Michèle Pedinielli | Café Librairie Les Parleuses, Nizza

Foto: Alain Barbero | Text: Michèle Pedinielli | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

„Wer Straflosigkeit sät, erntet Zorn“, „Vergewaltiger, wir sehen dich, Opfer, wir glauben dir“. Das sind Beispiele für die Slogans, die Maud und Anouk in ihrem Schaufenster plakatierten, als Innenminister Gérald Darmanin das künftige Kommissariat gleich neben ihrer Buchhandlung besuchte. Die Polizei kam sofort, um die Plakate abzunehmen und die Schaufenster dort abzudecken, wo es nicht möglich war, die innen angeklebten Plakate zu entfernen. Drei Stunden lang war die Buchhandlung Les Parleuses schwarz verhüllt, um den Blick des Ministers nicht zu stören… 
Dieser Grund ist der aktuellste, der mich diesen Ort lieben lässt, an dem ich mich endlich wie zuhause fühle: Bücher, Kaffee und Prosecco, was will man mehr? (Die Rente mit 60, aber das ist eine andere Geschichte). 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Michèle Pedinielli: Guttun hoffe ich, denn sie kann viel. Sie dringt ins Innerste des Lesers ein: Sie wühlt in den Eingeweiden, kitzelt das Herz, reizt das Hirn und manchmal – höchstes Glück – löst sie ein befreiendes Lachen aus. 

Was bedeuten Cafés für dich?
MP: Riesig. Mir ist das durch Covid bewusst geworden. Ich fühlte mich, als ob ein essenzieller Teil meiner Existenz amputiert worden wäre, der Leute um sich braucht. Leute, die ich nicht kenne, die wie ich bei einem Kaffee oder einem Glas sitzen. Leute, die ich anschaue und denen ich zuhöre. Und die manchmal in einem meiner Bücher wieder auftauchen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
MP: An einer Küste des Mittelmeers, umgeben von Schirmföhren. Das kann in Frankreich sein oder irgendwo sonst an seinem Ufer, solang es nur dieses Meer ist, das ich liebe, und es Oliven zum Apéritif gibt.  

 

BIO

Die im April 1968 geborene Michèle Pedinielli nimmt mit einem Monat an ihrer ersten Demo teil und beendet ihren ersten Roman 48 Jahre später. In der Zwischenzeit das Übliche: mit 18 aus Nizza flüchten, Journalistin in Paris werden, 22 Jahre später zurück nach Hause kommen, sich für ein Leben ohne Chef entscheiden, stempeln gehen, beim Festival Toulouse Polars Sud 2015 einen Preis für ihre Novelle bekommen. Und beschließen, einen Roman zu schreiben, um nicht zu sterben, ohne es versucht zu haben. „Boccanera“ kommt im Februar 2018 im Verlag Editions de l’aube heraus, gefolgt von „Après les chiens“ (2019), „La patience de l’immortelle (2021) und „Sans collier im März“ 2023.

Reinhard Junge | Café Ferdinand, Bochum

Foto: Alain Barbero | Text: Reinhard Junge

 

Meinen ersten Krimi fand Brunhilde noch gut. Ein schreibender Gatte – damit konnte sie richtig angeben. So hatte sie mir beim Start sogar eine ihrer schönsten Metaphern geschenkt.
Als ich ihr stolz das zweite Buch überreichte (extra in rosa Papier gehüllt), warf sie es ungeöffnet in die blaue Tonne. „Aber jetzt lassen wir die alberne Schreiberei, gelt? Oder …“
„Oder was?“
„Du wirst Hausmann. Da kannst du jeden Abend ein Stündchen tippen!“
Prima, dachte ich. Doch: Werch ein Illtum! Vier Mahlzeiten täglich für vier Personen, Taxidienste zu Kita, Grundschule, Kinderarzt und Bioladen, die Wäsche, Fenster- und Flurputzen, die Steuererklärung, die Blumen auf dem Friedhof, Friedenseinsätze am Sandkasten, wo unser Heiko gerne die Nachbarskinder terrorisierte …
Meine Gattin, Lehrerin für Musik und Kunst, blühte indes auf. Endlich Mittagsschlaf! Und zweimal pro Woche mit Freundin Thea ins Café Ferdinand, während ich auch noch Theas Blagen am Hals hatte. Tippen? Abends fiel ich nach fünf Zeilen sitzend ins Koma.
„Schatz“, säuselte Brunhilde eines Mittags, als ich gerade die Bestecke reinigte. „Nächste Woche ist Pfingsten. Fünf freie Tage! Ich fliege mit Thea nach Rom. Jasmina geht zu Opa und Heiko bleibt bei dir. Okay?“
„Wieso kann Heiko nicht ebenfalls zu Opa?“
„Der wird doch auch nicht mit ihm fertig!“
Danke, dachte ich und fragte: „Und mein Exposé?“
„Süßer! Dieser Quatsch kann doch warten!“
Welch ein Zufall, dass da gerade das Fleischmesser lag …

In meinem neuen Quartier kann ich in Ruhe schreiben. Bye, bye Brunhilde heißt das Buch. Und wenn die 12 Jahre um sind, gehe ich auch mal ins Ferdinand.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Reinhard Junge: Alles! Unterhalten, langweilen, bilden, empören, Kriege verherrlichen, zu Revolutionen aufrufen oder zum Völkermord, Regierungen ärgern oder feiern, Unrecht anklagen oder rechtfertigen. Eigentlich kann sie alles. Vorausgesetzt, die Autorinnen und Autoren finden einen Verlag, der bereit ist, ihre Werke auch zu drucken. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RJ: Ich liebe Cafés. Ein gutes Café ist für mich die goldene Mitte zwischen Restaurants, in denen schon das Lächeln des Kellners 50 € kostet, und einer Säuferkneipe, in der man allem Elend dieser ungerechten Welt begegnet. Für mich können sie Orte der Ruhe, zum Nachdenken, zum Träumen, zum Schreiben und zur Pflege von  Freundschaften sein.  

Wo fühlst du dich zu Hause?
RJ: Überall, wo es viel Sonne, freien Blick auf das blaue Meer, einen weißen Strand und einen guten Kaffee gibt.

 

BIO

* 1946 in Dortmund. 1966 Abitur. Bundeswehr, Studium in Bochum. Nach dem Referendariat 1978 als DKP-Mitglied zunächst  Berufsverbot. Proteste aus dem In- und Ausland (u.a. CGT). 1979-2012 Lehrer an einem Gymnasium. 6 weitere Jahre Deutsch für ausländische Kinder. – 12 Kriminalromane (z. T. mit Leo P. Ard und Christiane Bogenstahl), 4 Dokus über Neonazis. – 3 Kinder, 1 Enkel, kein Haus, kein Hund. Fan aller Teams, die Bayern München besiegen.

Regine Koth Afzelius | Intermezzo Bar, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Regine Koth Afzelius
 

Immer schon beides: gern nachgiebig, gern bestimmt. Gern königliche Pferdediebin, gern pferdestehlende Königin. Gern Kellertheater Pocky Pockberger, gern Burgtheater Ofczarek. Gern Heuriger Hengl-Haselbrunner Trio Lepschi, gern Musikverein Wiener Philharmoniker. Gern Cartoons Martin Perscheid, gern Malerei Franziska Maderthaner. Gern Texte Selma Heaney, Peter Hodina, gern Heimito von Doderer. Gern Helge Schneider, gern Lisa Eckhart.

Gern Katze, gern Hund! Gern Betrachten der Hühner – das gscheckte: grad rennts durchs Gehege im Schnabel den Wurm, erhobenen Hauptes, hinterdrein die anderen, und gleich drauf in umgekehrter Richtung das braune, denselben Wurm in der Reißn, verfolgt von gackerndem Geflatter.

Gern Heumarkt, gern Bar Intermezzo. Visavis voneinander. Ich parke dazwischen. In beiden daheim. Um beide stets bangend: beim einen droht Geldnot, beim anderen Abriss. Im einen weiß man Persönliches, im anderen meinen Cocktailwunsch. Im Heumarkt sitz ich auf dem schwarzen Klebestreifen einer ermüdeten roten Kunstlederbank, verklärt vom Surren der Mehlspeisvitrine und vom geliebten schrägen Brüderpaar, im Intermezzo versinke ich in wohnzimmerlicher Poltrona, verklärt vom internationalen Pathos und dem schönsten Luster der Welt. Erst essen im einen, dann enden im anderen. Amen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Regine Koth Afzelius: Sprachkunst. Fesseln muss ein Text, überraschen und entführen. Im eigenen Schreiben suche ich nach Ventil und Portal zur Bewältigung von Realität. Will alles loswerden an möglichst viele – aber nicht zu deren Betroffenheit, sondern zur unterhaltsamen Erkenntnis. Wie hochtrabend! So what. Und dafür Lob und Anerkennung. Ha.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
RKA: Ich lebe auf dem Land – und pflege Stadtfreundschaften. Dazu bedarf es Cafés als Raum für Austausch. Nur in den beiden vorhin genannten nonchalanten finde ich die Atmosphäre für Gespräche, wie ich sie mag: konzentriert, nährend, intim.

Warum hast du die Bar Intermezzo ausgewählt?
RKA: Dieser Luxushauch!

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
RKA: Aufstehn! Hendl aus dem Stall! Samt Kaffee zurück ins Bett, WhatsAppen mit der Welt. Dann Schreiben am neuen Roman. Nachmittags Entfernen morscher Föhren und Birken mit der Motorsäge. Oder Waldgang. Wenn Gedanken drängen: nochmals schreiben. Zur blauen Stunde Dahinschmelzen im Sofa, als Abspann des Tages schwindender Fernblick hinaus aufs Federvieh, bis es Zeit für den Abendfilm.

 

BIO

Geboren 1962 in Wien. Studierte Architekturen an der Arkitektskolen Aarhus | Dänemark und an der Universität für angewandte Kunst Wien. 1997 Architekturdiplom. Seit 2008 Landleben. Webdesignerin. Bildende Künstlerin. Autorin. Arbeit am vierten Roman.

Franziska Beyer-Lallauret | 1801 – Les Cuisines du Musée, Angers

Foto: Alain Barbero | Text: Franziska Beyer-Lallauret

 

Als ich noch zwischen zwei Städten pendelte, lief ich jeden Morgen vom Bahnhof aus quer durchs Zentrum zur Arbeit. Oft ging ich über den Platz, wo das Gesicht steht. Es ist wohl aus Bronze und wahrscheinlich zweimal höher als ich. Ich könnte ihm meinen Kopf in die Wölbung eines Augenrings legen. An dem Gesicht kann man ablesen, wer es gemacht hat; ich habe es vergessen. Ich müsste extra hingehen um nachzusehen. Dafür habe ich keine Zeit.

Das Gesicht starrt das Kunstmuseum an. Es ist ein altes Gebäude aus weißen Steinen, in das sie eine Treppenflucht eingesetzt haben wie ein Gebiss. Die Stufen sind steil. Erst nehmen sie dir den Atem, dann führen sie zu den Bildern. Eins davon soll von Botticelli stammen, das ist aber nicht sicher. Wenn jemand es berechtigterweise zurückfordert, muss das Museum es abgeben. Es gehört zu den acht Beutekunstwerken hier. Bleibt hängen, will erlöst werden.

Im linken Flügel des Museums hockt das Café mit hellem Gewölbe und Wänden wie Nacht. Es heißt nach einem Jahrhundertbeginn. Die Tische sind aus Holz, jeder ist anders, jedenfalls glaube ich das, und es gefällt mir. Ich hatte immer den Eindruck, dass in diesem Raum was schwebt, es glänzt, wenn das Licht dranscheint: Stäubchen, Luftspiegelung, aus der Lampe gefallene Ariadnefäden … Auch daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Mein Heimweg führt jetzt über den Fluss. Ich darf nicht von ihm abkommen.

Wenn Museum und Café um 18 Uhr schließen, schlagen zwei Vorhänge aus Schmiedeeisen hinter den Besuchern zusammen. Das Fluggold wird ausgeschaltet. Es gibt dann nichts mehr zu sehen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Franziska Beyer-Lallauret: Sie ist Gegenwelt, Sublimationsraum für ausufernde Gefühle und Rückzugsort, vor allem die Poesie mit ihren unendlich vielen Spielarten und Möglichkeiten. Außerdem ist Lesen immer ein Lernen und damit Horizonterweiterung. Und Literatur lässt sich mit anderen teilen, schafft Verbindungen, fordert zum Dialog heraus. Das versuche ich auch mit meinen Schülerinnen und Schülern am Gymnasium Joachim du Bellay zu leben. Es ist sicher im heutigen Kontext naiv zu glauben, dass das geschriebene Wort die Welt rettet, aber es kann ein Anfang sein.

Was bedeuten Cafés für dich?
FBL: Seit der Geburt meines Sohnes im Jahr 2015 sind sie Sehnsuchtsorte geworden, weil der Alltag so durchgetaktet ist! Sie sind besondere Orte – erstens für Gespräche (und die Erinnerungen daran), zweitens für Beobachtung und Kontemplation. All das kann kreative Prozesse auslösen. Auch gehe ich gerne auf Zeitreise. Café 1801 zum Beispiel befindet sich in einem historischen Gebäude in einem hohen, schlichten Raum, der durch sein Kreuzgewölbe fast wie eine Kapelle wirkt. Es gibt viel Platz zwischen den Tischen, viel Luft. Die Stille hier ist beredt.

Wo fühlst du dich zu Hause?
FBL: Überall, wo mir liebe Menschen sind, in erster Linie. Und dann habe ich ja seit Jahren zwei Heimaten und zwei Sprachen. In den beiden Ländern Deutschland und Frankreich, die für mich eigentlich eins sind, gibt es neben meinem alten und neuen Zuhause an den Flüssen Loire und Mulde noch weitere Fixpunkte. Ich muss zum Beispiel immer wieder in die Bretagne zurückkehren, die mich magisch anzieht, seit ich dort mit 23 Jahren als Sprachassistentin gearbeitet und gelebt habe.

 

BIO

Franziska Beyer-Lallauret, geboren 1977 in Mittweida, studierte in Leipzig Germanistik und Französisch und lebt mit ihrer Familie als Autorin und Deutschlehrerin bei Angers (Westfrankreich). 2015 wurde ihr Gedichtband „Warteschleifen auf Holz“ veröffentlicht, 2022 folgte zweisprachig und von ihr selbst ins Französische übertragen „Falterfragmente / Poussière de papillon“, wieder im dr. ziethen verlag. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien; Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021, Finalistin beim Lyrikpreis Meran 2022.

Sibylla Vričić Hausmann | Café Grundmann, Leipzig

Foto: Alain Barbero | Text: Sibylla Vričić Hausmann

 

Ich bleibe Fremdkörper. Bedient werden löst Schuldgefühle in mir aus. Alleine im Café sitzen, Hochstaplerinnengefühle. Vielleicht, weil ich vom Dorf bin, als Jugendliche eher im Wald und an der Bushaltestelle herumhing. Als Kind waren Cafés bzw. Kakaos, Kuchen und Eis die Lockmittel, mit denen man mich zu Wanderungen oder anderen sportlichen Aktionen überreden konnte. Beim Skifahren brach sich mein Bruder einmal den Arm. Ich konnte es nicht fassen, dass wir die Piste verließen, ohne dass ich meinen „Chocolat Chaud“ bekommen hatte. Dabei waren doch das An- und Abpellen des Skianzugs, das Laufen in den Skischuhen und Schleppen der Skier, das Fahren mit dem Skilift, das halsbrecherische Bergrunterrutschen und die beißende Kälte schlimmste Zumutungen für mich! Vor einiger Zeit war ich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, der im letzten Jahr gestorben ist, hier, im Café Grundmann. Mein Stiefvater machte sich prinzipiell gut in Cafés. Ich stelle mir vor, dass er sich in ihrer Halböffentlichkeit heimisch fühlte, weil seine Eltern einen Lebensmittelladen besaßen, in dem er als Kind viel Zeit verbrachte. Ins Grundmann passte mein Stiefvater besonders gut. Weil es elegant ist, ein bisschen altmodisch, weil ein Klavier herumsteht und es – den Plakaten nach – hier Jazzkonzerte gibt. Die Fotosession war lang und hat mich natürlich vor den anderen Gästen und den hier arbeitenden Menschen sehr exponiert. Ich weiß nicht, lieber Alain, wie du es geschafft hast, dass ich mich dabei wohl gefühlt habe.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Sibylla Vričić Hausmann: Ein Ort, an dem ich nicht alleine bin – aber doch für mich sein kann. Also vielleicht das, was für andere Cafés sind.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SVH: Ich suche sie eher selten auf. Manchmal aber sind sie Orte der Belohnung, der Muße, des besonderen Moments. An einem Sommertag mit meinen Kindern an einem runden kleinen Cafétisch sitzen, Eis essen und mit dem Fuß im Kies knirschen …

Warum hast du das Café Grundmann ausgewählt?
SVH: Es ähnelt einem Wiener Kaffeehaus – Schauplätzen literarischer Kultur, die ich nicht selber kennen gelernt habe, aber interessant und anziehend finde. Vielleicht, ja vielleicht, wird doch noch etwas von ihrem Charme auf mich übergehen und ich werde irgendwann in einem Kaffeehaus neu schreiben und lesen lernen.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
SVH: Ich koche mir Kaffee. Schreibe an meinem Buch und schreibe Gedichte. Tagebuch. Gutachten. E-Mails. Bewerbe mich. Verfolge die Nachrichten und tausche mich mit Freundinnen aus. Spiele mit meinen Kindern. Versorge uns. Wasche Geschirr ab. Höre Radio. Surfe. Gehe zum Psychologen. Schlafe, schlafe, schlafe. Träume. Ich bereite mich auf die extrovertierteren Phasen des Jahres vor.

 

BIO

Sibylla Vričić Hausmann, geb. 1979 in Wolfsburg. Studium in Münster (WWU) und Berlin (FU), danach Projekte in Berlin, Praktikum am Goethe-Institut in Sarajevo; lebte 2009-2012 in Mostar, Bosnien und Herzegowina, wo sie an einem Theater arbeitete. 2014-2017 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist neben dem eigenen Schreiben als Dozentin für Literarisches Schreiben und Lektorin tätig und moderiert bei literarischen Veranstaltungen. Mitbegründerin des Blogs „Other Writers Need to Concentrate“ (zus. mit Katharina Bendixen und David Blum 2020) und der Lesereihe „Zürn“ (zus. mit Özlem Özgül Dündar 2022). Vričić Hausmann erhielt u.a. den Orphil-Debütpreis 2018 (für ihren Lyrikband „3 FALTER“, poetenladen Verlag), ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin 2019 und das Rainer-Malkowski-Stipendium 2022. Im März 2023 wird ihr aktueller Gedichtband „meine Faust“ (kookbooks Verlag) als „Lyrik-Empfehlung 2023“ ausgezeichnet. Sie lebt mit zwei Kindern in Leipzig.

Emanuil A. Vidinski | Mi Casa, Sofia

Foto: Alain Barbero | Text: Emanuil A. Vidinski | Übersetzung des Textes aus dem Bulgarischen: Emanuil A. Vidinski & Daniela Gerlach

 

Neulich, da sah ich meine Hand altern 
es war Herbst, Sonntag, die Sonne schien
Ich sah diese kleinen Vorboten der Stille
die feinen Linien auf der Haut, wie Neugeborene
die ihr Recht auf Leben einfordern
mit dem unerschütterlichen Willen zu wachsen
und sich zu vertiefen
in ihrem Eifer

Ich sah meine Hand altern
und sie tat mir leid
so rührend in ihrer Verletzlichkeit 
und so lautlos
wie sie alles so klaglos erträgt
wovon sie nichts weiß

 

Original (Bulgarisch)

Онзи ден видях ръката си да остарява
беше есен, неделя, слънцето грееше
видях тези малолетни предвестници на тишината
фините бръчици по кожата, като новородени
да заявяват правото си на живот
с непоколебимата воля да растат
и задълбават
в усърдието си

Видях ръката си да остарява
и ми дожаля
такава една трогателно безпомощна
и тиха
да понася безропотно всичко
за което не знае

 

Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Emanuil A. Vidinski: Literatur kann fast alles. Die Zeit zum Stehen bringen, Sinn geben, Empathie lehren, sie kann einen Ausweg bieten, Wissen weiter geben, Trost spenden und nicht zuletzt – sie kann Wunden, die nicht bluten, aber weh tun, heilen.

Was bedeuten Cafés für dich?
EAV: Ein schönes Café kann wie ein zu Hause sein. Wenige Orte können das. Deswegen schätze ich gute Cafés sehr. Es muss ruhig sein und viele Fenster haben.

Wo fühlst du dich zu Hause?
EAV: In bestimmten Cafés und in Bibliotheken. In einem Raum voller Bücher habe ich immer das Gefühl nicht verloren zu sein. Es ist das vertraute Gefühl, das man zu Hause hat. Wo Bücher sind, hat man den Eindruck als gäbe es keine Ecken, und sogar wenn man stolpern und fallen sollte, würde man weich aufkommen.

 

BIO

Emanuil A. VIDINSKI (1978) ist ein bulgarischer Schriftsteller, Dichter, Verleger und Musiker. Zu seinen Werken zählen die Erzählbände »Kartografii na biagstvoto« (»Kartografien der Flucht«, 2005) und »Egon i tishinata« (»Egon und die Stille«, 2015) sowie der Roman »Mesta za dishane« (»Orte zum Atmen«, 2008). Als Musiker war Vidinski Sänger und Gitarrist in der von ihm gegründeten »Par Avion Band«. Der bulgarisch-deutsche Lyrikband »Par Avion« wurde von Petya Lund ist Deutsche übersetzt und vom eta Verlag in Berlin herausgegeben (2017).

Ildikó Boldizsár | Kelet Kávézó és Galéria, Budapest

Foto: Alain Barbero | Text: Ildikó Boldizsár | Übersetzung (aus dem Ungarischen): Andrea Zambori

 

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Ort in Budapest, wo alles vorhanden ist, was man für ein gemächliches Kaffeetrinken braucht. Ich spreche nicht vom leckeren Kaffee, das ist Grundvoraussetzung. Ich erzähle lieber, was mir dieses Café in den verschiedenen Tageszeiten gibt.
Wenn ich am Morgen hier einkehre, beobachte ich gerne die aufdämmernde Stadt, die huschenden Straßenbahnen und die Vögel, die auf den Bürgersteig fliegen und Krümel picken. Ich wache gerne mit dem Latte auf, der hier vor mich auf den Tisch gestellt wird, weil es nicht bloß ein angenehmes Getränk ist: In ihm steckt nämlich die aktuelle Stimmung des Barista. Aber hier gibt es keine mürrische, lustlose Baristas oder hektische Kellner. Jeder bekommt ein nettes Wort und so kann der Tag gut beginnen. Ich lese meine Aufgaben durch, schreibe ein paar E-Mails, dann beobachte ich wieder die Vögel auf der Straße.

Mittags ist die Stimmung wieder anders: Die Studenten kommen zum Mittagessen an, viele kehren aus den nahegelegenen Ämtern zu einem Grillsandwich oder einem leichten Gemüsegericht ein. Mein Lieblingsessen ist der  Curry mit Austernpilz, aber ich muss zugeben, dass ich nicht wegen des Essens hierherkomme. Ich mag dieses wohltuende Rauschen, die Menschen, die sich über die Gerichte freuen und ich höre mir gerne die freudigen Gespräche und die Gelächter an. Was alles an einem halben Tag passieren kann!

Nachmittags und abends zeigt dieser Ort wieder ein anderes Gesicht. Verliebte, Freunde sitzen an den Tischen, es gibt nie einen freien Platz, ich muss warten, bis ich an der Reihe bin – aber ich warte immer geduldig, weil der Moment kommt, in dem ich mich an meinen Lieblingsplatz in der Ecke setzen kann. Dann kommt das, was der Grund ist, warum ich so gerne hierherkomme: Ich greife nach einem Buch im Bücherregal und nehme eins zu mir. Ja, das ist es! Für mich gehören Kaffee und Buch zusammen. Wenn ich alleine hierherkomme, bin ich auch nicht alleine, weil ich mich mit den Büchern unterhalten kann. Dazu habe ich sehr viele Möglichkeiten, da in diesem Café sich 5-6000 Bände befinden. Diese ändern sich ständig, da die Bücher zum Tausch vorgesehen sind.

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Ort in Budapest, in der Bartók-Béla-Straße, er heißt Kelet Café und Galerie, dieser ist mein Lieblingsort.

 

 

Original (Ungarisch)

Képzeljék el, van egy hely Budapesten, ahol minden együtt van, ami egy meghitt kávézáshoz szükséges. A finom kávét meg sem említem, ez alapkövetelmény, inkább arról mesélek, mit ad nekem ez a kávézó a különböző napszakokban. Ha reggel térek be ide, szeretem nézni az ébredező várost, az elsuhanó villamosokat és a járdára röppenő, morzsákat csipegető madarakat. Szeretek azzal a lattéval ébredni, amit itt tesznek elém, mert nem csupán egy kellemes ital: benne van az ízében a barista éppen aktuális hangulata. Márpedig ezen a helyen nincsenek morcos, kedvetlen baristák, kapkodva kiszolgáló pincérek. Mindenkinek jut egy kedves szó, és máris jól indul a nap. Átnézem a teendőimet, megírok néhány e-mailt, aztán újra a madarakat figyelem az utcán.

Délben egészen más a hangulat, ebédre érkeznek az egyetemisták, a közeli hivatalokból is sokan beugranak egy grillszendvicsre vagy valami könnyű zöldséges ételre. Kedvencem a laskagombás curry, de bevallom, hogy nem az étel miatt jövök ide. Szeretem hallgatni ezt a jóleső zsizsgést, szeretem nézni az embereket, ahogy örülnek az ételeknek, és szeretem hallgatni a jókedvű beszélgetéseket és nevetéseket az asztalok között. Nahát, mennyi minden történhet fél nap alatt!

Délután és este megint más arcát mutatja a hely. Szerelmesek, barátok ülnek az asztaloknál, sosincs szabad asztal, várni kell, amíg sorra kerülök – de várok türelmesen, mert eljön az a pillanat, amikor leülhetek kedvenc kis kuckómban, a sarokban. És akkor következik az, amiért a legjobban szeretek idejárni: felnyúlok a könyvespolcra, és leemelek egy könyvet. Igen, ez az! A könyv és a kávé nálam összetartozik. Ha egyedül jövök ide, akkor sem vagyok egyedül, mert beszélgethetek a könyvekkel, amire jó sok lehetőségem van, mert a kávézóban 5-6000 kötet található. Ezek naponta változnak, mert egy cserekönyvért bárki elvihet egy másikat.

Képzeljék, van egy hely Budapesten, a Bartók Béla úton, Kelet Kávézó és Galéria a neve, és ez az én kedvencem.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Ildikó Boldizsár: Als ich ein kleines Mädchen war, konnte ich mich nicht entscheiden, welchen Beruf ich wählen soll. Ich wollte gleichzeitig alles sein: Ornithologin, Kardiologin, Gärtnerin, Entdeckerin, Weltreisende … Es wurde mir schnell klar, dass es unmöglich ist. Deswegen bin ich Schriftstellerin geworden: Weil ich beim Schreiben jeder und alles sein kann. Ich finde, das ist die Rolle der Literatur und ihr Ziel: Den Menschen die unendlichen Möglichkeiten zeigen und sie in solche innere und äußere Landschaften mitnehmen, zu denen sie ohne Bücher nie gelangen könnten.

Was bedeuten Cafés für dich?
IB: In den letzten Jahren war ich sehr oft unterwegs und der erste Weg führt immer in ein Café. Ich setze mich hin und schaue mich aufmerksam um. Man kann sehr viel über eine Stadt und die Bewohner erfahren.

In Cafés kann man Fragen stellen, sich erkundigen, ins Gespräch kommen. In Cafés – egal wo auf der Welt sie sind – rauscht das Leben, die Informationen tauschen sich aus, es passiert immer etwas Interessantes.

Wo fühlst du dich zu Hause?
IB: Als ich noch jünger war, habe ich mich deshalb auf den Weg gemacht, weil ich die Antwort auf diese Frage beantworten wollte. Ich habe die halbe Welt bereist, weil ich gedacht habe, es wird einen Ort geben, wo ich mich endlich zuhause fühle. Ich war sehr enttäuscht, weil es nicht geschehen ist, obwohl ich viele Orte besucht habe, bei denen ich das Gefühl hatte: „Das hier wurde für mich erfunden.“
Mein Weg hat zu wildromantischen Meeresküsten, mediterranen Waldstücken, in den Himmel steigenden Bergen und Hütten am See geführt. Dann ist mir klar geworden , dass ich nach meinem „Zuhause“ umsonst da draußen suche, ich werde es ausschließlich in mir finden. Und genauso ist es passiert. Seitdem fühle ich mich überall zu Hause, egal, wo ich bin.

 

BIO

Ildikó Boldizsár, Schriftstellerin, Märchenforscherin, Märchentherapeutin, Dozentin. Achtundfünfzig Bücher sind von ihr in Bezug auf Märchen erschienen: Sammlungen, Theorien und eigene Märchen.
Sie hat die Metamorphoses Märchentherapie Methode ausgeartet, welche sie sowohl in Ungarn, als auch im Ausland unterrichtet. Sie hat drei Kinder und drei Enkelkinder. Sie lebt in Budapest, wenn sie nicht gerade unterwegs ist. Sie ist eine leidenschaftliche Weltreisende.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Selim Özdoğan, Café Soleil, Köln, Cologne

Selim Özdoğan | Café Soleil, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Selim Özdoğan

 

Da war eine Zeit, da ging es darum, nicht weich zu werden. Die Wut zu bewahren. Keinen Millimeter nachzugeben. Wenn du nachgibst, gewinnen die da draußen. Es gab eine Zeit, da lief Cassandra Complex: I want to grow old and cold and lonely / As long as you don’t win / Win / You didn’t win.
Dann kam die Zeit, in der ging es darum, weich zu werden. Durchlässig. Nachgiebig. Sich allem auszusetzen, was man Leben nennen konnte. Berührt zu werden von jedem Wort und jedem Blick, jeder Hand und jedem Herz. Es gab kein draußen mehr und es gab auch nichts zu gewinnen. Es gab nur noch etwas zu schmecken. Mit allen Sinnen.

 


Kurzinterview mit dem Autor 

Was kann Literatur?
Selim Özdoğan: Literatur kann Räume öffnen und bietet die Möglichkeit zu Kontakt. Kontakt entsteht an den Grenzen, den Grenzen der eigenen Welt.
Außerdem kann Literatur die Musik sein, die wir manchmal Liebe nennen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SÖ: Mittlerweile schaue ich nach Orten, wo es Kuchen gibt, der den Kindern gut schmeckt.
Ansonsten bieten Cafés die Möglichkeit guten Kaffee zu trinken, zu reden und zu trödeln. Alles wichtige Dinge in meinem Leben.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SÖ: Wo die Musik stimmt. Die Musik zwischen den Menschen, die Musik zwischen mir und den anderen Menschen.

 

BIO

Selim Özdogan, geboren 1971, hat seit  seinem Debut 1995 „Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist“ (Aufbau Taschenbuch) zahlreiche Romane, Erzählungen und Hörbücher veröffentlicht. Dafür gab es Preise und Stipendien. Er trinkt Kaffee, praktiziert Yoga, isst dunkle Schokolade, redet, liest, hört Musik und macht Atemübungen.

Baya Streiff | Le Murmure fracassant, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Baya Streiff | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Alles beginnt mit einem Ende der Nacht wie ein Schattentheater, mit seinen weißen Wolken, die aussehen wie Hängeleuchten. Ist es der schwere Duft der Buchsbaumblüten, der das Nasenloch packt, oder diese schlichte Freude, den Klang dieser Klarinette aus der Métro entwischen zu hören, die mich dazu bringt, meine Schritte auf dem lockeren Pflaster laut hallen zu lassen? Die Stadt frohlockt. Die Luft verströmt einen berauschenden Duft nach warmer Brioche. Überall, auf dem Asphalt, ein Festspiel bunter Silhouetten, wie ein riesiges Kaleidoskop. Darüber tirilieren hunderte Vögel ihre fröhliche Morgenkantante. In den Gastgärten schwadronieren Großsprecher schon vor ihren Schönen. Auf dem Tisch, vergessen, laue Cocktails … Gegengenüber laufen ängstliche Menschen in alle Richtungen über den Boulevard, wie geköpfte Hühner. Einem Floristen begegnen, vor dem sich alte Blumenstrauß-Auskenner anstellen, mit Händen wie Marionettenspieler, in widerstreitenden Erinnerungen verloren. Draußen der Himmel, wie eine Kuppel. Von wo mir dieses Bedürfnis kommt, ein wenig im lüsternen Frühlingslicht zu bummeln, bevor ich mich endlich hinsetze, schlotternden Herzens, um mir den ersten Kaffee des Morgens in der Bar „Le Murmure fracassant“ schmecken zu lassen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann die Literatur?
Baya Streiff: Die Literatur hat mich seit jeher begleitet. Sie verleiht dem Leben Eleganz und ist außerdem eine treue Freundin. Schreiben ist ein bisschen wie rückwärtsgehen, um die Zeit umzukehren… Die Literatur lässt mich an einen Riss in der Zeit denken, der alle Geschichten möglich macht.


Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BS: Die Cafés stehen für die glücklichen Stunden, oft auch für die des Wartens. Manchmal kann dieses Warten quälend werden und sich in eine Ungeduld verwandeln, die mich durchschüttelt und die mir gefällt. Es ist schwindelerregend zu sehen, wie eine Abwesenheit den Raum einnehmen kann. In diesen Momenten wollen meine Gedanken nicht dorthin, wo ich sie haben will!


Wo fühlst du dich zuhause ?
BS: Hier in diesem Café, in dem sich die ganze Unruhe der Stadt verabredet zu haben scheint. Alles Gemurmel der Welt ist hier vereint. Es wirkt auf mich wie eine Pforte des Möglichen. Man kann Bücher lesen oder seine Schallplatte mitbringen, um für Stimmung im Café zu sorgen. Ich habe hier schon Bücher verlassen oder welche gefunden, auf der Bank im Stich gelassen. Sein traumhaftes Universum gefällt mir, mit seinen monumentalen Toren des Paradieses, der Hölle und der Abgründe. Alles regt hier zum Träumen an und kitzelt die Phantasie.

 

BIO

Baya Streiff arbeitet in Paris bei der Jugendgerichtshilfe. Ihre Leidenschaft fürs Reisen, die Photographie und die Literatur speisen ihre Phantasie und ihre romanhafte Sicht auf das Leben.
Ihr erster Roman « Les hasards exagérés » („Die übertriebenen Zufälle“), bei den Éditions du 7e Ciel veröffentlicht, zeichnet die Geschichte Monas nach, in der sich Geheimnisse und Gewissensbisse andeuten und uns von hier nach dort auf dem Schachbrett des Lebens führen, um auf den weißen und schwarzen Feldern des Wegs zur Reife voranzuschreiten. Dieser Roman fragt danach, wie man die Desillusionierungen des Erwachsenenalters vorausahnen kann.
Das Buch fiel dem Regisseur Philippe Faucon auf, der es verfilmen wird.

Nadya Radulova | Schroedinger Bar, Sofia

Foto: Alain Barbero | Text: Nadya Radulova | Übersetzung des bulgarischen Textes: Vera Trajanova, des Interviews und der Bio auf Englisch: Daniela Gerlach

 

Herbst im Hof der Bar Schroedinger

Am Hofende, am Katzentisch,
unter dem welken Blauregen, zwischen dem
Nachmittagskaffee und dem Vorabendpastis,
keine einzige Zeile geschrieben, schaue ich zu
wie eine rötliche Streunerkatze
den Schwanz nach oben richtet und
abermals das Experiment übt:

sie hebt den Kopf, macht einen Buckel,
rafft sich auf, springt mit aller Kraft als ob sie über die Mauer will
und als sie die Höhe erreicht, 
wo ich erwarte, dass sie Flügel zückt und spannt,
streckt sie bloß eine Pfote aus, hebt den Deckel 
und kratzt den Himmel blutig
mit ihren Tintenkrallen.

 

Original (Bulgarisch)

Есен в градината на бар Шрьодингер

От масата в дъното на двора,
под посърналата глициния, между
следобедното кафе и привечерния пастис,
ненаписала нито ред, наблюдавам как
една рижо-червена улична неподобрена
вирва опашка и за пореден път днес
упражнява експеримента:

вдига нагоре глава, извива гръбнак,
набира се, скача с все сила уж да прехвърли оградата
и когато достигне височината, на която
очаквам да извади крилe и да ги разпери,
тя просто протяга лапа, повдигa капака
и одира небето до кръв
с мастилените си нокти.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Nadya Radulova: Als radikale Form der Identifizierung und der Umsetzung verlängert Literatur unsere Lebensdauer, gibt uns das Geschenk der Unsterblichkeit. 

Was bedeuten Cafés für dich?
NR: Räume zum Runterkommen und Nachdenken, wo ich mich nicht für mein Nichtstun schuldig fühlen muss.

Wo fühlst du dich zu Hause?
NR: Überall, wo ich meine Stimme hören und sie als meine eigene erkennen kann.

 

BIO

Nadya Radulova ist Schriftstellerin, Verlegerin und literarische Übersetzerin. Sie hat sechs Gedichtbände geschrieben, darunter die preisgekrönten Bände „Albas“, „When They Fall Asleep”, und „Little World, Big World”. Radulovas Gedichte und Kurzgeschichten wurden u.a. ins Englische, Spanische, Deutsche, Rumänische, Türkische und Griechische übersetzt ; der zweisprachige Gedichtband „Kleine Welt, große Welt“ ist ihr erstes Werk in deutscher Übersetzung und erscheint im März 2023 beim eta Verlag. !
https://www.eta-verlag.de/produkt/kleine-welt-grosse-welt/