Dominika Meindl | Alter Schlachthof, Wels

Foto: Alain Barbero | Text: Dominika Meindl

 

Das Nachleben der toten Tiere

Seit einem Vierteljahrhundert esse ich kaum Fleisch, und in letzter Zeit ertrage ich den Anblick totgefahrener Tiere neben der Straße kaum noch. Trotzdem habe ich vergangenes Jahr in einem Schlachthof geheiratet. Es war wunderschön.

Bis zum Jahr meiner Geburt wurden an diesem Ort hunderttausende Rinder und Schweine ums Leben gebracht, ich mag es mir gar nicht vorstellen. Heute nennt sich der Alte Schl8hof Wels „sociocultural center * unestablished since 1985“. Wels hat mir bis vor 15 Jahren rein gar nichts bedeutet – dass sich das ins Gegenteil gekehrt hat, liegt nicht nur an dem Mann, den „meinen Mann“ zu nennen ich mir gerade angewöhne. In den Schl8hof war ich auf den ersten Blick verknallt. Hier würde sich etwas anfangen lassen, dachte ich.

Wenn man in Wien etwas auf die Füße stellen möchte, schauen dich die Leute mitleidig an und sagen sarkastisch „super, wir wollten dich schon anrufen“. In Linz sagen sie, „super, mach‘ einmal“. In Wels: „Super! Was brauchst du?“ Und sie meinen es auch so. Wels ist keine coole Stadt, es ist von Autobahnen und Einkaufszentren umschlungen, es hat einen blauen Bürgermeister. Er hasst den Schl8hof, und das ist in meinen Augen eine herzliche Empfehlung für diesen Ort.

Die Bar des Schl8hofs ist natürlich kein Café, auch wenn gute Menschen eine Sitzecke aus dem legendären und schändlich abgerissenen alten Café Urbann gerettet und hier aufgestellt haben. Während des Foto-Shootings war es ganz still. So kenne ich diesen Ort nicht, ich verbinde ihn mit Musik, Gelächter und Menschen, die ich mag. Seit 2016 veranstalte ich hier mit dem KV waschaecht die literarische Reihe „experiment literatur“. Ich darf Kolleginnen und Kollegen einladen, die ich bewundere. Gibt es Besseres?!

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Dominika Meindl: Viel zu wenig. Aber vielleicht verlange ich auch zu viel von ihr. Ist ein Buch vorstellbar, das Vladimir Putin in einen Haufen reuiges Elend verwandelt? Wie schön das wäre. Natürlich bedeutet mir Literatur die Welt. Sie anderen zu vermitteln, ist Sinn meiner Arbeit. Andererseits liebe ich Ausflüge in eine Welt, die ganz ohne Buchstaben auskommt, ins Tote Gebirge etwa. Das sind Stunden in einer Welt, die ohne mich auskommt. Wenn ich zurückkomme, bin ich wieder ganz für die Buchstaben da.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
DM: In ihrer klassischen Form keine besonders große, obwohl ich es sehr genieße, hier Zeitung zu lesen oder Berufliches zu besprechen. Wahrscheinlich bin ich eher ein Wirtshausmensch. Wenn ich ins Black Horse, ins extrazimmer oder in den Schl8hof gehe, summt in meinem Kopf manchmal die Titelmusik von „Cheers“:

Making your way in the world today
Takes everything you’ve got …
Sometimes you wanna go
Where everybody knows your name
And they’re always glad you came

Wo fühlst du dich zu Hause?
DM: In Wilhering, an der Donau, in Wels, im Toten Gebirge

 

BIO

Dominika Meindl, *1978, Bundespräsidentin der Republik Österreich. Bewegt sich zwischen oberösterreichischem Zentralraum und Totem Gebirge als Schriftstellerin, Moderatorin, Journalistin und Literaturveranstalterin. Leitet die gemeinsam mit Anna Weidenholzer, Klaus Buttinger und René Monet gegründeten Original Linzer Worte, die dienstälteste Lesebühne Österreichs. Kuratiert die Reihe experiment literatur in Wels. Regionalsprecherin der GAV OÖ.
Blog „Eine Frau mit recht wenigen Eigenschaften“: www.dominikameindl.at

Sophia Lunra Schnack | Kaffee Monarchie, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Sophia Lunra Schnack

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Sophia Lunra Schnack: Öffnen und bremsen. Gedankengänge, Emotionen, Überzeugungen in Bewegung setzen. Gerade junge Menschen können sich sozusagen Lebenserfahrung, Reflexionsfähigkeit und sinnliche Bereitschaft anlesen. Literatur kann Zeitabläufe bremsen, sich gegen ein durchgetaktetes Dasein positionieren. Und gegenüber der gegenwärtig zunehmenden Automatisierung und Anonymisierung würde ich sagen, dass Literatur den Menschen, das Menschliche bewahren kann.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SLS: Wenn mir zuhause Stille zum Arbeiten zu radikal wird, wechsle ich in ein Kaffeehaus. Es muss aber die richtige Mischung aus sanftem Stimmenrauschen und Rückzug geben. Da gibt es einige Stammcafés, von denen ich weiß, da geht es, da habe ich eine Ecke, mein Schneckenhaus, aus dem ich aber jederzeit herauskriechen kann um Kontakt aufzunehmen. Ich liebe diese ungezwungene Art, mit unbekannten Personen ins Gespräch kommen zu können, aber nicht zu müssen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SLS: Zu Hause sein hat für mich immer mit Sprache zu tun. Lange Zeit habe ich mich in der französischen Sprache zuhause gefühlt, hatte mit meiner Muttersprache Probleme. Da war es auch sehr naheliegend für mich, in Frankreich zu leben. Das Fluchtverhalten vor meiner Muttersprache habe ich mittlerweile überwunden, jetzt habe ich einen sprachlichen Haupt- und Zweitwohnsitz. Ich könnte mir jedenfalls nicht vorstellen in einem Land zu leben, in dessen Klänge ich nicht einfließen kann.

 

BIO

Sophia Lunra Schnack (*1990) lebt und schreibt derzeit überwiegend in Wien. Sie verfasst Lyrik und (lyrische) Prosa in diversen namhaften Literaturzeitschriften, u.a. in den manuskripten, der Poesiegalerie oder Das Gedicht.
2022 erhält sie den rotahorn-Förderpreis und seit 2023 leitet sie einen Lyrikblog für Das Gedicht. Im August 2023 erscheint ihr Debütroman „feuchtes holz“ (Otto Müller).
Derzeit arbeitet sie an ihrer Kurprosasammlung „Fliederkuss“ sowie an einem zweisprachigen Lyrikband „wimpern piniengrün – cils vert de pins“.

Marcus Fischer | Café Weidinger, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Marcus Fischer

 

Das Café Weidinger

Du bist wie ein alter Herr in elegantem, seit Jahrzehnten getragenem, abgestoßenem und zerschlissenem Gewand, der nichts von seiner Würde verloren hat. Die Jungen bewundern deinen Stil. Ich auch, und die Ruhe, die du ausstrahlst. Und die schrulligen, liebenswerten Gestalten, die dich umgeben.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Marcus Fischer: Literatur kann uns die Menschen von innen zeigen. Wir erleben Figuren in ihren Ängsten, ihrer Scham, ihrem Neid, ihrer Liebe, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. Diese Innensicht liefert Literatur besser als jedes andere Medium.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MF: Es fällt mir oft leichter, mich abzuschotten und zu konzentrieren, wenn um mich herum ein gleichmäßiges, wellenartiges Treiben herrscht. Cafés sind dafür der perfekte Ort. Ich setz mir dann Kopfhörer auf, höre oft stundenlang ein und dasselbe Lied und tauche in meine Geschichte ein.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MF: Einfache Antwort: in meinen Texten, egal wo ich sie schreibe. Und in der Natur, unter vertrauten Menschen und an liebgewonnenen, inspirierenden Orten – wie dem Kaffeehaus.

 

BIO

Geboren 1965 in Wien, Studium der Germanistik in Berlin, schreibt Prosa und Lyrik. Nach dem Studium Arbeit als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und als Texter in Werbeagenturen in Berlin und Wien. Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Radio. Sein 2022 erschienener Roman „Die Rotte“ (Leykam Verlag) wurde mit dem Rauriser Literaturpreis 2023 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet.

 

Jade Samson-Kermarrec | Nathanja & Heinrich, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Jade Samson-Kermarrec | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack

 

Jule fragt sich schon, wem Nathanja und Heinrich ähnlich sehen. Existieren sier nur? Die Frage streift sie, ohne sie wirklich zu beschäftigen. Seitdem sie hierherkommt, hätte sie einen der Barkeeper fragen können. Um ehrlich zu sein, hat Jule das sicher schon gemacht, einmal, als sie jedoch stockbetrunken war und ihre Erinnerung, im Alkohol versumpfend, abgedankt hatte und bis zur nächsten Verordnung aufhörte neue Informationen abzuspeichern.

Unmöglich, sich zu erinnern, wenn es keine Erinnerungen gibt.

Auf einer Bank sitzend und am Fenster lehnend, spielt Jule nervös mit dem Gummiband ihres Notizheftes, während sie die gekonnten Bewegungen hinter der Theke beobachtet.

Jule trank und trinkt nicht mehr.

Seither wird sie, ohne Vorwarnung, regelmäßig von der Schwere und den Folgen ihrer Abhängigkeit heimgesucht. Dennoch kann sie nichts dagegen tun, dass sie Lust auf den Cocktail hat, den die Bardame gerade zubereitet. Jule macht die Augen zu. Sie ruft in ihrer sensorischen Erinnerung den Geschmack von Gin Basil auf, das Basilikumblatt, das ihre Nase kitzelt, den klaren und säuerlichen Geruch des Gin und der Zitrone, die scharfe Kälte des Eiswürfels, der auf der Mitte des Whiskyglases schwimmt. Die Verheißung des Geschmacks, der Kühle, des Rausches, der Schwebezustand ist so perfekt, dass sie kaum den Alkohol spürt, das erste Glas so gut, so tückisch, dass es nach dem nächsten ruft, dann nach noch einem, schließlich all ihre Kumpel versammelt. Jule unterdrückt einen Schmollmund, der Geschmack von zu viel überkommt sie wieder, ihre Sprachfähigkeit wie Neuronen, ihr Anstand und Schamgefühl ziehen Leine. Sie macht die Augen wieder auf. Das Aufrufen ihrer Erinnerung hat seine Wirkung getan, ihre Lust ist vergangen.

 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Jade Samson-Kermarrec: Sehr viel Verschiedenes. Sie kann sowohl Rückzugsort sein als auch Ventil für etwas. Ich denke, dass sie mehr als ein Fenster zu einer Welt oder Zugang zu einem anderen Ort ist und tiefgreifende Veränderungen im Inneren wie Äußeren auslösen kann. Ich mag es, mir Literatur als eine Bewegung vorzustellen, als eine Welle, die im Inneren entsteht um sich dann auszubreiten. Ich mag, dass sie sämtliche Paradoxe vereinen kann, das macht sie meiner Meinung nach komplex, vollkommen und vor allem unendlich.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JSK: Als Pariserin war ich mit der Bedeutung des Cafés als Ort des Zusammenkommens seit der Pubertät vertraut. „Auf einen Kaffee gehen“ war Teil des Alltags. In Berlin sind Kaffeehäuser anders, hybrider, weniger vereinheitlicht. Wie auch immer, ich habe Kaffeehäuser immer mit menschlicher Erfahrung verbunden, mit der Beobachtung von KundInnen oder PassantInnen, mit der Körpersprache des Barkeepers/der Barkeeperin und der KellnerInnen. Ich mag diese nicht wirklich anonyme Anonymität, die dort vorherrscht, ich mag diese Zwischenzone und die Möglichkeit Zuschauerin des menschlichen Karussells zu sein, ohne sich jedoch ganz daraus zurückzuziehen. Ein Café (in seiner Bedeutung als Ort und allen anderen Bedeutungsebenen) ist eine Schatzkammer.

Wo fühlst du dich zuhause?
JSK: Das ist eine Frage, die einen das ganze Leben beschäftigen kann. Ich bin 2003 nach Berlin gekommen, ich war 16 Jahre alt und habe mich sofort zuhause gefühlt, obwohl ich nicht viel von dem, was man mir erzählte, verstanden habe. Das war mir gleich ganz klar und seitdem hat mich dieses Gefühl, hier auch „zuhause“ zu sein, nie verlassen. Ich hatte fortan also mehrere „Zuhause“ ; das ist ein Luxus, der jedoch mit dem Nachteil einhergehen kann, sich nirgends komplett zu fühlen. Aber davon abgesehen ist Berlin mein Zuhause, da bin ich bei mir, da bin ich ich selbst.

 

BIO

Jade Samson-Kermarrec ist 1987 in Paris geboren und lebt seit 2013 in Berlin. 2018 gründete sie die französisch-deutsche Theatertruppe „Theater im Nu“ und 2022 das Theaterfestival „Le Lampenfieber“. 2021 trat sie der Berliner Autorinnenvereinigung bei und nimmt seither aktiv an den verschiedenen Initiativen des Netzwerkes teil (Hôtel des Autrices, Calendrier de l‘Avent, La Colec…)

Maud Ruget | Café Butter, Berlin

Foto: Alain Barbero | Text: Maud Ruget | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

In einem Café schreiben. Durch das Fenster die Fahrräder, die Straßenbahn,  Spaziergänger mit Kinderwagen oder mit Hund beobachten. Das Zischen der Kaffeemaschine hören und die sanfte Nachmittagsmusik. Den Zitrusdampf eines Oolong-Tees in der Luft riechen. Und doch nur halb da sein, den Geist verzweigt an der Schnittstelle von Gefühl und Wort. Sich an den Tisch der Erinnerung lehnen, dann auf dem Boden einer Tasse die Zukunft betrachten, die am Rande des Möglichen zittert. Andere, noch nicht ganz geborene Welten durchschreiten, die ein Wissen Sie schon? jeden Moment verschlingen kann.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Maud Ruget: Ich war lange misstrauisch gegenüber der Macht, die der Literatur zugeschrieben wird. Ich möchte gerne glauben, dass ein Buch die Welt verändern kann. Ich bezweifle das manchmal. Und ich denke, dass das auch sehr gut so ist. Man muss sich ein bisschen ohnmächtig fühlen, wozu sonst schreiben?

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Zum Arbeiten ins Café zu gehen, zwingt mich, aus meiner Höhle rauszukommen. Ich fahre dreißig Minuten mit der Metro, um in meine Lieblingscafés zu gehen, Orte, die gemütlich sind, und vor allem hell, die ich schon bei meiner Ankunft in Berlin markiert habe. Ich mag es, die Leute dort zu beobachten, die Gesichter einiger Stammgäste und Kellner*innen wiederzufinden. Das gibt mir die Illusion von Stabilität in einem Alltag, der eine ständige Baustelle ist. Vielleicht schreibe ich dort nicht so gut, aber Cafés haben den Vorzug, mir den Geist durchzulüften (und Kuchen zu servieren, seien wir ehrlich).

Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: In Berlin, wo sonst? Manchmal ermüdet mich die Stadt, aber ich komme hier immer wieder auf das Gefühl zurück, dass ich zu Hause bin.

 

BIO

1990 in Dijon geboren, zog Maud Ruget durch mehrere Kontinente, bevor sie ihren Koffer 2016 in Berlin abstellte. Ihr Schreiben ist interdisziplinär. Ihre Interessengebiete liegen in der „Poetik der Beziehung“, „Öko-Poetik“ und im post-traumatischen Schreiben. Sie ist mit ihrer Novelle Maelstrom Frankreichs Kandidatin in der Kategorie Literatur der Jeux de la Francophonie 2023

Maria Seisenbacher | Café Ritter Ottakring, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Maria Seisenbacher


ich bezeuge […]

Schnee erreicht uns nur
an weit verzweigten Orten
im streitbaren Stimmen
so lange nicht
so lang

Schlaf findet
ferner verweilt er
ineinander nicht gesehen
der Wahrscheinlichkeit
so lange nicht
so lang

Kristalle beschirmen kleine Narben
nur einmal fiel Rachen
Husten, überschüssig Luft in
Nichts
so lange nicht
so lang

ich weiß:
Finger bilden Leber –
Weichtier vereinzelt ohne Arm
ich weiß: nichts
vom Abbild zielbarer Geschichten
so lange nicht
so lang

entfache wahllos Ränder, Wellen
Flächen oder Kiesel
danach bezeuge ich
vor meiner Haut:
ichhabmichlangenichtgesehen

so lange nicht
so lang
die Welt abdreht

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Maria Seisenbacher: Ein selbstgewählter Zufluchts-, Lern-, Erfahrungs- und Arbeitsort gefüllt und erfüllt mit körperlich-geistiger Leidenschaft.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MS: Ein Zufluchtsort vor mir alleine arbeiten zu müssen. Im Café höre, sehe, lese und beobachte ich andere Menschen und mich.

Warum hast du das Café Ritter Ottakring ausgewählt?
MS: Aufgrund der Architektur, der Stille, des Standorts, der samtbezogenen Bänke mit Mehlspeisen im Kaffee.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MS: Vieles und Nichts und dann wieder gar nichts und viel Nichts.

 

BIO

Maria Seisenbacher, lebt und arbeitet als Lyrikerin und Übersetzerin in Leichte Sprache in Wien. Mag.a der Vergleichenden Literaturwissenschaften, Dipl. Sozialpädagogin. Einladungen zu internationalen Lyrikfestivals, Stipendien und Preise, zuletzt erschien der Gedichtband „Hecken sitzen“ im Limbus Verlag mit Drucken von Isabel Peterhans. www.mariaseisenbacher.com

Andrea Grill | Mediamatic, Amsterdam

Foto: Alain Barbero | Text: Andrea Grill 

 

Fragebogen

  1. Kennen Sie eine Sehnsucht?
  2. Betrifft Ihre Sehnsucht einen Menschen oder einen Ort?
  3. Wenn ja, wen?
  4. Oder, wohin?
  5. Was würden Sie tun, um Ihre Sehnsucht zu stillen?
  6. Würden Sie sie denn stillen wollen?
  7. Würden Sie dafür den Ort, an dem Sie leben, verlassen? Für immer?
  8. Würden Sie dafür Ihren Geliebten / Lebensgefährten aufgeben?
  9. Ist Ihr Geliebter / Ihre Geliebte Ihre Sehnsucht?
  10. Führt Ihre Sehnsucht Sie wieder und wieder in eine Zeit, als Sie jünger waren?
  11. Ist Ihre Sehnsucht Ihre Mutter?
  12. Wenn nein, ist Ihre Sehnsucht Ihr Vater?
  13. Wen würden Sie in diesem Moment am liebsten bei sich haben?
  14. Ist es ein Mensch?
  15. Würden Sie mit diesem Menschen die Nacht verbringen wollen?
  16. Wieviele Sehnsüchte gibt es, Ihrer Ansicht nach?
  17. Waren Sie schon einmal an einem Ort, an dem alle Sehnsüchte von Ihnen abgefallen sind?

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Andrea Grill: Alles. (Und nichts.)

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AG: Die italienischen Bars liebe ich seit jeher.
Sie heißen Bar, sind aber um sieben Uhr in der Früh schon offen.
Du kannst jederzeit allein hineingehen.
Oder zu soundsovielt.
Du brauchst dich nicht hinzusetzen.
Der Kaffee ist billig, schmeckt köstlich.
Du zahlst im Stehen an der Kassa.
Alle schnattern unentwegt.
Die Fenster sind hoch.
Die Theke glänzt.
Im Sommer gibt es Eis.

In Wien habe ich früher meine Texte immer in Kaffeehäusern korrigiert. Habe genossen, dass ich bestellte, mir gebracht wurde; ich aber auch stundenlang sitzen bleiben konnte, ohne etwas Neues zu bestellen.

Kaffee ist mein Lieblingsgetränk.

In Amsterdam sind die Terrassen das wichtigste an den Cafés, das Sitzen unter den Weiten des Himmels.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AG: Wo meine Füße stehen. Hätte ich früher gesagt. Mittlerweile würde ich sagen: die Sprachen, die ich spreche und verstehe, sind mein Zuhause. Wo ich im Kaffeehaus bestellen kann; und scherzen. Und die Leute mit mir lachen.

 

BIO

Andrea Grill lebt als Dichterin und Schriftstellerin in Wien und Amsterdam, macht Kurzfilme und übersetzt aus mehreren europäischen Sprachen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (2011) und dem Anton-Wildgans-Preis (2021). Der Roman „Cherubino“ war 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Gedichtband „Happy Bastards“ stand auf der Liste der Lyrikempfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. www.andreagrill.org

Andras Foldvari | Café Gerbeaud, Budapest

Foto: Alain Barbero | Text: Andras Foldvari | Übersetzung (aus dem Ungarischen): Christian Szabo & Daniela Gerlach

 

Ich war noch keine 21 Jahre alt, als ich eine Stelle in der Tourismusabteilung einer ungarischen Fluggesellschaft fand, welche damals ihren Sitz in einem Wohnblock im Herzen meiner Stadt hatte, ein Gebäude am Vörösmarty-Platz.
Es gab keinen Konferenzraum, also gingen wir, wenn wir ein Meeting abhalten mussten, in das wunderbare Café am Platz, berühmt für seine Kaffeemaschine aus Herend-Porzellan.
Wenn jemand nach mir fragte, sagte man ihm, Andràs wäre im „Konferenzraum“.
Die Zusammenkünfte hier waren viel erfolgreicher, als wenn sie in den grauen Räumen jenes Gebäudes abgehalten worden wären.

 

Original (Ungarisch)

Még 21 éves sem voltam amikor a magyar légitársaság idegenforgalmi osztályán kaptam állást, melynek akkori központja városom szívében egy lakóházból kialakított épületben volt a Vörösmarty téren.
Nem volt kialakított tárgyaló terem, így ha megbeszélést kellett tartani inkább a téren levő csodálatos – herendi porcelán kávéfőző gépéről híres – kávézóba mentünk. 
Ha bárki keresett csak azt mondták András a tárgyalóban van.
Sokkal sikeresebbek is voltak az itt folytatott tárgyalások mintha azokat az épület szürke szobáiban tartottuk volna.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Warum Reisen?
Andras Foldvari: Die Reise ist für mich eine Mission!
Sich in den Ländern fremder Kulturen zu bewegen, den Alltag der Leute, die dort leben, kennenzulernen, ist eine erfrischende Erfahrung für mich; hinter die Gardinen schauen, sich den versteckten Schätzen nähern, die sich in einem Museum oder im Regal einer Wohnung befinden.
Ich bin Städter. Ich lege mehr Wert auf die vom Menschen geschaffene Umgebung, auf die schönen Gebäude oder Kultstätten, als auf die Schönheit der Natur. Ob es sich nun um einen tibetischen Steinhügel oder eine monströse afrikanische Kathedrale handelt.
Reisen, das bedeutet immer etwas Neues zu entdecken, das einem wieder Energie für die neuen Erfahrungen schenkt.

Was bedeuten Cafés für dich?
AF: Die Cafés und Teehäuser sind heilige Stätten der urbanen Kultur. Zahlreiche Begebenheiten der ungarischen Geschichte fanden in Cafés statt, und zahlreiche Künstler haben in Cafés Meisterwerke kreiert. Laut einer Legende wurden die Schlüssel des New York Café in Pest von den Stammgästen in die Donau geworfen, damit es für das Schaffen von Meisterwerken immer geöffnet wäre.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AF: Ich bin ein bisschen Kosmopolit, vielleicht nicht so an mein Zuhause gebunden wie die meisten Leute.
Ich habe mein erstes Buch auf der Terrasse eines kleinen Bungalows auf den Salomon-Inseln begonnen. Die einzigartige Kulisse der Küste inspirierte meine urbanen Geschichten aus der damaligen Zeit.
Ich machte dann in einem Studio in Malaysia weiter und beendete sie im Schatten der Kathedrale von Málaga.

 

BIO

Andràs Foldvari wurde 1952 geboren. Bereits als Jugendlicher beginnt er zu reisen. Der Sprachliebhaber studiert Tourismus und Marketing, danach arbeitet er für vier verschiedene Fluggesellschaften und Tour Operator, was dazu führt, dass er fast 900 Flughäfen in 205 Städten der Welt besucht.
In seinem ersten Buch vereinigt er 80 seiner besten Reiseberichte, was ein Riesenerfolg in Ungarn wird. Der Verlag muss es fünfmal wiederauflegen. Sein zweites Buch ist weniger erfolgreich, aber noch immer beliebt.
Obwohl seit 2018 in Rente, entdeckt er auch weiterhin neue Orte, wie kürzlich Sainte-Hélène. So sammelt er Material, vielleicht für einen weiteren Band der Trilogie.

Philippe Lafitte | Grand Central, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Philippe Lafitte | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich habe dieses Café wegen seiner ungewöhnlichen Größe ausgewählt, eine riesige Deckenhöhe, die ich bemerkt hatte, als ich im Auto vorbeifuhr. Und dann ist mein Stamm-Café viel zu schäbig, um Objekt einer Foto-Session zu sein. Zurück zu diesem Lokal an der Kreuzung, die zwei unterschiedliche Orte voneinander abgrenzt, wie Brüssel das so gut kann: den alten Léopold-Park und das Europa-Viertel. Das Abenteuer des Sehens eines neuen Raumes, das sind ja die Voraussetzungen des Schreibens.
Ich kam zu Fuß, während ich im Inneren betete, es möge ein Ort mit sanfter Musik sein, etwas, das einem utopischen Ort gleichkommt, in der Stadt: Ich träume von einem Café, wo die Musik klassisch wäre und die Kunden still. Hier ist es eher wie das Eintauchen in eine post-industrielle Ära, eine gekonnte Mischung aus Betonträgern, Metalllampen und gebrauchten Hockern. Nicht viel los um diese Zeit. Ein paar Führungskräfte schlürfen immerhin melancholisch ein Bier zwischen zwei Besprechungen. Im Hintergrund drei, vier angesäuselte Kunden, die lautstark lachen, als sie sich nachschenken: Lobbyisten, die gerade ihren Sieg feiern?
Ich sehe den Fotografen nicht sofort, aber ich würde Alain mit der Zeit schon entdecken, sogar bis ins Detail, konzentriert hinter dem Auslöser seiner Leica.
Eine lächelnde Fiebrigkeit, Fotos in Serie, einige Anweisungen, was wird das Endergebnis sein?
Vielleicht dieser magische Moment, den er vorher erwähnt hat, wenn das Modell  müde wird, sich dann endlich entspannt. Wenn es sein wahres Ich offenbart, in dem Moment, wo die Barrieren der Pose nachgeben. Alain erwartet mich und lächelt mich an, und, bevor es ernst wird, bestellen wir einen Espresso, der auf einem Barcode gescannt werden muss, womit die Bestellung direkt an die Theke übertragen wird. O tempora, o mores. Das nächste Mal trinken wir ein Glas im alten Café am Place Jourdan, wo ich mich zu Hause fühle. Heute gibt es Gelegenheit, ist vielleicht epischer, Erfahrung mit etwas Neuem zu machen, aber im doppelten Sinn: die Begegnung mit dem Ort und dem Fotografen.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Philippe Lafitte: Immer noch ein Mysterium und eine Offenbarung sein. Eine unerschöpfliche Quelle an Fragen, der Neugier und einzigartiger Welten: Ich spreche hier von meinen Schwestern und Brüdern im Schreiben. Jeder hat mir auf seine Weise seine Welt geöffnet und mein Gefühl für die Existenz verstärkt. Schreiben und Lesen, das heißt tausend Leben leben.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PL: Es ist die Bedeutung des Unbekannten bevor man die Tür aufstößt. In eine Atmosphäre eintauchen, sei sie nun cool, energetisch oder sogar langweilig. Orte, an die man sich flüchtet, wenn es unmöglich ist, zu schreiben, man über seine Einsamkeit hinausgehen will: allein inmitten der Menge sein. Aber Cafés sind vor allem Bereiche der Beobachtung, des Notierens, selten des langen Schreibens.

Wo fühlst du dich zu Hause?
PL: In meinem Arbeitszimmer natürlich, der wichtigste Ort für diese Art des Schreibens, die mich nach 20 Jahren Praktizieren noch immer beeindruckt. Aber von Café zu Café gehen, je nachdem, wohin meine Schritte mich zufällig führen, ein neues Viertel entdecken, eine unbekannte Straße, das ist ein Ritual, das ich mit stets neuem Vergnügen pflege, seit ich in Brüssel lebe. Wenn die Brüsseler Cafés so zahlreich sind wie die belgischen Biere, dann habe ich ja noch Luft nach oben

 

BIO

Philippe Lafitte ist Autor zahlreicher Romane, besonders zu erwähnen Étranger au paradis (Buchet/Chastel), Celle qui s’enfuyait (Grasset) und Vies d’Andy (Le Serpent à Plumes), für den er die Filmadaptation zusammen mit dem Regisseur Laurent Herbiet vorbereitet. Bei Mercure de France erschien Périphéries, sein siebter Roman, der davon handelt, welchen Preis man für seine soziale Emanzipation bezahlt. Der Autor wohnt jetzt in Brüssel, wo er an seinem achten Werk schreibt.

Marlene Gölz | Café Vogl, Eferding

Foto: Alain Barbero | Text: Marlene Gölz

 

Manchmal war die morsche, von Flechten überzogene Holzbank unter der Linde von der Dorfjugend besetzt, aber an dem Tag nicht, Karo hatte Glück. Sie stellte die Bank Richtung Nordwesten, strich über die in die Lehne geritzten Buchstaben, setzte sich, drückte die Bierdose auf und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, alles richtig zu machen. „Ich brauch kein Meer“, sagte sie, beim Blick hinunter ins Tal, zu Nobody, der neben ihr saß. Am Horizont schien eine Baumgruppe zu brennen, der Kampf der Sonne gegen ihr Untergehen. Orange Schlieren durchzogen das gleißende Licht und mischten sich mit bläulichen Wolken, die sie meinte wie Zuckerwatte vom Himmel zupfen zu können. Als wollte sie ihre Gedanken prüfen, griff Karo nach einer Wolke und steckte sie in den Mund. Wie Wolken wohl schmecken. In jedem Fall musste man zu den bläulichen greifen, Orange und Gelb würden einem durch die Finger rinnen. Karo schloss die Augen, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass sich der Abendhimmel verändert hatte.
Verrückt werden, das wäre nicht schwer, dachte sie. Aber auch, dass das Geheimnis darin läge, so etwas nicht denken zu dürfen, sonst wäre das mit dem Verrücktwerden vorbei ehe es richtig begonnen hat. 

aus: K.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Marlene Gölz: Ich erinnere mich an so etwas wie einen Erweckungsmoment, ich konnte gerade lesen. Christine Nöstlinger: Ein Kind geht die Straße entlang. Es tritt nur auf jeden zweiten Pflasterstein, versucht, nicht die Fugen zu berühren. Das beeindruckte mich. Dass da jemand genauso geht wie ich. Dass da etwas zur Sprache kommt, was DA ist, worüber jedoch sonst nicht gesprochen wird, weil es ja scheinbar nicht wichtig ist. Für mich war es wichtig. Ich habe mich erkannt. Leseerfahrungen in der Intensität passieren selten. Aber wenn, dann ist so ein Buch ein echter Schatz, dann bedeutet Literatur: sich begegnen, sich vergessen, auf Reisen gehen, verstanden werden, zuhause sein.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MG: Heute: sich Zeit nehmen, der Geschwindigkeit entkommen, im Unterwegssein einen Platz finden.

Warum hast du das Café Vogl ausgewählt?
MG: Weil ich hier Stadtschreiberin bin und Eferding ohne das Café Vogl eigentlich nicht denkbar ist.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
MG: Dann halte ich mich meist an Orten auf, die ich ebenfalls sehr mag: Züge, Natur, mein Zuhause und mein Arbeitsplatz, eine Bibliothek.

 

BIO

*1978 in Linz, arbeitet als Autorin, Lektorin und freiberuflich im StifterHaus Linz; seit 2017 literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien; div. Preise und Stipendien u. a. Marianne.von.Willemer.Frauenliteratur-Preis der Stadt Linz (2017), Literaturpreis Akademie Graz (2018), BMUKK-Startstipendium (2018),  Stadtschreib-Stipendium Eferding (2022);
www.marlenegoelz.com