Foto: Alain Barbero | Text: Jade Samson-Kermarrec | Übersetzung aus dem Französischen: Sophia Lunra Schnack
Jule fragt sich schon, wem Nathanja und Heinrich ähnlich sehen. Existieren sier nur? Die Frage streift sie, ohne sie wirklich zu beschäftigen. Seitdem sie hierherkommt, hätte sie einen der Barkeeper fragen können. Um ehrlich zu sein, hat Jule das sicher schon gemacht, einmal, als sie jedoch stockbetrunken war und ihre Erinnerung, im Alkohol versumpfend, abgedankt hatte und bis zur nächsten Verordnung aufhörte neue Informationen abzuspeichern.
Unmöglich, sich zu erinnern, wenn es keine Erinnerungen gibt.
Auf einer Bank sitzend und am Fenster lehnend, spielt Jule nervös mit dem Gummiband ihres Notizheftes, während sie die gekonnten Bewegungen hinter der Theke beobachtet.
Jule trank und trinkt nicht mehr.
Seither wird sie, ohne Vorwarnung, regelmäßig von der Schwere und den Folgen ihrer Abhängigkeit heimgesucht. Dennoch kann sie nichts dagegen tun, dass sie Lust auf den Cocktail hat, den die Bardame gerade zubereitet. Jule macht die Augen zu. Sie ruft in ihrer sensorischen Erinnerung den Geschmack von Gin Basil auf, das Basilikumblatt, das ihre Nase kitzelt, den klaren und säuerlichen Geruch des Gin und der Zitrone, die scharfe Kälte des Eiswürfels, der auf der Mitte des Whiskyglases schwimmt. Die Verheißung des Geschmacks, der Kühle, des Rausches, der Schwebezustand ist so perfekt, dass sie kaum den Alkohol spürt, das erste Glas so gut, so tückisch, dass es nach dem nächsten ruft, dann nach noch einem, schließlich all ihre Kumpel versammelt. Jule unterdrückt einen Schmollmund, der Geschmack von zu viel überkommt sie wieder, ihre Sprachfähigkeit wie Neuronen, ihr Anstand und Schamgefühl ziehen Leine. Sie macht die Augen wieder auf. Das Aufrufen ihrer Erinnerung hat seine Wirkung getan, ihre Lust ist vergangen.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Jade Samson-Kermarrec: Sehr viel Verschiedenes. Sie kann sowohl Rückzugsort sein als auch Ventil für etwas. Ich denke, dass sie mehr als ein Fenster zu einer Welt oder Zugang zu einem anderen Ort ist und tiefgreifende Veränderungen im Inneren wie Äußeren auslösen kann. Ich mag es, mir Literatur als eine Bewegung vorzustellen, als eine Welle, die im Inneren entsteht um sich dann auszubreiten. Ich mag, dass sie sämtliche Paradoxe vereinen kann, das macht sie meiner Meinung nach komplex, vollkommen und vor allem unendlich.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JSK: Als Pariserin war ich mit der Bedeutung des Cafés als Ort des Zusammenkommens seit der Pubertät vertraut. „Auf einen Kaffee gehen“ war Teil des Alltags. In Berlin sind Kaffeehäuser anders, hybrider, weniger vereinheitlicht. Wie auch immer, ich habe Kaffeehäuser immer mit menschlicher Erfahrung verbunden, mit der Beobachtung von KundInnen oder PassantInnen, mit der Körpersprache des Barkeepers/der Barkeeperin und der KellnerInnen. Ich mag diese nicht wirklich anonyme Anonymität, die dort vorherrscht, ich mag diese Zwischenzone und die Möglichkeit Zuschauerin des menschlichen Karussells zu sein, ohne sich jedoch ganz daraus zurückzuziehen. Ein Café (in seiner Bedeutung als Ort und allen anderen Bedeutungsebenen) ist eine Schatzkammer.
Wo fühlst du dich zuhause?
JSK: Das ist eine Frage, die einen das ganze Leben beschäftigen kann. Ich bin 2003 nach Berlin gekommen, ich war 16 Jahre alt und habe mich sofort zuhause gefühlt, obwohl ich nicht viel von dem, was man mir erzählte, verstanden habe. Das war mir gleich ganz klar und seitdem hat mich dieses Gefühl, hier auch „zuhause“ zu sein, nie verlassen. Ich hatte fortan also mehrere „Zuhause“ ; das ist ein Luxus, der jedoch mit dem Nachteil einhergehen kann, sich nirgends komplett zu fühlen. Aber davon abgesehen ist Berlin mein Zuhause, da bin ich bei mir, da bin ich ich selbst.
BIO
Jade Samson-Kermarrec ist 1987 in Paris geboren und lebt seit 2013 in Berlin. 2018 gründete sie die französisch-deutsche Theatertruppe „Theater im Nu“ und 2022 das Theaterfestival „Le Lampenfieber“. 2021 trat sie der Berliner Autorinnenvereinigung bei und nimmt seither aktiv an den verschiedenen Initiativen des Netzwerkes teil (Hôtel des Autrices, Calendrier de l‘Avent, La Colec…)
Foto: Alain Barbero | Text: Maud Ruget | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach
In einem Café schreiben. Durch das Fenster die Fahrräder, die Straßenbahn,Spaziergänger mit Kinderwagen oder mit Hund beobachten. Das Zischen der Kaffeemaschine hören und die sanfte Nachmittagsmusik. Den Zitrusdampf eines Oolong-Tees in der Luft riechen. Und doch nur halb da sein, den Geist verzweigt an der Schnittstelle von Gefühl und Wort. Sich an den Tisch der Erinnerung lehnen, dann auf dem Boden einer Tasse die Zukunft betrachten, die am Rande des Möglichen zittert. Andere, noch nicht ganz geborene Welten durchschreiten, die ein Wissen Sie schon? jeden Moment verschlingen kann.
Kurzinterview mit der Autorin
Was kann Literatur? Maud Ruget: Ich war lange misstrauisch gegenüber der Macht, die der Literatur zugeschrieben wird. Ich möchte gerne glauben, dass ein Buch die Welt verändern kann. Ich bezweifle das manchmal. Und ich denke, dass das auch sehr gut so ist. Man muss sich ein bisschen ohnmächtig fühlen, wozu sonst schreiben?
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Zum Arbeiten ins Café zu gehen, zwingt mich, aus meiner Höhle rauszukommen. Ich fahre dreißig Minuten mit der Metro, um in meine Lieblingscafés zu gehen, Orte, die gemütlich sind, und vor allem hell, die ich schon bei meiner Ankunft in Berlin markiert habe. Ich mag es, die Leute dort zu beobachten, die Gesichter einiger Stammgäste und Kellner*innen wiederzufinden. Das gibt mir die Illusion von Stabilität in einem Alltag, der eine ständige Baustelle ist. Vielleicht schreibe ich dort nicht so gut, aber Cafés haben den Vorzug, mir den Geist durchzulüften (und Kuchen zu servieren, seien wir ehrlich).
Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: In Berlin, wo sonst? Manchmal ermüdet mich die Stadt, aber ich komme hier immer wieder auf das Gefühl zurück, dass ich zu Hause bin.
BIO
1990 in Dijon geboren, zog Maud Ruget durch mehrere Kontinente, bevor sie ihren Koffer 2016 in Berlin abstellte. Ihr Schreiben ist interdisziplinär. Ihre Interessengebiete liegen in der „Poetik der Beziehung“, „Öko-Poetik“ und im post-traumatischen Schreiben. Sie ist mit ihrer Novelle Maelstrom Frankreichs Kandidatin in der Kategorie Literatur der Jeux de la Francophonie 2023.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/MaudRuget-CafeButter-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2023-07-30 10:03:392023-07-30 10:14:19Maud Ruget | Café Butter, Berlin
Dunkel, dunkel ist der Himmel, während der Blick das Licht sucht, draußen, wie er nur Minuten davor die Frühlingsblumen gefunden hat, die Märzenbecher, die Winterrosen, die Krokusse / eiliges Vorbeiziehen quert das Licht
Die Plakate, denke ich, Zeiten, die einmal waren, und sepia waren sie und rostrot in einer Wellenbewegung, Geschichten, denke ich, die ich mir in die Realität sehne, den erzählten Schmerz sehne ich mir in mein Herz, in dem es kälter wird / das Herz hat zu viele Risse bekommen, mein Herz schreibt Nostalgie in diesen Tagen größer
Diese Tage, dunkelgrau wie der Staub, der auf den Scheinwerfern an der Decke sitzt, sie geben kaum noch Licht, sind abgehangen, wie die Fassade der Straße gegenüber, wie sie im Damals war, zur Wende / nur die Straßenbahnen waren Licht, las ich, waren das Bisschen Sonne
Abgehangen der Schleier Zeit, Zeit ist eine andere geworden, kein Blick in eine bessere, sie fällt im Angesicht des Jetzt in sich zusammen, in jeder Begegnung tut sie das / zwischen Flüchtenden habe ich mich bewegt, Geflohenen, die Antworten suchten, wann der Zug und welcher und welches Gleis und nach ihrem Koffer, dem einen, den sie tragen konnten
Mit dem Schluck Kaffee verschlucke ich mich an meinem Gewissen, huste, räuspere mich, huste die Zeit, die ist, aus mir, verräuspere mich in Worten, die ich nicht auszusprechen wage / vage die Vorstellung, wie es damals war, als Ost und West sich hier getroffen haben, im Plüsch des Sofas, las ich, wurde geküsst, wurde nähergerückt, was eine Mauer bislang trennte
Grau, grau und schmutzig die Zeit, ich stehe auf aus ihr, dem Himmel, hier, dem es an Blau und Hoffnung fehlt, gehe ein paar Schritte, lese an der Wand / ici, Delphine a pensée à Thomas
wer waren diese Menschen, die in Liebe zueinander, und wenn nicht in Liebe, dann in einem Wunsch, wer waren all die Menschen, die hier in diesen dunklen, dunklen Räumen aneinander, miteinander dachten, wer werden sie in Zukunft sein?
Das Wort Zukunft fährt mir kalt und kälter in die Glieder, ich denke, vor lauter falschem Himmel sehe ich sie nicht, nicht für andere in Licht / der Blick sucht weiterstets nach Licht, drinnen, draußen, wie er zuvor nur nichts gefunden hat
Abgehangenes Nichts schreibt sich in diesen Tagen größer, schreibt sich dunkel, dunkel, färbt die Winterrosen schwarz
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Isabella Feimer: Literatur ist mir ein Loslassen und Festhalten, ein geerdeter Schwebezustand; eine Kunstform, die in ihrem Sein als Abbild der Welt, die Welt deutlicher zeichnen kann, als sie ist.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
IF: Zwischenorte, viele Stimmen, tatsächliche und jemals gewesene, die sich mit meiner inneren Stimme verbinden können. Das Jetzt und die Geschichte sammeln sich in Cafés, und auch ein Hauch von etwas, das einmal sein wird.
Warum hast du das Café Cinema ausgewählt?
IF: In der dunklen und geschichtsträchtigen Atmosphäre des CC findet sich meine Leidenschaft für das Kino wieder; es ist ein magischer Ort, der so gar nicht in seine Umgebung hineinpasst und ihr dadurch eine Form gibt. Im CC findet sich so manche Geschichte.
Was machst du, wenn du nicht im Café sitzt?
IF: Tatsächlich spazieren, in Bewegung sein, an Frühlingsblüten schnuppern, die Winterkälte aushalten, usw., ich bin oft im Kino, das Kino ist ein einem Café entgegengesetzter Ort.
BIO
Industriestadtaufgewachsen, nicht ganz Land, nicht ganz Stadt, schon früh der Wunsch nach Richtung Weite, ist so, wenn man im Dazwischen sitzt; Kunsteskapismus, zuerst Theater, dann flügge in die Literatur, die es gut mit mir meinte (hier: ein Dankeschön)
eine Reisende bin ich, reise in Texten, Taten und dem Fantastischen, in der Welt; bebildere mich dabei, lasse in meinem Tun die Bilder Weiterwachsen, und in den Bildern findet meine Stimme ihren Platz.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/IsabellaFeimer-CaféCinema-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-09-24 12:03:262022-10-08 23:09:44Isabella Feimer | Café Cinema, Berlin
Seit ich Geld habe, um es zu verschleudern, zieht es mich in Kaffeehäuser. Mein erstes und immer noch mein liebstes, ist das Café Rainer in St. Johann in Tirol. Ein düsteres fast schon wienerisch anmutendes Café, das sich wundersamerweise in ein Tiroler Skigebiet verirrt hat. Genau wie ich – Kopfwesen mit den langen Fühlern – wundersamerweise in eine tatkräftige Tiroler Bergbauernfamilie hineingeboren wurde. Im Café Rainer habe ich als Gymnasiastin viele Stunden verbracht. Wenn ich eine Freistunde hatte oder eine brauchte, setzte ich mich in die dunkelste Ecke. Ich blies Rauchringe in Richtung der dunklen Holzverkleidung, trank meine Melange und träumte von der Zukunft. An den Nachmittagen war ich mit Freund:innen hier, unterhielt mich oder lachte oder stritt. Doch wie oft im Leben, geschah das Wichtigste am Abend. Abends gab es dort alle paar Monate eine Lesung. Vom zwölften bis zum achtzehnten Jahr hab ich kaum eine Veranstaltung versäumt. Damals erlebte ich H. C. Artmann, Robert Schindel, Sabine Gruber, Robert Menasse, Evelyn Schlag. Wie Traumwesen kamen sie mir vor, Vorahnungen meiner eigenen, undeutlich schraffierten Zukunft. Wann immer ich heute mit meiner Familie in St. Johann bin, gehe ich ins Café Rainer. Wie ein Lachs kehre ich zurück an die Stätte meiner geistigen Geburt. Mein Mann bestellt dann gerne ein Omelett. Unsere große Tochter das Überraschungseis. Und ich trinke meine Melange und freue mich darüber, wie trefflich hier das Profane und das Heilige ineinanderfließen. Auch wenn schon lang keine Lesungen mehr stattfinden, auch wenn H. C. Artmann seit vielen Jahren tot ist und kaum ein Mensch noch ernsthaft raucht: Das Café Rainer macht weiter. Und es ist noch immer voll mit Zukunft bis unter die vertäfelten Decken.
Kurzinterview
Was bedeutet Literatur für dich?
Elisabeth R. Hager: Im Schreiben & im Lesen von Literatur komme ich mir selbst und der Welt am nächsten. Literatur ist meine bevorzugte Art der Berührung, ein Trostort und Begegnungsstätte mit noch unbekannten Freund:innen…
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
ERH: Sie sind Ruheinseln, Zeltplätze, Arbeitsorte, Präsentierteller und Flirtzone. An jedem besetzten Tisch gelten andere Gesetze. Das Private und das Öffentliche schmiegen sich hier einander an. Das Café ist ihre Verlandungszone, ein Ort der Begegnung.
Warum hast du Fräulein Wild ausgewählt?
ERH: Es gibt den Ort, an dem ich mich physisch aufhalte und – wenn ich alleine bin – fast immer einen zweiten. Diesen zweiten Ort, meinen Headspace, bewohnen meine Gefühle. Das Fräulein Wild ist ein Ort, an dem ich oft schreibe. Die Gründe sind profan. Es liegt auf halber Strecke zwischen dem Kindergarten meiner kleinen Tochter und unserem Haus. Außerdem sind die Sessel bequem, der Kaffee schmeckt gut und – I must admit – der Name spricht zu mir…
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
ERH: Ich atme, tanze, lese
Spiele mit den Worten
mit den Kindern
anderswo.
BIO
Elisabeth R. Hager ist Schriftstellerin, Klangkünstlerin und Mitarbeiterin in der Hörspielabteilung von Deutschlandfunk Kultur. Für ihren Roman »Fünf Tage im Mai« erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. das Hilde Zach Literaturstipendium der Stadt Innsbruck 2018. Sie lebt mit ihrer Familie zwischen Berlin, Tirol und Neuseeland. Ihr dritter Roman »Der tanzende Berg« erscheint im August 2022 im Klett-Cotta Verlag.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/ElisabethHager-FräuleinWild-235_Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-07-30 11:37:102022-07-30 11:37:10Elisabeth R. Hager | Fräulein Wild, Berlin
Foto: Alain Barbero | Text: Cécile Calla | Übersetzung aus dem Französischen: Barbara Peveling
Das Jahr Null der Sprache
Die Sirenen der Bombenangriffe ertönen pausenlos. Im Schlaf, beim Aufwachen, bei der Arbeit, während der Kaffeepausen, in dem Bus oder der Bahn und in jeder freien Minute. Das Ende des Krieges, die Kapitulation und das riesige Meer der Schuld kleben an mir. Ich bin nie allein, es gibt immer diese Geister, dieses Gewicht, das mir auf meine Lungen drückt, die Kehle zuschnürt, den Appetit verdirbt, meine Eingeweide umdreht und mich erschauern lässt. Ich versuche, das Alphabet der Herkunft zu entschlüsseln, ein vertrautes Wort zu rekonstruieren, das Unausgesprochene und die verschlüsselten Botschaften zu erkennen; ich lerne eine besonders schwierige Fremdsprache und das ohne jegliche Hilfe. Der ohrenbetäubende Lärm der Explosionen ist nichts anderes, als die Zerstörung dieser höllischen Logorrhoe*, dieser betäubenden Wörter, dieser leeren Formulierungen, dieser Witze, die nur Namen tragen. Ich werfe alles in den Reißwolf, um nur noch winzige Bruchstücke zu erhalten, Atome, die ich dann nach Lust und Laune und in völliger Freiheit zusammensetzen kann, ohne der familiären Gebrauchsanweisung zu folgen. Es ist das Jahr Null meiner Sprache. Ich lerne wieder sprechen, lesen und schreiben. Ich werde mich von meinem Bauch, meinem Mund und meinem Geschlecht leiten lassen. Die körperliche Dreifaltigkeit ist mein als Kompass. Die Nerven der Weg. Das Pulsieren des Herzens der Motor.
*Bei einer Logorrhoe kommt es zu einem nahezu ununterbrochenen und übermäßig schnellen Redefluss.
Interview mit der Autorin
Was ist Literatur für dich?
Cécile Calla: Es ist ein Raum zum Denken, um die gegenwärtige und vergangene Welt zu verstehen, ein Ort der Freiheit, der Entdeckung und einer notwendigen Disziplin.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CC: Es sind Orte, an denen ich die Einsamkeit genießen kann, Zufluchtsorte zum Schreiben, seit ich Mutter bin. Dort kann ich meine Gedanken nach Belieben schweifen lassen. In einem Café gelingt es mir oft, eine Textblockade zu lösen oder eine gute Einleitung zu finden.
Warum hast du Lass uns Freunde bleiben gewählt? CC: Weil es unaufgeregt ist, so typisch berlinerisch mit seinen Möbeln, die aussehen, als wären sie von einem Flohmarkt, und auch, weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich gehe gerne am frühen Morgen hin, wenn viel los ist und Menschen unterschiedlicher Herkunft und Horizonte zusammenkommen: die Leute aus dem Kiez natürlich, Freunde und Bekannte, die ich treffe, aber auch einige Touristen oder Arbeiter von den nahe gelegenen Baustellen, die sich einen großen Kaffee holen.
Was tust du, wenn du nicht im Café bist?
CC: Ich arbeite in meinem Büro, das sich in einem Künstlerhaus befindet.
BIO
Cécile Calla, 1977 in Paris geboren, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt für deutsch-und französischsprachigen Medien und hat ihre erste Kurzgeschichte bei den Literaturmagazin Stadtsprachen im September 2020 veröffentlicht. Sie hat den feministischen Blog Medusablätter gegründet, der einen neuen Blick auf feministische Debatten wirft und produziert mit Barbara Peveling den deutsch-französischen Podcast Medusa spricht (Méduse parle). Sie ist Mitglied des Netzwerkes französischsprachiger Autorinnen in Berlin. Zuvor war sie Korrespondentin der Tageszeitung „Le Monde“ (2007 – 2010) und Chefredaktorin des deutsch-französischen Magazins „ParisBerlin“ (2012 – 2015).
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/CecileCalla-LassUnsFreundeBleiben-75_Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-07-02 11:50:222022-07-02 11:50:22Cécile Calla | Lass uns Freunde bleiben, Berlin
Foto: Alain Barbero | Text: Delphine de Stoutz | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach
Ihr verabredet euch an der Straßenbahnhaltestelle Warschauer Straße, in genau der gleichen Entfernung zu jeder eurer Wohnungen. Keine Gebietseinnahme von der einen oder der anderen Seite, die perfide Einrichtung einer Demarkationslinie lässt nichts vermuten, der Beginn eines Stellungskrieges, der langwierig und strapaziös zu werden verspricht, sagst du dir beim Auflegen.
Deine Straßenbahn ist einige Minuten vor seiner da. Die Nacht hat sich bereits eingerichtet, obwohl es noch nicht so spät ist. Der winterliche Nebel verdrückt sich unter die Eisenbahnbrücke des Umsteigebahnhofs. Gefangen im Strahl schwächelnder Straßenlaternen, vergraut der weiße Schleier die Nacht, gibt ihr die Textur eines Fritz Lang-Films. Um dich herum heulen die Schienen ihr stählernes Klagelied. Seine Bahn kommt.
Ein Schatten im Nebel. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Mantel, Handschuhe und Mütze schwarz, nur diese paar Zentimeter Haut verhindern, dass er von der Dunkelheit völlig geschluckt wird. Der Mann in Schwarz nähert sich dir also. Seine Schritte sind weder zögernd noch eilig. Ein gleichmäßiger Schritt, gemessen, auf nichts Bestimmtes schließend, ein Schritt, der zu nichts führt, es sei denn, dir näher zu kommen. Der nächste wird der entscheidende sein.
Du denkst: Welchen Abstand wird er zwischen uns legen?
Aber er macht alle deine Prognosen zunichte. Er nimmt dich in seine Arme. Mit seinen zwei Metern drückt er dich an sich und hebt dich hoch. Deine Füße verlassen den Boden und dein Herz kommt aus dem Rhythmus. Die Uhren halten an und du spulst die Geschichte zurück, lässt dich fallen und fühlst wie beim ersten Mal das Geschenk einer Begegnung.
Interview mit der Autorin
Was ist Literatur für dich?
Delphine de Stoutz: Keine Ahnung. Ich bin immer auf der Suche. Oder es ist eher etwas, das einfach da ist, und es genügt, sich zu bücken und es aufzusammeln. Sagt man woanders, auch auf Deutsch, nicht „um das Wort bitten“ oder „das Wort ergreifen“? Also ist Literatur überall, und es ist eine persönliche Entscheidung, ob wir sie zu einem Teil von uns werden lassen. Literatur machen ist etwas anderes. Da steigt man selbst in die Grube hinab, ohne zu wissen was man dort findet, außer, dass man als jemand anderes wieder herauskommt. Das erfordert jedes Mal wahnsinnigen Mut.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
DdS: Sie sind lange ein Ort des Schreibens, der Beobachtung gewesen, ein wichtiger Kontakt zur Außenwelt, um sich nicht ganz von der Sprache auffressen zu lassen. Mit Corona und seinen Schließungen wurde es notwendig, andere Orte zu finden. Ich habe zum Beispiel einen Roman von 300 Seiten komplett auf der Toilette geschrieben, der einzige Raum, den ich bei mir abschließen konnte. Diese Situation hat mich schließlich dazu gezwungen, die Frage nach dem Ort, wo ich schreibe, zu stellen, und hat mir die Gewissheit zurückgegeben, dass das Schreiben kein einsamer Akt ist. Ich schreibe nicht mehr in Cafés, ich brauche das nicht mehr. Ich gehe dorthin, um die Gemeinsamkeit und die Freundschaft zu erleben und jedes Mal mit der Hoffnung auf ein Abenteuer.
Warum hast du den Würgeengel gewählt?
DdS: Diese Bar ruft das Berlin der verrückten Jahre zurück. Man nimmt hier ein anderes Ich an. Erinnerungen an Marlene.Schließlich das Abenteuer …
Was tust du, wenn du nicht im Café bist?
DdS: Glücklicherweise verbringe ich mein Leben nicht in Cafés!Trotzdem haben sie immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt: Es ist in einem Café, wo ich meinen Mann kennengelernt habe, wo ich mich entschieden habe, in Berlin zu leben. Außerhalb dieser Orte des Verderbens arbeite ich viel, widme ich mich meiner Familie, lese ich enorm viel, und wenn ich die Stadt verlasse, verliere ich mich im Gehölz oder „kultiviere“ meinen Garten.
BIO
Als Autorin pendelt Delphine de Stoutz zwischen Sprachen, Ländern und dem Schreiben. Nach einem langen Umweg über das Theater, widmet sie sich der Literatur und veröffentlicht 2018 einen ersten Roman, Adult(r). Mit einem Stipendium der CNL beendet sie 2019 einen zweiten Roman und den Entwurf zu einem Comic. 2020 gründet sie das Réseau des Autrices (Autorinnen-Netzwerk) und entwickelt im folgenden Jahr das Programm für einen „digitalen Wohnraum“: das Hotel der Autorinnen. Seit 2008 lebt de Stoutz in Berlin.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/DelphineDeStouz-Würgeengel-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-05-21 12:30:392022-05-21 12:30:39Delphine de Stoutz | Würgeengel, Berlin
Foto: Alain Barbero | Text: Mathilde Ramadier | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl
Ist die Euphorie der letzten Feiertage vergangen, liegt etwas Tristes in diesen Wintertagen, die einer nach dem anderen vorbeiziehen. Eine rasende Flachheit. Als ob die Flachheit eine Geschwindigkeit hätte.
Jedes Aufwachen im Oktober erinnert mich an diese unvermeidliche Katastrophe: Alles, was wir im Sommer genossen haben, ist von den Wolken weggewischt, die bleiben. Die Zeit der toten Blätter herrscht wieder, die Dunkelheit beschleunigt die Schwärze der Dinge, ich flüchte mich daher in die Hochstapelei der glücklichen Menschen, in die lässige Pose der Bohemiens, die über die gepflasterten Straßen Berlins spazieren, sie, die nicht akzeptieren, dass die schöne Jahreszeit nicht ewig dauert.
Frühmorgennebel, Sonne im Osten. Unwillig schlüpfe ich in eine dicke schwarze Legging. Ich überquere die Straße und laufe mit weit ausgreifenden Schritten über die lockere Erde den Kanal entlang. Kilometerweit. Diese verbrauchte Erde, ihr Geruch. Eine Mischung aus Schlamm, Stadt, herbstlichem Nieselregen und, vor allem, tausend Blätterschichten. Eine pflanzliche Note, eine herbe Süße, ohne welche die Stadt nur Beton wäre.
Das Laufen gibt mir ein irres Gefühl von Freiheit. Ich komme überall hin. Ich erforsche die vergessenen Gebiete meines Lebens, ich sortiere die Gedanken nach Bequemlichkeit. Schwebend, verdrängt oder wiedergefunden sprudeln sie an jeder Straßenecke Kreuzbergs hervor. Denn wir beginnen einander gut zu kennen, diese, jene, ich.
Nach der Brücke und den Resten einer berühmten Mauer streichle ich einen anderen Arm des Kanals entlang, gesäumt von Kirschbäumen, übersät von hohlen Kastanien. In eine Halb-Ruhe getaucht sind zwei von Piratenfahnen flankierte Kähne neben einer Trauerweide vertäut. Ein metallener Fußabstreifer wurde aus Bierkronkorken hergestellt, die man nach Plan in die feuchte Erde gedrückt hat, sodass sie einen Anker formen. Im Vorbeilaufen steige ich mit der Ferse darauf und versenke ihn etwas tiefer im tausendjährigen Boden.
Interview mit der Autorin
Was bedeutet die Literatur für dich?
Mathilde Ramadier: Die Literatur ist für mich eine Notwendigkeit, eine Anwesenheit in der Welt. Ich habe es sicherlich gewählt, aus dem Schreiben meinen Beruf zu machen, ich habe dafür gekämpft, aber ich habe es niemals gewählt, zu schreiben. Ohne Literatur, ohne das Lesen wäre mir jede Fähigkeit der Sublimierung genommen, ich wäre wahrscheinlich unerträglich.
Was bedeuten für dich die Cafés?
MR: Die Cafés sind für mich der erste soziale Ort, derjenige, an dem man für die Dauer eines Glases am Tresen bei Null anfangen kann, dem Anderen begegnen, wer oder was auch immer das sein mag. Ich bin ein Nachtvogel. Ein Café, das wäre das erste, was ich schaffen würde, wenn ich in einem verlassenen Dorf ankäme.
Warum hast du die Bar Würgeengel gewählt?
MR: Der Würgeengel ist eine mythische Bar von Kreuzberg, in der man ausgezeichnete Cocktails zu trinken bekommt. Seine spezielle Aura, der Tresen aus Zink, der rote Samt, diese köstliche Mischung aus Geheimnis, Glamour und Antiquiertheit machen einen typischen Berliner Treffpunkt aus ihm.
Was machst du, wenn du nicht in den Cafés bist?
MR: Wenn ich nicht in den Cafés bin, trinke ich einen Kaffee zuhause, ich schreibe, lese, arbeite viel, ich sehe meinen Kindern beim Großwerden zu und von Zeit zu Zeit brechen wir in Richtung der Schönheit des Südens auf.
BIO
Die 1987 im Departement Drôme geborene Mathilde Ramadier ist Autorin von Essays und Graphic Novels. Die ausgebildete Philosophin und Psychoanalytikerin hat Paris vor zehn Jahren in Richtung Berlin verlassen. Ihre Bücher werden unter anderem bei den Verlagen Actes Sud, Futuropolis, Premier Parallèle, Dargaud und Seuil herausgegeben. Sie ist auch Übersetzerin aus dem Deutschen und dem Englischen. Sie schreibt für Philonomist, ein neues Medium des französischen Magazins „Philosophie“, produziert Podcasts und hält philosophische Vorträge.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/MathildeRamadier-Würgeengel-280-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-05-07 11:40:492022-05-07 11:40:49Mathilde Ramadier | Würgeengel, Berlin
Foto: Alain Barbero | Text: Assaf Alassaf | Freie Übersetzung: Rim George Hachicho & Daniela Gerlach
Und die Ampel ist rot (der Halt)
Ich stehe an der Verkehrsampel, warte zusammen mit den anderen, um die Seite zu wechseln, jene betrachtend, die mich in ihrem Warten umgeben: die junge Frau, die Griffe ihres Trolleys haltend, im Gespräch mit ihrer Freundin, der junge Mann mit orientalischen Gesichtszügen, der damit beschäftigt ist, auf sein Telefon zu schauen und seine Augen von Zeit zu Zeit auf die Ampel richtet, der große schlanke Mann in seinem eleganten Anzug, mit seiner schwarzen Ledertasche, der mit einer Handbewegung seine Armbanduhr unter dem Hemdsärmel hervorzieht, vier oder fünf Jugendliche mit ihren lauten Stimmen und ihrem Gelächter; wir teilen uns das gleiche Warten ohne uns über die vergehende Zeit zu beklagen.
Ich erinnere mich an die erste Zeit nach meiner Ankunft hier. Ich überquerte die Straße, das Rot ignorierend; aus keinem anderen Grund als dem der Weigerung, zu diesem Ort zu gehören, verstieß ich gegen seine unzähligen Regeln.
Das Überqueren der Straße war ein kleiner Test für das Ungleichgewicht in der Beziehung zwischen mir als Individuum und der Gemeinschaft, in der ich lebe, zwischen dem freien Willen und der Unterordnung unter das Gesetz der Gemeinschaft. In diesem Moment des Aufbegehrens wurde ein kleiner skandalöser Akt, wie die Straße zu überqueren und dabei die Ampel zu missachten oder achtlos eine Zigarettenkippe auf den Boden zu werfen, unbewusst zu einem Akt des Widerstandes gegen das wachsende Gefühl des Identitätsverlustes und gegen das Zerrinnen der eigenen Seele, sodass die Identifikation mit den anderen und der Umwelt erschwert, zu einem Stachel, wurde, der in die verwundete Identität stach und dieses verdammte Ungleichgewicht noch vertiefte.
Die Ampel hat uns noch keine Erlaubnis gegeben!
Ich erinnere mich an eine andere Art von Aufbegehren, die ich in einem seichten Film gesehen habe, der die Geschichte eines bösen Prinzen erzählt, der mit Gewalt und Zwang bekam, was er wollte: Geld und Macht, Frauen und Kinder. Aber in dem Moment, als er eine Frau wirklich liebt, identifiziert er sich mit der allgemeinen menschlichen Natur und wünscht sich, so wie die anderen zu sein, also jemand, der sich den Normen der Gemeinschaft unterwirft; und so bittet er die Frau um ihre Einwilligung, ihn zu heiraten und ihre Kinder zu legitimieren, was dann sein Freibrief auf dem Weg hin zur Zugehörigkeit zur Gruppe, zur Nation und zum Volk, ihren Bräuchen und ihren Gesetzen wäre.
Auf dem Höhepunkt des Films, als die Frau versucht, dem Prinzen zu entkommen, nähert sich ihr seine Mutter, eine Hexe, berührt deren Lende mit ihren Fingern und sagt zu ihrem Sohn: Nimm sie jetzt gegen ihren Willen. Sie hat ihren Eisprung und ist mehr als an jedem anderen Tag fruchtbar und bereit für die Schwangerschaft.
Die Ampel ist immer noch rot!
Mich hat immer die Fähigkeit einiger Menschen erstaunt, die Natur und die Lebewesen, ihre Tagesabläufe, ihr Verhalten und ihre Handlungen sowie ihre kleinen, kaum wahrnehmbaren Veränderungen detailliert zu beobachten, als ob sie ganz auf den verborgenen Rhythmus des Lebens lauschten; und sie gestalten aus ihren Lauten und ihrem Schweigen und dem kosmischen Wissen heraus etwas, womit sie die Welt, die Leute und ein Stück Zukunft lesen, fernab der Pseudowissenschaft, des okkulten Wissens „al-mandab“ und der Alchemie.
Meine deutsche Freundin liest Wolken und Winde und weiß, ob jene ferne Wolke Regen bringen wird oder nicht, wann sie kommt und wie lange es regnen wird, ganz ohne GPS oder Google-Wetter! Dieses Wissen hat sie aus ihren langen Beobachtungen von Wolken und Regen in ihrer kleinen Stadt gewonnen.
Meine Freundin sagt über ihren Vater: Er hat ein Auge, „das sich nicht täuscht“. Es bestimmt das Geschlecht des Fötus im Mutterleib, noch bevor es ein Arzt und ein Ultraschallgerät bestätigen.
In meinem Dorf Muhassan gab es Anfang des letzten Jahrhunderts einen kultivierten Mann, einen Führer, der Deir ez-Zor und die ganze syrische Wüste kannte; es genügte, ihm die Farbe des Erdbodens und die Form ihrer Bäume und Felsen zu beschreiben, um zu wissen, um welche Gegend es sich handelte. Er las die Sterne und Windrichtungen während der Jahreszeiten, um die Hirten zu ihren abgelegenen Weiden zu führen, um die Spur von verloren gegangenen Menschen und Vieh zu finden und sie zu ihren Familien zurückzubringen. Er starb in den frühen fünfziger Jahren, und dieses Jahr wurde nach ihm benannt (das Jahr des Ali Kusa)
Nach seinem Tod gab es niemanden mehr wie ihn.
Es tritt ein kurzes Schweigen ein, die beiden Freundinnen hören auf zu reden und blicken gemeinsam zur Ampel, der elegante Herr sieht alle zwei Sekunden auf seine Uhr, der Mann mit den orientalischen Zügen lässt seine Hand mit dem Telefon sinken, und auch die Jugendlichen sind verstummt und haben ihre Hände aus den Jackentaschen genommen, des Lärms und des Wartens überdrüssig geworden.
Ich nähere mich dem Bordstein und meine Füße nehmen schon den Farbwechsel der Ampel vorweg, endlich bewege ich mich fort zwischen den Passanten, die wieder in ihr Stimmengewirr verfallen, und ich erinnere mich, mitten auf der Straße, dass ich – als ich Kind war – einem dieser Wahrsager begegnete, der mir etwas prophezeite, was mir damals nicht gefiel. An jenem Tag nahm ich mir vor, hart daran zu arbeiten, dass seine Prophezeiung sich nicht erfüllt. Ich habe mit diesem Unterfangen über Jahre Erfolg gehabt, aber je weiter ich auf dem guten Weg voranschritt und ohne es zu beabsichtigen, habe ich auch andere Menschen enttäuscht, besonders andere Frauen.
Original (Arabisch)
Kurzinterview mit dem Autor
Was bedeutet Literatur für dich?
Assaf Alassaf: Die unilaterale Literatur war schon immer ein Mittel, dieser Welt um mich herum einen Sinn zu geben. Sie ist wie ein kleines Werkzeug, das sich in die komplexen und überlagerten Schichten des Lebens gräbt, um siezum Zweck der Betrachtung, Analyse, des Dialogs und des Verständnisses in Form von Fragen und Ideen an die Oberfläche zu holen; und zum anderen, um der heutigen Komplexität unseres Lebens und seines Drucks gegen einen scheinbar sicheren Raum – wo aber letztendlich die ganze Gefahr liegt – zu entfliehen.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AA: Um die Wahrheit zu sagen, ich habe eine kindliche und verträumte Vorstellung vom Café als alternativem Ort zum Zuhause und für eine kurze Zeit des Tages. Ein Ort, der es dem Individuum erlaubt, eine kleine Ecke zu finden, in der es sich nach Belieben einrichtet, wo es entdeckt, was es will und tut, was es will. Nach zahlreichen Erfahrungen und Besuchen in Cafés verschiedener Länder, scheint mir ein Gedanke die Zunge herauszustrecken und zeigt mir und meiner Wahrnehmung seinen ganzen Sarkasmus: Ihr geht hier an einen Ort, der nur von Vorübergehenden frequentiert wird.
Warum hast du das Eckkneipe-Café ausgewählt?
AA: Wenn die Corona-Pandemie die Welt geschlossen hat und uns in die Häuser ein-, mitsamt sozialer Distanz und Zoom-Meetings, dann hat sie leider und unglücklicherweise auch das Café in Kreuzberg geschlossen, in das ich früher gegangen bin. Also bin ich auf die nächstgelegene Alternative in meiner Umgebung ausgewichen – das war das Café Eckkneipe.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
AA: Ich habe viele Aufgaben und viel Verantwortung, die an mein Leben geknüpft sind: für meine Arbeit, die Familie und all die, die gerade in meinem Alltag wichtig sind. Und ich gehe dreimal pro Woche zum Volleyballspielen, das einen vorrangigen Platz in meiner Terminliste einnimmt.
BIO
Assaf Alassaf, geboren 1976 im syrischen Deir ez-Zor, studierte Zahnmedizin in Damaskus. Er arbeitete hauptberuflich als Zahnarzt und nebenbei als Journalist. Seit 2007 hat er zahlreiche Artikel in arabischen Tageszeitungen wie Al Hayat und Al Mustakbal veröffentlicht. 2013 zog er von Damaskus nach Nouakchott in Mauretanien, wo er als Zahnarzt tätig war, und 2014 nach Beirut, wo er in einem medizinischen Zentrum für syrische Flüchtlinge arbeitete. Heute wohnt er in Berlin. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Auf Facebook schreibt Assaf Alassaf seit 2013 literarische Anekdoten über die Revolution und den Krieg in seiner Heimat, über seine Reise nach Mauretanien, sein Leben im Libanon und die Zahnarztpraxis. Posts und Geschichten über „Abu Jürgen“, den deutschen Botschafter, entstanden in der Zeit zwischen November 2014 und Februar 2015 und wurden 2015 in der Übersetzung von Sandra Hetzl unter dem Titel „Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“ (Roman) im verlag mikrotext veröffentlicht. Anfang Januar 2016 erhielt er ein Stipendium für einen Gastaufenthalt im Literarischen Colloquium Berlin, von Mai bis Juli 2016 war er Stipendiat auf Schloss Solitude.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/AssafAlassaf-Eckkneipe-Post.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2022-04-09 08:47:442022-04-09 09:30:42Assaf Alassaf | Eckkneipe, Berlin
Das Café Strauss in Kreuzberg, in dem ich so viel Zeit verbracht habe, kommt mir ungeheuer weit weg vor, jetzt, wo ich in Tel Aviv-Jaffa lebe seit ein paar Monaten. Als wäre Berlin Lichtjahre entfernt und mit ihm der deutschsprachige Literaturbetrieb. Kann ich mich jetzt freischreiben von den Erwartungen, allen voran meinen eigenen? Sich in der Fremde neu erfinden, ist so ein Spruch, so eine Lüge. Und doch verändert einen jeder Ort, jede Begegnung und damit auch das eigene Schreiben und Lesen der Welt. In dem Viertel, in dem ich jetzt lebe, gibt es ein kleines Café, das auch eine Buchhandlung ist, die überschaubare Karte ist in hebräisch, arabisch und englisch. Die neue Sprache, die ich langsam lerne, läuft von rechts nach links, gegen meine gewohnte Leserichtung. Das neue Umfeld, mein Alltag, die Menschen, denen ich begegne, alles funktioniert gegenläufig zu meinen Gewohnheiten und Erwartungen, dabei dachte ich, dass ich kaum welche habe. Ich sitze an einem kleinen Tischchen, drehe die Tasse mit dem schwarzen Kaffee in meiner Hand im Uhrzeigersinn, um mich rauscht die Stadt, ihr wechselnder Rhythmus von Hektik und Trägheit. Im Café in Kreuzberg liegt wahrscheinlich Herbstlaub, riecht es nach Winter, läuten die Glocken zum Mittagsgebet. Hier riecht der Winter anders und doch ist er zu spüren, es gibt das Läuten der Glocken ebenso wie den Ruf des Muezzin. Noch weiß ich wenig, fast nichts. Es gibt die Bücher im Café, sie könnten ein Teil des Verstehens sein. Hier wie dort gibt es das Nachdenken, das Notieren, das Bildermachen. Zu Hause werde ich alles ins Reine schreiben.
Kurzinterview mit der Autorin
Was bedeutet Literatur für dich?
Sandra Gugić: Alles und manchmal nichts.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SG: Ein Ort des Sehens und Denkens. Ein Ort der Begegnung und des gemeinsam Alleinseins. Ein Ausgangspunkt.
Warum hast du Café Strauss ausgewählt?
SG: Das wird für mich immer ein sehr zentraler Ort in Berlin sein. Hier in der Nähe habe ich gelebt. Einige bedeutsame Begegnungen sind damit verbunden. Sogar in jenem Winter mit meinem Neugeborenen in der Trage war ich jeden Tag dort, hab meinen Becher mit frischem Kaffee füllen lassen bevor ich lange über den angrenzenden Friedhof spaziert bin – denn an innehalten war damals nicht zu denken.
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
SG: Alles andere. Was das Leben, mein Kind, meine Familie, meine Freund*innen und meine Arbeit von mir fordern.
BIO
Sandra Gugić, *1976 in Wien. Debütroman „Astronauten“ erschien 2015 im Verlag C.H. Beck und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 Lyrikdebüt „Protokolle der Gegenwart“ im Verlagshaus Berlin. Sie kuratiert und konzipiert Veranstaltungen. Mitbegründerin des Autor*innenkollektivs gegen Rechts „Nazis und Goldmund“ und des Kollektivs zum Thema Sorgearbeit vs. künstlerische Arbeit „Writing with Care / Rage“. 2019 Stipendium des Berliner Senats und Heinrich-Heine-Stipendium. 2020 erschien ihr zweiter Roman „Zorn und Stille“ bei Hoffmann und Campe. 2021 Niederösterreichischer Kulturpreis für Literatur. sandragugic.com
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/SandraGugic-CaféStrauss.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2021-12-18 13:35:422021-12-18 13:35:42Sandra Gugić | Café Strauss, Berlin
Es gibt diese Tagesanfänge, die du eintuppern möchtest, um sie präventiv neben der Vodkaflasche im Gefrierfach zu platzieren.
Diese Tagesanfänge, auf die sich Reize der Realität stürzen wie die Wespen auf ein süßes Frühstück, jetzt an einem sonnigen Cafétisch irgendwo in Berlin-Neukölln.
Genau dort lässt ein Paar dann eine Flasche Rotwein kurz vor 12 schon das zweite Mal zurückgehen. „Schmeckt einfach immer noch scheiße.“
Woraufhin wie zur Antwort ein eigenartig manisch-klares „IHR WISST ES DOCH EH – ICH HASSE EUCH ALLE“ aus der U-Bahn dringt.
Und während du noch sinnlos mit einer Hand wedelnd dein Croissant vor den Wespen verteidigst und mit der anderen Wespenkonfitüre auf deine Cappucinountertasse löffelst – stetig hektischer und mit Starrblick, als würdest du einen Schützengraben ausheben, packt dich irgendein Date oder Freund oder Familienmitglied, dem man zeigen will, wie geil alles gerade läuft, am Handgelenk und fragt ob „auch wirklich alles okay“ wäre.
Ja, denkst du dann später, und öffnest das Eisfach.
Kurzinterview mit dem Autor
Was bedeutet Literatur für dich?
Aron Boks: Literatur bedeutet für mich die Realität auszureizen. Mit der Realität klar zu kommen, könnte man auch sagen, aber das klingt immer so negativ.
Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AB: Cafés sind für mich Zwischenwelten. In diesen privat wirkenden Räumen versammeln sich lauter fremde Menschen und brechen kurz aus, aus ihrem Alltagsschutzgewand für die Straße, für den Bus oder für die U-Bahn. Reden vielleicht ein bisschen zu laut miteinander, oder starren irgendetwas stumm an. Dazu trinken sie etwas, das sie nicht im Haus haben und sich gerade bestellt haben. Dann kommt auch hier die Frage auf: Was hat das eigentlich für eine Bedeutung?
Das ist doch spannend.
Warum hast du Spitzenback ausgewählt?
AB: Dieser Backshop „Spitzenback“ liegt nur ein paar Fußschritte von meiner Wohnungstür in Berlin-Neukölln entfernt und irgendwie hatte ich seit meinem ersten morgendlichen Besuch dort diesen umgesteuerten, ganz unüblichen Mitteilungsdrang, befeuert von einer Mischung aus Koffein und eigener Morgenneugier.
Der Betreiber Joshua weiß dann als einer der ersten, wenn ich mich über irgendein Tagesereignis sorge, wenn ich verliebt bin oder auch nicht so recht weiß, was – aber das auf jeden Fall etwas los ist. Vielleicht auch nur das Wetter.
Und ich weiß Joshuas Antwort: „Noch einen Café Creme? Zum Hier trinken? Den Rest besprechen wir gleich.“
Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
AB: Dann erforsche ich den Tag und alles was damit zusammenhängt.
BIO
Aron Boks wurde 1997 in Wernigerode geboren. Als Slam-Poet bereist er die Bühnen des gesamten deutschsprachigen Raumes.
Er ist Mitbegründer der Spoken Word Band „Das Zappelnde Tanzorchester“ und schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine, wie z.B für die taz.
2019 erschien sein letztes Buch „Luft nach Unten“ – im selben Jahr erhielt er den Klopstock Förderpreis für Neue Literatur.
https://c.entropy.at/wp-content/uploads/AronBoks-Spitzenback.jpg9601440Alain Barberohttps://c.entropy.at/wp-content/uploads/entropy-logo.pngAlain Barbero2021-10-16 13:21:152021-10-16 13:21:15Aron Boks | Spitzenback, Berlin
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