandre_delas

 

 

Vincent Crouzet | Tandem, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Vincent Crouzet Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Um Alain zu treffen, habe ich einfach das Tandem gewählt, denn da fühle ich mich wohl. Wie im Familienkreis. Es ist nicht eins dieser Wein-Bistros, wo laut geredet wird, wo man sich in Pose wirft. Es ist ein Ort des kleinen Raums, wie auf einer Terrasse, wo es einfach zugeht. Es ist der Raum von Philippe und Nicolas, die zwei  unzertrennlichen Brüderchen, die das Tandem hochhalten wie ein örtliches Markenzeichen, diese Blase der fröhlichen hedonistischen Ruhe, bevor man die rue de la Butte aux Cailles hinaufgeht, die lauter und weiter weg ist. Man kommt nicht, um ein Glas im Tandem zu trinken, sondern um zu frühstücken, Mittag zu essen, sich Zeit zu nehmen, und sich an einem Dekor zu erfreuen, das sich nicht verändert, sich nicht bewegt, in einer Zeit, in der die verrückten Dekorateure so reizende Bistros hinpfuschen. Hier gibts echte Holztische, Kacheln, die schon viel gesehen haben, eine strahlende Bar, die wie dafür gemacht ist, sich einen Moment mit Nikolas an die Theke zu lehnen und sich ihm zu überlassen …
Weil man auch ins Tandem kommt, um sehr guten Bio-Wein zu trinken, außerhalb von Moden und Tendenzen. Der naturbelassene Wein ist dort nicht verboten, wird aber auch nicht verklärt. Nichts wird aufgezwungen. Das Kriterium hier ist nach wie vor die echte Freude, nicht der Schein. Und diese Freude am Genießen passt mit der einfachen, ehrlichen Küche von Philippe zusammen, die auf Familienrezepten, mit „Ausflügen“ Richtung Asien, beruht …
Ich komme oft ins Tandem, fast täglich, begleitet von der Frau meiner Gedanken. Denn hier muss ich nichts vorspielen. Und die Beleuchtung – im Herbst, im Winter – ist warm, gemütlich. Nichts ist überspitzt. Das ist wichtig in einer Welt der Überbietung. 
Sich niederlassen. Zuhören. Und wenn ich allein komme, das passiert oft, dann ist Nikolas wie ein weiterer Gast, präsent, aufmerksam, neugierig, mitteilsam. Dies ist ein Bistro, wo ich nicht auf Abwege gerate, denn es repräsentiert auch meinen Fixpunkt, meine rechte Mitte.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Vincent Crouzet: Die Frage … ganz ehrlich: Freiheit kreieren. Die des Schöpfers, des Schriftstellers. Die der Leserinnen und Leser. Dieses Stück Freiheit steckt auch im Reisen. Lesen, schreiben, das heißt weggehen. Ich glaube tief und fest an die Kraft des Romans, die den Schriftsteller von sich selbst wegbringt. Ich verstehe die Neugier für die Autofiktion, aber unser Reichtum als Roman-Autoren bleibt es, Welten zu erschaffen und sie zu den Lesern zu bringen. Ich denke nicht an die Literatur, sondern an Literaturen. Die meinen bleiben übrigens reines Fluchtverhalten …

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VC: Ich habe nicht diese Beziehung des Schriftstellers zu Cafés. Ich schreibe dort nie. Und ich gestehe, dass ich sehr skeptisch bin, wenn ich einen Schriftsteller, eine Schriftstellerin, in einem Bistro arbeiten sehe. Die Cafés sind offenbar ein Klischee, für mich sind sie die bevorzugten Orte für Treffen, aber ich gebe zu, dass sie vor allem zu meiner persönlichen Freude gehören. Ich liebe es, mich dort allein aufzuhalten, am Morgen, um zu beobachten, wie die Stadt sich wachschüttelt, und auch ihre Akteure. In einer Stadt, die mir fremd ist, nehme ich dort die Energie dieser Welt auf. Aber auch, leider, manchmal, zu oft, ihre Nöte.

Wo fühlst du dich zu Hause?
VC: Das ist eine heikle Frage in diesem Moment, für mich, denn seit einigen Monaten navigiere ich zwischen mehreren Orten. Ich schwanke zwischen der Lust auf Unterhaltung, Gewimmel, und der Notwendigkeit der Ruhe. Zwischen den Lichtern der Stadt und der Stille. Ich glaube, wir rotieren alle zwischen Paradoxen: an der kollektiven Energie teilhaben, oder in einer privilegierten Umgebung zu sich selbst finden. Ich bin in den Bergen großgeworden, in einem Wintersport-Ort, in Les Arcs, in Savoie. Wenn ich mich in diesen Höhen befinde, und in dieser spielerischen Atmosphäre, der Natur und dem Sport gewidmet, ja, da fühle ich mich gut. Aber ich werde schnell von der Lust wieder woanders einzutauchen, eingenommen.

 

BIO

Vincent Crouzet ist 59 Jahre alt, hat seine Jugend in den Bergen verbracht, studierte in Grenoble, entschied sich in einem Moment seines Lebens für den Beruf im Nachrichtendienst und nahm dann an Geheimoperationen seines Landes, Frankreich, teil, hauptsächlich in Zentral- und im südlichen Afrika. Von da an Romanautor, mittlerweile hat er vierzehn Texte „auf dem Buckel“, hauptsächlich Spionage-Romane, aber auch Erzählungen für Jugendliche und einen Essay. Seit zwei Jahren entwickelt er unter dem Pseudonym Viktor K, eine literarische Serie über die Aktionen der DGSE (Direction générale de la Sécurité extérieure), erschienen bei Éditions Robert Laffont. 

Andreas Unterweger | Café König, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Andreas Unterweger

 

Ich versank in den Anblick zweier alter Damen, auf deren Tischlein, zwischen einer respektablen Anzahl von Tassen und Tellern, ein Bilderrahmen in der Größe eines Porträtfotos aufgestellt war. In diesem vergoldeten Rahmen, den ich nur von hinten sehen konnte, musste sich – das stand für mich schnell außer Frage – das Foto einer verstorbenen Freundin befinden. Sie mochte den beiden vorausgestorben sein, dachte ich, doch dank des Bildes war sie noch immer hier, immer noch unter ihnen, „unter uns“.
Mein Blick wanderte von den Damen zum Porträt Alfred Kolleritschs, das über meinem eigenen Tisch hing, wanderte hinüber zur Theke, wo die Parte von Heimo Steps platziert war (samt Foto, versteht sich), und mit dem Blick wanderten meine Gedanken: von der Macht der Bilder (wobei mir ein alter Buchtitel einfiel: Noch leuchten die Bilder) zu jener des Stammtischs. Man darf den Kaffeehaus-Stammtisch, die Nachfolge des rituellen Sitzkreises rund um die Feuerstelle, dachte ich, eben nicht unterschätzen. Am Ende, dachte ich, ist der Stammtisch, und mag es sich auch nur um ein -tischlein handeln, größer als der Tod.
Tröstlich, wie mir dieser Gedanke schien, wollte ich ihn sofort notieren und tastete im Rucksack nach meinem Notizbuch. Erst jetzt, kramend und dabei, wie ich gestehen muss, eine Träne aus dem Augenwinkel blinzelnd, bemerkte ich, dass auch auf dem Tisch neben jenem der beiden Damen, an dem ein ehemaliger Fußballspieler die Tagesaktualitäten aus der Zeitung pflückte, ein solcher Bilderrahmen stand. Und ein Tischlein weiter, wo niemand saß? Das Gleiche. Ja, selbst auf meinem eigenen Tisch, unmittelbar neben dem großen Wasserglas, das ich immer bestelle und nie austrinken kann, stand, mir den Rücken zuwendend, ein goldener Rahmen. Als ich ihn umdrehte, sah ich: kein Bild, sondern Wörter (und Zahlen). Die neue Speisekarte.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Andreas Unterweger: Unter den vielen Vorzügen der Literatur ist folgender wohl nicht der geringste: Sie kann einen guten Vorwand darstellen, um Kaffee zu trinken. Manche trinken beim Lesen Kaffee, manche beim Zuhören, viele beim Schreiben. Balzac zum Beispiel soll täglich bis zu 50 Tassen getrunken haben. Es heißt, er habe all den Kaffee trinken müssen, um seine vielen Romane schreiben zu können. Mich aber lässt der Verdacht nicht los, dass es in Wirklichkeit genau andersherum war. Ich glaube, er hat nur deshalb so viel geschrieben, damit er so viel Kaffee trinken konnte.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AU: Meist gehe ich ins Café, um dort zu schreiben. Aber vielleicht ist es wie bei Balzac, und ich schreibe nur, um einen guten Grund zu haben, ins Café zu gehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AU: Das ist mein Kaffee.

 

BIO

Andreas Unterweger ist Schriftsteller und Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte.
Seine bislang sechs Bücher sind im Literaturverlag Droschl erschienen, zuletzt der Roman So long, Annemarie (2022), der in Nantes spielt. Seine Prosa und Lyrik wurden in mehrere Sprachen übersetzt, etwa Le livre jaune (übersetzt von Laurent Cassagnau, Lanskine, Paris 2019). Er selbst übersetzt hauptsächlich aus dem Französischen (Laure Gauthier, Guillaume Métayer, Fiston Mwanza Mujila …).
Unterweger erhielt u.a. den manuskripte-Preis des Landes Steiermark 2016 und den Preis der Akademie Graz 2009. 2023 wurde er in das schreibART-Förderprogramm des österreichischen Außenministeriums aufgenommen.
www.andreasunterweger.at

Eva Brunner | Schönes Café, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Eva Brunner

 

»Schönes Café« ist ein schwieriger Name. Eine Behauptung und grammatikalische Herausforderung. Treffen wir uns im Café Schönes Café oder im Schönen Café? Aber es kann den Namen tragen, löst ihn unaufgeregt ein. Ich bin froh, dass es das Café gab, als ich das erste Mal in den späten 00er Jahren in der Ecke mit einer Freundin nach einem guten Ort für unseren Sonntagskaffee gesucht habe. Dass es da war, als ich in den 10er Jahren eine kurze Pause vom Familienalltag wollte, mir was gönnen. Und dass es immer noch da ist, als ich in 20er Jahren nach einem Lieblingscafé in Berlin suche, das in der Nähe meiner Immernoch-Arbeit liegt, in den Straßen Berlins, in denen ich mich am meisten Zuhause fühle, auch wenn ich nicht mehr dort wohne. In Uppsala wüsste ich sofort, welches Café ich nehmen würde. Das Årummet an der Ecke zum Fluss mit seinen tiefen Omasesseln und der grandiosen Tortenauswahl.
Im Schönes Café liegt der Schwerpunkt mittlerweile auf der Mittagszeit, wenn Tagesgerichte selbstgekochter Fusion-Kost gereicht werden. Soulfood könnte man sagen. Generell herrscht in dem kleinen Raum ein guter Geist. Dezent stilvoll und gemütlich ohne zu cool zu sein. Schön einfach – farbig lackiertes Holz, weiß verputzte Wände, kleine Vasen mit einzelnen Schnittblumen, fast auf eine deutsche Art skandinavisch.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Eva Brunner: Hm, große Frage, viel, auch wenn es viele Menschen gibt, denen sie gar nichts bedeutet, was ich auch manchmal eine ganz heilsame Perspektive finde, um alles nicht zu ernst zu nehmen. Ich finde es gut, wenn es ganz unterschiedliche Literatur geben darf und alle das lesen können und dürfen, was ihnen gerade Spaß macht. Zum Beispiel, wenn Erwachsene auch für sich Kinder- oder Jugendbücher lesen. Literatur kann eine gute, ganz persönliche Erfahrung sein, einen inneren Dialog in Gang setzen, neue Ideen geben, Träume anfüttern, eine mit anderen Orten und Zeiten verbinden. Und Literatur kann ein gutes Gesprächsthema sein, eine Art, sich persönlich auszutauschen, ohne direkt von sich zu sprechen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
EB: Cafés sind besondere Unterbrechungen für mich, ein bewusstes mir Zeit nehmen oder Zeit überbrücken mit einem Fokus auf Kaffee und was Leckerem zu Essen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
EB: Ich fühle mich am meisten Zuhause, wo mein Bett steht. Und an allen Orten, wo ich mal gelebt habe oder meine Familie lebt.

 

BIO

Eva Brunner, *1980 in Siegen, lebt in Uppsala und arbeitet in einer Berliner Kommunikationsagentur. Sie promovierte über “confessional poetry” und publiziert seit 2010 regelmäßig literarische Texte. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt “Achtung, die Naht” in der parsitenpresse. Diesen Winter erscheint ebendort ein zweiter Band. Ebenfalls erhältlich das Lyrikbüchlein “Die Mandarinenorakel”, zusammen mit Elke Cremer und Illustrationen von Yayo Kawamura (GE59, 2021). 

Julia Knaß & Michelle-Francine Ulz | Café Harrach, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Julia Knaß & Michelle-Francine Ulz

 

 


Kurzinterview mit den Autorinnen

Was kann Literatur?
Julia Knaß & Michelle-Francine Ulz: Nichts. Weinen. Weben. Verbindungen herstellen. Folgen.
Alles. Zerreißen. Zerfetzen. Auftreten. Aussprechen. Heilen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für euch?
JK&MU: Treffpunkte. Kaffee. Weinen. Verbindungen herstellen. Freundschaften
Allein sein. Erinnerung. Weinen. Mich herstellen. Begegnungen. 

Wo fühlst du euch zu Hause?
JK&MU: In Rissen. Wenn es glitzert. Im Text. Unter Wasser. In den Tränen.
Überall dort, wo ich im Moment nicht sein kann.

 

BIO

Michelle-Francine Ulz und Julia Knaß schreiben in Graz und im Internet. Sie haben sich über die Literaturzeitschrift „mischen“ kennengelernt und arbeiten seitdem an unterschiedlichen Texten, immer Brigitte Schwaiger im Kopf. Ihr letztes Projekt ist der literarische Kurzfilm „Fehlerleben“ (2023), den sie gemeinsam mit Nadine Nebel konzipiert und gedreht haben.

Sandrine Malika Charlemagne | Le Surcouf, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Sandrine Malika Charlemagne Übersetzung aus dem Französischen: Christiane Barabas & Daniela Gerlach

 

Ich sah ihm dabei zu, wie er sich irgendwie unbeholfen auf den hohen Hocker hievte, eine zarte Silhouette in seiner Lederjacke, die er trotz der prallen Sonne draußen trug. Er lehnte seinen Stock gegen die Theke, versuchte das Gleichgewicht zu finden. Seine mandelförmigen, gletscherfarbenen Augen kreuzten sich einen Augenblick, in dem ich glaubte, die Nostalgie einer Zeit flackern zu sehen, deren einziger Hüter er wäre, mit den meinen.
Die Sanftheit, die von diesem durch die Jahre gebleichten Gesicht ausging. Ein Einheimischer? Ich war ihm in dem Café noch nie begegnet. Er hatte das Profil eines Adlers, seine lichten, blassgrauen Haare in Flaumfedern. Den Rücken gebeugt, die Beine in seiner Hose aus grobem Stoff schlotternd, fixierte er einen Punkt in der Ferne. Der kleine Mann deutete ein Lächeln an, in seiner ruhigen Einsamkeit. Ich hatte plötzlich Lust auf ihn zuzugehen, seine Hand zu nehmen, die Wärme seiner Haut zwischen meinen Fingern zu spüren. Woran dachte er? Ich fragte mich, ob er merkte, dass ich ihn beobachtete. Und dann, das Trugbild des Lebens. Ich sah den Mann am Ausgang eines Bahnhofs auf einem alten Koffer sitzen, wo eilige Menschen an ihm vorbeiliefen, ohne ihn überhaupt zu sehen. Ich sah wie er die Hand ausstreckte. Auf eine Geste des Mitgefühls, des Wohlwollens, einer flüchtigen Freundschaft wartete. Aber nur die Vögel sammelten sich mit einem Anschein von Zuneigung um ihn. Er, auf seinem Koffer, mitten unter den Tauben, er lächelte, ein Lächeln, das die Feinheit seiner abgemagerten Züge zur Geltung brachte. Er lächelte dem Leben zu, das bald, wie in einem Buch, sich wieder über ihm schließen würde.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Sandrine Malika Charlemagne: Sie zeigt Welten – vom Alltäglichsten bis zum Barocksten – sie hilft einem, sich zu konstruieren – wach zu bleiben – zu staunen – und manchmal heilt sie die leidende Seele. Sie ist auch der Ort des Geheimnisses. Eine Leinwand, auf der man tausendundeine Landschaft entdeckt. Mit der Literatur kommt man überall hin. Ein bisschen wie in einem Film. Die Figuren sind ewig. Man fühlt sich lebendig, wenn man liest. Man atmet anders. Man denkt anders. Man diversifiziert unseren Zugang zur Sprache. Vielleicht lieben wir auch anders.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SMC: Durchgangsorte, wo man die Leute beobachten, ihrem Reden oder Schweigen zuhören kann. Von den Menschen um uns herum träumen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
SMC: Angesichts der Grenzenlosigkeit der Natur. Berge. Wälder. Wüsten. Ozeane.

 

BIO

Sandrine Malika Charlemagne begann eine Schauspielausbildung am Cours Nordey, spielte vor allem am Theater Gérard Philippe in Saint-Denis unter der Leitung von Jean-Claude Fall, schrieb Anastasia, das in France Culture gesendet wurde, veröffentlichte drei Romane, zwei Theaterstücke und zwei Gedichtbände,  leitete Workshops in Vitry-sur-Seine, Sevran-Beaudottes, Cergy-Saint-Christophe, Saint-Denis und reiste hier und dort herum. 
Die Stalkerin (Edition Velvet) erscheint im November 2023.

Véronique Sels | L’Ultime Atome, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Véronique Sels Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich halte mich geographisch gerne in einer anderen Umgebung auf, eine, die nicht die der behördlichen Arrondissements ist, sondern der Bevölkerung. Ich liebe Matongé, das größte afrikanische Geschäfts- und Verbände-Viertel Brüssels, Namensvetter des Ausgehviertels in Kinshasa in der Demokratischen Republik Congo. Ich liebe den Saint Boniface-Platz, einst populär und heute gentrifiziert, erobert von dreißigjährigen Beamten der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die nur zum Essen und Trinken hierher kommen. Ich mag es, Deutsch, Englisch, Spanisch und das Ligala innerhalb desselben Perimeters zu hören. Ich mag die unsichtbaren Grenzen, die physische Inkarnation der Städte, ihre Feste, ihre Schlemmereien, ihre Tänze, ihren Widerstand gegen das Ultimatum (Ultimatum: Anordnung, mit der ein Staat einem anderen Staat im Laufe einer Verhandlung bestimmte Forderungen präsentieren muss). Ich liebe das „letzte Atom“ des Widerstands, das in jedem von uns fortbesteht. 

 


Interview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Véronique Sels: Zunächst mal ist sie ein Ort. Es ist der einzige bewohnbare Ort, was mich betrifft. Der Ort, wo die Realität sich tief durchdringen lässt, wo wir uns wie die Taucher ins Zentrum des Geschehens und der Existenzen herunterlassen (sowohl während des Lesens als auch während des Schreibens). Ich mache keinen Unterschied zwischen Lesen und Schreiben. Schriftsteller und Leser bewohnen dasselbe grenzenlose Land.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
VS: Ich bin nicht für das häusliche Leben gemacht. Ich wusste schon sehr früh, dass ich  nicht für die Mahlzeiten sorgen und einen Haushalt führen wollte. Die Cafés, und vor allem die Brasserien, wo man sowohl trinken als auch essen kann, sind für mich Orte der Freiheit und der Emanzipation. Die Gäste sind frei, sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, wenn sie ein angebranntes oder versalzenes Gericht beanstanden. Ich habe große Achtung vor den Kellnerinnen und Kellnern, die mir diese Momente der Freiheit erlauben. 

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
VS: Die ersten fünf Stunden des Tages schreibe ich. Die folgenden lese ich oder ich laufe, durch die Stadt oder den Wald. Laufen und Schreiben sind ganz eng verbunden. Es ist die perfekte Ehe, die des Erzählens und der Bewegung.

 

BIO

Véronique Sels, 1958 in Brüssel geboren. Herzens-Heimatorte: der Tanz und die Literatur. Absolventin des „Institus de Rythmique Émile Jaques-Dalcroze“, unterrichtete sie Tanz und Rhythmik, übte den Beruf der Werbetexterin aus und veröffentlichte 5 Romane, von denen „La ballerine aux gros seins“ (Die Ballerina mit den großen Brüsten) ins Koreanische übersetzt und für das Sinchon Theater in Séoul adaptiert wurde. Als Gewinnerin des Stipendiums „Sarane Alexandrian“ der Société des Gens de Lettres, schrieb sie auch „Même pas mort !“ (Nicht mal tot!), eine fiktionale Biographie über Stéphane Mandelbaum, ein belgischer neo-expressionistischer Maler, der 1968 ermordet wurde.

Cordula Simon | Skurril Café Bar, Graz

Foto: Alain Barbero | Text: Cordula Simon

 

Das skurril ist nicht skurril, es ist das Unskurrilste, was es hier zu finden gibt: Der Kaffee ist gut, das Frühstück ist gut, die Drinks sind gut. Skurril, was soll das schon sein? Es ist mitten in Geidorf, dem Viertel der Studenten und Hofratswitwen, auch das, keine Skurrilität. Professoren wie Einwohner des Bezirkes kommen hier zusammen. Das Bica gegenüber hat in den letzten zehn Jahren gefühlt dreimal zugemacht und wurde immer wieder verkauft. Im Churchill, auch gegenüber, ist es zwar schick, aber eine Bar und kein Café. Im Skurril, wie damals im Alchimiya, bringt man mir den ersten Kaffee schon ungefragt. Die gute Seele des skurril weiß. Sie liegt niemals falsch. Das Einstein? Das Liebig? Mehrfache Besitzerwechsel. Ein Kaffeehaus in das man regelmäßig geht kann doch nicht ständig großen Änderungen unterworfen sein – wie kann man einen Stammplatz haben, wie diesen hier, vor der großen Scheibe, wenn sich die Möbel ständig ändern. Das Kaffeehäferl? Gibt es nicht mehr. Auf der anderen Seite der Uni? In der Zinzendorf? Auch nicht anders als hier in der Heinrich: Ein Kommen und Gehen. Dazwischen: Fotter? Harrach? Sonstwas? Die gibt es schon lange, aber. Aber: So viele Kaffeehäuser, doch sobald die Studenten weg sind, zack, alles geschlossen! Schon während des Semesters Sonntag alles dicht, weil alle heim zu Mami fahren. Samstagvormittag frühstücken gehen? Viel Glück! Nur das skurril, auf das skurril ist Verlass. Das skurril hat auch Tage an denen es geschlossen ist: Jeden ersten Jänner. Sonst ist das skurril da. Das skurril lässt dich nicht im Stich. Du weißt nicht wohin mit dir? Du willst ins Kaffeehaus, weil du zum Alleinsein die Kulisse der anderen Menschen willst? Stunden durch die Scheibe auf die Straße schauen? Hunde, Spaziergänger, Einkäufer? Alles andere hier ist unstet im Taumel, nur nicht dieses. Skurril, nicht?

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
Wo fühlst du dich zu Hause?

Cordula Simon: Literatur kann uns einander näher bringen, mit schönen Elementen hässlich gesagt und hässlichen Elementen schön gesagt konfrontieren und durch den Bruch mit dem Gewöhnlichen unsere Augen öffnen für Gefühle, Ansichten und Welten anderer. Dabei zeigt Literatur immer wieder, dass wir alle gar nicht so unterschiedlich sind. Egal wohin ich fahre, ich lerne die Cafés kennen. Meine ersten beiden Bücher habe ich im Café Alchimiya auf der Deribasovskaya in Odessa geschrieben. Dort habe ich mich zu Hause gefühlt. Ich habe aber auch gelernt, dass ich mich überall zu Hause fühlen kann, wohin ich meinen Kopf bette, habe ich nur die richtigen Menschen um mich. Ob in Deutschland, Sri Lanka oder sonstwo, das hat sich stets bestätigt. Das gesagt habend: Ich bin noch nie, ob in den Cafés oder anderen Orten, falschen Menschen begegnet, alle waren sie zumindest echt, so wie die Gefühle, Ansichten und Welten in der Literatur – Dort bin ich zu Hause. Weltweit.

 

BIO

Cordula Simon, geb. 27.3.1986 in Graz, bis 2011 Studium der deutschen und russischen Philologie sowie Gender Studies in Graz und Odessa. Workshopleiterin der Jugend-Literatur-Werkstatt Graz. Bis 2014 als freie Autorin wohnhaft in Odessa, nun wieder tätig in Graz. Mitglied der GAV. Mitglied des ACIPSS mit Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit auf Medienlinguistik, Medialer Literarizität und Radikalisierungspräventionim digitalen Raum. Nebenberufliche Mitarbeit bei Bestattung PIUS Graz. Zahlreiche literarische und wissenschaftliche Veröffentlichungen, Preise und Stipendien. Zuletzt erschienen: Die Wölfe von Pripyat (Roman, Residenz 2022).

Katharina Godler | Lendhafencafe LC, Klagenfurt

Foto: Alain Barbero | Text: Katharina Godler

 

Kondensat

Gestern ein Finden
von Gerüchen

Ein Luftzug in das
Café hinein
wie Melissensaft
und Zitrone

Diese Kommoden
die Geschichten
erzählen | mürbe
Wie ein Flieder

Pfeifentabak und
Mokkatassen
auf deinem Stammtisch
bleiben zurück

Kastanien fallen
im Lendhafen
zu Boden | knacken
feucht und nussig

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Katharina Godler: Im Moment sein.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
KG: Orte, an denen ich rund um die Uhr den Geruch von frisch gemahlenem Kaffee einatme. Ich kann diesen Geruch sogar in den Rucksack packen und mit nach Hause nehmen.
Also eine große Bedeutung!

Wo fühlst du dich zu Hause?
KG: Zwischen einem Birkenblatt im Herbst und lieben Freund:innen.

 

BIO

Katharina Godler wurde 1991 in Wien geboren und lebt heute in Klagenfurt. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik.
2015 bis 2019 forschte sie an der Akademie der Wissenschaften und im Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt zu Ilse Aichinger, Thomas Bernhard, Josef Winkler und Robert Musil.
Heute ist sie als Autorin, Lektorin und Journalistin für Hörfunk und Magazine tätig. Literarische Publikationen in den österreichischen Literaturzeitschriften Die Rampe und manuskripte und in der Tageszeitung Die Presse.