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Brahim Saci | L’impondérable, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Brahim Saci | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Wenn es einen Ort gibt, der mir lieb und teuer, ja fast lebenswichtig, ist, dann ist es das Literatur-Café L’impondérable in Paris. Jeden Sonntag um 18 Uhr wird es zu einem Treffpunkt der Seelen, der Poesie, Musik, der Ideen. Es ist der Schriftsteller, Dichter, Journalist Youcef Zirem, der darin die Seele ist. Seine Energie, seine Menschlichkeit, machen aus diesem wöchentlichen Moment ein essentielles Atemholen, zusammen mit Mourad und Sofiane, den herzlichen Gastgebern des L’Impondérable, die uns mit besonderer Freundlichkeit empfangen. 

Die Atmosphäre da ist freundschaftlich, fast brüderlich. Der Austausch ist immer respektvoll, tiefgründig. Man redet dort über Literatur, die Künste, das Leben – und vor allem schreibt man dort. Es ist an diesem Ort, wo ich die Inspiration für den Großteil meiner zwanzig Gedichtbände gefunden habe. Oft bleibe ich spät in der Nacht am Tisch sitzen, einen kalt gewordenen Kaffee neben mir, und warte darauf, dass die Muse kommt und sich gegenüber setzt. Die Cafés sind für mich kreative Zufluchtsorte, Heimstätten des freien Denkens. 

Jeder Winkel des L’Impondérable scheint von wartenden Worten bewohnt zu sein.
Man hört dort Lachen, Verse, vielversprechende Stille.
Es ist ein Ort der lebendigen Erinnerung, aber auch der poetischen Zukunft.
Man begegnet dort den Stimmen, die von Woanders her kommen, gemischte Sprachen, sich vermischende Geschichten.
Es ist ein sanfter Widerstand gegen die Brutalität der Welt.
Eine Insel der Schönheit im Pariser Tumult.

In Paris, der Stadt der Dichter, haben die Cafés so viele Werke entstehen sehen. Verlaine, Aragon, Camus, Kateb Yacine …, alle haben an diesen belebten Orten geschrieben. L’Impondérable reiht sich in diese lebendige Tradition ein.
Es ist mehr als ein Café. Es ist ein Raum der Kreativität, der Freiheit, wo das Wort zirkuliert, wo die Stille inspiriert, wo die sich kreuzenden Blicke mehr als Worte sagen.
Dieses Café trage ich in mir. Es ist die Verlängerung meiner Stimme, meiner Texte, meines Seins. 

 


Interview mit dem Autor

Kann Literatur noch die Welt retten? 
Brahim Saci: Ja, sie kann nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Sie wird die Welt vielleicht nicht in einem konkreten Sinn retten, aber sie rettet die Geister. Lesen bedeutet lernen zu denken, zu zweifeln, zu fühlen. Literatur hilft uns, die Welt und andere besser zu verstehen. Sie weckt das Bewusstsein und bildet kritische Geister. Kinder ans Lesen zu gewöhnen bedeutet, ihnen innere Freiheit zu vermitteln, eine stille Kraft, um eine gerechtere Zukunft aufzubauen.

Hat das Café heute noch eine gesellschaftspolitische Bedeutung, und wenn ja, welche?
B.S: Ja, das Café ist nach wie vor ein Ort des freien Austauschs, ein Raum, in dem Ideen ungehindert zirkulieren können. Es ist ein Ort, an dem Masken fallen, an dem man diskutiert, teilt, zuhört. In einer zunehmend digitalen Welt sind Cafés nach wie vor physische Orte der sozialen Verbindung und des lebendigen Wortes. Sie bewahren sich ihre Funktion als Ideenschmiede, wie früher die literarischen Salons.

Wo fühlst du dich zu Hause? 
B.S: Ich fühle mich an Orten zu Hause, an denen ein Austausch stattfindet, da wo man ganz man selbst sein kann. Das kann in einem Café sein, in einem Buch oder in einem ehrlichen Gespräch. Es sind diese Freiräume, die mir das Gefühl geben, dazuzugehören.

 

BIO 

Brahim Saci ist ein französisch-kabylischer Schriftsteller, Journalist, Liedermacher. Geboren zwischen zwei Ufern, erforscht er in seinen Texten Exil, Liebe, Erinnerung und Freiheit. Als Autor von zwanzig Gedichtbänden ist er eine einzigartige und engagierte Stimme am Schnittpunkt der Kulturen. In der Pariser Literaturszene ist er sehr aktiv, er holt sich seine Inspiration in Cafés, vor allem im Literatur-Café L’Impondérable, wo er oft bis spät in die Nacht schreibt.  

 

Nika Pfeifer | Wiels’ CAFÉ, Brüssel

Foto: Alain Barbero | Text: Nika Pfeifer

 

Ein Ort tut so, als wäre er offen, und ist es! Das WIELS. Kein Museum, sondern ein Experimentierfeld, ein Möglichkeitsraum, eine ehemalige Brauerei, die sich weigert, bloß Vergangenheit zu sein. Die riesigen Kupferkessel glänzen immer noch. Nicht, um zu erinnern. Sie sind Oberfläche von etwas, das bleibt, ohne da zu sein. Im WIELS ist nichts einfach da und alles bleibt Spur. Man wird Teil dieses Spiels. Jeder Gang durch die Räume: eine Verschiebung. Jüngst bei Willem Oorebeek: Fantastisch! Wie er Buchstaben und Text in dreidimensionale, performative Medien verwandelt, künstlerische Objekte, die Schrift als Bild, Plastizität und Raum erlebbar machen, spiegeln (uns), was mit unseren Augen passiert, wenn wir Bilder en masse konsumieren. Seine BLACKOUT-Serien sind ästhetische Absperrung und Einladung zugleich: Schwarze Tintenfelder, durch die das Bild wie ein Schatten schimmert, es verschwindet nicht, es fordert Nähe: Komm näher, verändere deinen Standpunkt, dein Licht. Sehen wird zur Geste, Raumwahrnehmung zur Bewegung. Licht, Fläche, Konstruktion von Sichtbarkeit, alles wird Thema. Dies nur ein Mini-Eindruck von vielen Besuchen, DENN: Vor allem ist da das Café, das Interface im Erdgeschoss. Kaffee? Ja. Kaffee! Oder Tee. Manchmal Bier, ironiquement genoug. In dieser Architektur mit ihren irrsinnig hohen Fenstern, Licht in jeder Ritze, egal ob draußen Regen fällt oder Dunst hängt. Das Licht wirft immer wieder neue Winkel in den Raum. Die Suppe dampft, Eiswürfel klackern, der Raum erzeugt Resonanz, durch Lichtreflexe, Geräuschspuren, sachte Bewegungen. Tische laden zum Schreiben ein, Stühle zum Zuhören. Gedanken werden durch die Architektur geführt, abstrahieren, fragmentieren, setzen sich – und uns – neu zusammen. Das WIELS funktioniert, weil es Raum lässt. Für alles, auch für das, was man nicht gesucht hat. Und wenn man geht, nimmt man was mit: Bilder, Fragen, Ideen, Begegnungen, neue Freund*innen. Das WIELS bleibt die Bühne, auf der sich all dies abspielt. Bis auf montags. Da ist geschlossen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Nika Pfeifer: Hm, was kann Literatur…? Ich würde sagen: vieles, wenn nicht ALLES. Alles, was im Auge des Betrachters, der Betrachterin liegt. Niemand kann das wissen oder vorhersagen. Auf jeden Fall kann sie das, was hinter den Augen liegt, zum Leuchten bringen. Große Magie.

Ist das Café eher Rückzugsort, Ort der Sammlung oder Versammlung?
NP: Ein Rückzugssammlungversammlungsortortort, würd ich sagen. Alain hat mich nach meinem Lieblingscafé in Brüssel gefragt, und es sind mir so viele sensationelle Orte eingefallen, traditionelle Cafés, Bars, coole Kneipen, Brasséries, auf gut Wienerisch Beisln, dass die Wahl schwer fiel. Das Café WIELS habe ich gewählt, weil es einer meiner ersten Schreiborte in Brüssel war. Es kombiniert alles, was meine Gedanken in Bewegung setzt. Ein Möglichkeitsraum. Kein statisches Museum, sondern ein lebendiges Experiment, wo Kunst produziert und erlebt wird. Was ich daran mag: Es ist ein transformativer Ort. Er zeigt nicht nur, er tauscht aus.

Wo fühlst du dich zu Hause?
NP: Zwei Ideen:
zuhause: eine koordinate
aus sehnsucht & abwesenheit
Und:
„willkommen zuhause“
lese ich & frage mich wo
dieses zuhause eigentlich wohnt
PS: Sylvia Petter hat es so wunderbar in einem Kürzestgedicht formuliert:
I don’t belong,
I long to be.

 

BIO

Nika Pfeifer ist als Autorin und Künstlerin zwischen Wien, Brüssel und in internationalen Projekten tätig. Sie wurde u. a. mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet, war Max Kade Fellow in den USA und Gastdozentin an internationalen Universitäten. Pfeifer arbeitet an der Schnittstelle von Literatur, Kunst und Film; ihr Werk umfasst Lyrik, Prosa, Radioarbeiten und Kurzfilme. 2024 erschien ihr Lyrikband TIGER TOAST bei Ritter, begleitet von Publikationen in internationalen Zeitschriften und Anthologien.

Bénédicte Vidaillet | Tok’ici, Lille

Foto: Alain Barbero | Text: Bénédicte Vidaillet | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Im Tok’ici  („Hier klopfen“)

In dieser Welt der großen Machtverrückten – toqués au pouvoir – gibt es glücklicherweise das Tok.

Kochmützen – toques – sind hier zu finden. Keine mit Sternen übersäte, aber solche, die uns Sterne in die Augen treiben. Gefüllte Bao, Tahchin, Won-Ton-Suppe und Tarator-Sesamsauce, Cromesquís oder flämischer Waterzooi-Eintopf. Gib´s zu: dir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. 

Klopf-klopf – toque –, tritt ein. Kein Kamin, aber Lächeln, Begrüßung, ein Gläschen, ein paar Worte und oft mehr.

Und wenn du einen Fimmel hast – ein bisschen toqué bist –, kannst du deine Ticks, deine tocs, mit ins Tok schleppen. Richte deinen Barhocker genau über die Fugen der Bodenfliesen aus, überquere die Schwelle eher zweimal als einmal, bekreuzige dich vor jedem Schluck: Das verleiht dir nur Stil, man macht nicht viel Aufhebens davon.

Und aus – et tok!

 


Interview mit der Autorin

Aktivismus und Literatur – wie geht das bei dir zusammen?
Bénédicte Vidaillet: Mir gefällt nicht, was aus dieser Welt wird. Anstatt zu heulen oder allein wütend zu sein, bin ich aktiv und gründe Vereine, um zusammen mit anderen einen Park im Vorort und dann eine große Brachfläche im Zentrum von Lille vor einer verrückten Urbanisierung zu schützen, die uns und unsere Geschichten, unsere Erinnerungen und unsere sensiblen Bande mit unserem Lebensraum enteignen. Und die jeden Tag die lebendige Welt, tierische und pflanzliche, ein Stück mehr zerstört. Und ich schreibe: Manifeste, lautstarke Appelle, Essays. Schreiben und Handeln sind für mich eng miteinander verknüpft.

Was sind deine Ziele?
BV: Als Aktivisten versuchen wir, etwas anderes zu verteidigen und zu erfinden als die Stadt und das Leben, die die Vorschriften dieser Experten, die „zu unserem Wohl“ urbanisieren, uns zuweisen. Wir drücken unsere Suche nach einer Welt aus, die unseren Bestrebungen, Wünschen, unserem Bewusstsein, mehr entspricht. Eine Welt, die uns Lust auf das Leben macht, das wir mit unseren Körpern, unseren Sinnen und unserer Sensibilität bewohnen können.  

Wie soll die aussehen? 
BV: Im Grunde wollen wir die einfachen und wesentlichen Dinge: Luft zum Atmen, langfristig sauberes Trinkwasser, verschonte Böden, die uns ernähren, Schönheit; wir wollen in Reichweite unserer Schritte oder Fahrradreifen den Rhythmus der Natur spüren, einen Kohlkopf oder einen Baum wachsen sehen, staunen, uns treffen, diskutieren, lernen, Erfahrungen machen, in Bewegung sein. 

Uns lebendig fühlen. 

 

BIO

Ich liebe Wörter. Kein Wunder, dass ich Psychoanalytikerin geworden bin. Auch dass ich schreibe, Artikel, Bücher. Einige sind ins Italienische oder Englische übersetzt worden. Das letzte heißt: Pourquoi nous voulons tuer GretaNos raisons inconscientes de détruire le monde (Warum wir Greta töten wollen – Unsere unbewussten Gründe, die Welt zu zerstören, érès, 2023) 

Jean Portante | Café La Liberté, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Jean Portante | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In Luxemburg war ich ein eifriger Cafégänger. Es gab eins, das mythischste, in der Zwischenzeit verschwunden, das mein zweites Zuhause war, jeden Abend oder fast jeden, bis zum Morgengrauen; das Bier floss da in Strömen. Das war in den Siebziger Jahren. Es gab endlose Diskussionen zu führen. Nach unseren Träumen kam die Zukunft. Die Utopie in Reichweite der Wünsche. Liebeleien für eine Nacht keimten da auf und erstarben. Es hieß „Chez Malou“. Studierende, Künstler, Politiker, Anwälte vermischten sich dort. Ich habe dort meinen ersten Dichter getroffen: Edmond Dune.
Der Autor von „Je vous écris d’un café triste“. Ich denke oft an ihn. Der traurige Poet. Er ist es wohl, der mir den ersten Stupser gab, der mich hin zur Poesie trieb. Dann ging ich weg. Nach Paris. Ich wollte Dichter werden. Schriftsteller. Ich schrieb meine ersten Bücher. Danach die anderen. Aber ich brauchte keine Cafés mehr. Außerdem waren die legendären Orte im Niedergang. Es gab noch in den Achtziger Jahren das Saint-Claude auf dem Boulevard Saint-Germain, wo man Dichtern begegnen konnte, aber ganz schnell hat es einem Geschäft für schicke Kleidung Platz gemacht. In den anderen, Les Deux-Magots, le Flore, Lipp, La Closerie des Lilas trieben die Touristen die Preise in die Höhe. 
Und ich war ein Sans-le-sou, ohne einen Pfennig. Wie alle meine Dichter- und Künstlerfreunde. Man traf sich mal bei dem einen, mal beim anderen, trank Wein für drei Groschen, ins Café ging ich nur zu Verabredungen. Das Sarah Bernhardt vor allem, in Châtelet, denn alle Metros führten dorthin. La Liberté schließlich, an der Edgard Quinet, näher bei mir zu Hause. Da, wo Sartre am Ende seines Lebens hinging. Aber weder die Kellner noch die Kunden wissen das. Ich schon. Deswegen setze ich mich nie an den selben Tisch. Als wäre ich auf der Suche nach dem Stuhl, den er ausgewählt hätte. 

 


Interview mit dem Autor

Kann Literatur noch die Welt retten? 
Jean Portante: Die Literatur erzählt die Welt. Sie schafft eine Welt. Sie bereichert die Vorstellungskraft für die Welt. Aber gegen das Auseinanderdriften der Welt hat sie keine Waffen. Sie hat keine Waffen gegen die Kriege, die Hungersnöte, die Diktaturen, das Geld, den ethischen Bankrott, die Lüge, die Entmenschlichung, den zunehmend allgemeiner werdenden Sinnverlust … Ein Gedicht, ein Roman, eine Novelle, ein Theaterstück sind nur intime Momente, die sich an das Innerste des Lesers wenden, ihm Vergnügen bereiten, ihn manchmal warnen, ihm helfen zu verstehen, ihn menschlicher machen, ihm Horizonte eröffnen, aber an seiner sozialen Lage ändern sie nichts. Was ist eine Bibliothek wert gegen eine Bombe, die in Gaza, in der Ukraine oder anderswo auf das Gebäude fällt, das sie beherbergt. Wenn die Menschheit sich eine Zukunft geben will, muss sie eine soziale Utopie schaffen. Auf diesem Boden könnte die Literatur vielleicht ihre Samen pflanzen, aber ob sie die Zeit hat. Es gibt jetzt eine Dringlichkeit. Das Haus brennt schon.  

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JP: Ich weiß, dass es Schriftsteller gibt, die sich in die Ecke eines Cafés setzten, um Notizen zu machen, und sogar um zu schreiben, oder einfach, um ihrem Geist zu erlauben,  abzuschweifen,  ich nicht.  Beziehungsweise nicht mehr.  Oder nicht mehr in Paris.  Wenn ich woanders bin,  mache ich mich  systematisch  auf die  Suche  
nach den Cafés,  die andere Schriftsteller vor mir frequentiert haben.  Ich suche dort die Stadt zu lesen,  bevor ich sie mit Schritten durchmesse.  Und ich mache mir Notizen …

Wo fühlst du dich zu Hause?
JP: Um zu schreiben: bei mir, an meinem Schreibtisch, in Paris, umgeben von meinen Büchern. Ansonsten, auf der ganzen Welt.

 

BIO

Jean Portante wurde 1950 als Sohn italienischer Eltern in Differdange (Luxemburg) geboren. Er lebt in Paris. Sein reiches Werk, bestehend aus ungefähr fünfzig Büchern – Poesie, Romane, Essays, Theaterstücke – wurde weitgehend übersetzt. In Frankreich ist er Mitglied der Academie Mallarmé. 2003 erhielt er für sein Buch L’étrange langue den Prix Mallarmé. 2011 wurde er in Luxemburg mit dem Prix national geehrt. Seit 2018 schreibt er seine Bücher in zwei Sprachen, Französisch und Italienisch. Seit mehr als 30 Jahren übt er eine Tätigkeit als literarischer Übersetzer aus.

Marius Daniel Popescu | Café Romand, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Marius Daniel Popescu | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Du bist mehrere hundert Mal hier gewesen. Mit René-Luc, der dir von Gustave Roud erzählte, ihr habt Weißwein aus der Gegend getrunken. Mit Dominique, er erzählte dir von seinen Schülern und seinen Gedichten, ihr habt auf die Gesundheit aller Bewohner der Rue de Maupas angestoßen. Mit Marie-José, Sarah und Oana, ihr habt Fondue moitié-moitié gegessen und ihr seid zusammen größer geworden. Mit Michel und Véronique, ihr habt über Bücher und über das Schreiben gesprochen. Mit Pierre Louis, ihr seid von Zeit zu Zeit bis zur Sperrstunde geblieben. Mit François, da habt ihr über die Jagd gesprochen und Bier getrunken. Mit Jean-Christophe, ihr habt an eine nächste Nummer der Literaturzeitschrift « le persil » gedacht. Mit Daniel und Vincent, ihr habt Gedichte aus dem Alltagsleben aufgesagt. Mit Jean-Louis, genannt «Le Papillon» (der Schmetterling). Mit Béatrice, ihr habt der Welt die Finger und eure Augen gezeigt. Mit Isaac, ihr seid in euren News und Kurzgeschichten geschwommen. Mit Dominique und Véronique, ihr habt über die in einer Gitarre versteckten Worte gelächelt. Mit Victor, ihr habt mit Bob Dylan gelebt. Mit Francine, Ingrid, Robert und seiner Frau, mit Ramon, Philippe und Sergueï. Mit vielen anderen Frauen und Männern aus Lausanne und von anderswo. 

Du trittst ein, du hast zwei Plätze für mittags reserviert, du schaust ins Lokal, du siehst die Kellnerinnen und die Kellner hinten im Saal, du gehst zwischen den Tischen durch, du gehst auf sie zu, du grüsst sie, sie sagen «Guten Tag», eine der Kellnerinnen kümmert sich um dich, sie begleitet dich zu eurem Tisch, sie zeigt darauf, sie sagt «Hier ist es». 

Heute bist du mit Alain hier, ihr werdet Papet vaudois essen (würzige Würste auf Lauch und Kartoffeln an einer typischen Sauce), ihr werdet über euer Leben reden, über das, worauf ihr Lust habt, über eure m und eure d und eure i. Hier wird Alain von dir Fotos machen. Du wirst ihn anschauen: als nähmen Times New Roman, Calibri, Garamond und Bahnschrift zusammen ein Calamin-Bad. 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Marius Daniel Popescu: Leben erfassen Leben erschaffen Leben schenken Leben überraschen Leben denken Leben sehen Leben hören Leben vermitteln Leben vergehen lassen Leben bringen Leben lenken Leben zeigen Leben erfinden Leben weitergeben Leben überleben Leben gewinnen Leben verdienen Leben behalten Leben vervielfachen Leben hervorbringen Leben verstehen Leben nähren Leben ankurbeln Leben zur Blüte bringen Leben aussprechen Leben lang dauern  Leben fortsetzen Leben ankündigen Leben schützen Leben schreien Leben leben Leben lernen Leben lehren Leben erhalten Leben sichern Leben entwickeln Leben teilen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MDP: Allein sein und mit den andern sein. Allein sein. Mit den andern sein. Die anderen sein. Mich selbst sein. Ankommen. Sprechen. Schauen. Essen. Trinken. Sprechen. Schauen. Weggehen. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
MDP: In den Wohnungen und den Häusern. In den Cafés den Bars den Restaurants. Im Blick der anderen. In den Worten. In den Büchern. In den Träumen. In den Straßen. In den Wäldern. Auf den Feldern. In den Bussen Zügen U-Bahnen Flugzeugen. In meinem Gedächtnis. In den Wörtern. 

 

BIO

Marius Daniel Popescu wurde am 10. Juni 1963 in Rumänien geboren und lebt seit dem 01.08.1990 in der Schweiz. 
Als Lyriker und Romanautor französischer Sprache hat er zahlreiche Literaturpreise erhalten. Den Rilke-Preis, Sierre/Siders, 2006 für «Arrêts déplacés» (Editions Antipodes, Lausanne); den Walser-Preis Biel/Bienne für «La Symphonie du Loup» (Editions José Corti, Paris – deutsch von Michèle Zoller, Die Wolfssymphonie, Engeler, 2013); den Waadtländer Literaturpreis, Lausanne 2008; den Grand Prix Littéraire du Web, Paris, 2012; den Prix de l’Inaperçu, Paris, 2012; den Eidgenössischen Literaturpreis, Bern, 2012, für «Les Couleurs de l’hirondelle» (Editions José Corti, Paris, 2012, deutsch von Yla von Dach, Die Farben der Schwalbe, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2017).

Nora Bouazzouni | Café du Coin, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Nora Bouazzouni | Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

 

Ich mag das Gewirr der Stimmen in Bars, Cafés und Restaurants, weil es mein eigenes, mein inneres Stimmengewirr zum Schweigen bringt. Tagsüber würde es mich von der Arbeit abhalten – ich brauche Ruhe, um zu schreiben –, aber abends hält es mich vom Grübeln ab. Ich atme das Stimmengewirr ein, sauge es auf, es umhüllt und beruhigt mich. Andere meditieren, um den Kopf frei zu bekommen oder negative Gedanken zu vertreiben. Ich hingegen setze mich allein an die Bar, bestelle ein Glas Wein oder einen Negroni und höre hin. Jeder Ort hat sein eigenes Stimmengewirr, eine eigene akustische Signatur. Darum könnte ich die Geräusche meiner Lieblingsbars und -restaurants unter Tausenden wiedererkennen: das Geräusch der Zapfanlage, der sich öffnenden Kühlschränke, die Art, wie die Stimmen von den Wänden abprallen, sich Stühle und Hocker über den Boden schieben. Ich lausche den Gesprächen und Fragen der Kunden und Kundinnen, nehme Seitenblicke wahr, die verschränkten Arme, die hinters Ohr gekämmten Haare, die neuen Schuhe, den Lidstrich, die Bücher, in denen jemand blättert, während er auf eine Verabredung wartet. Ich versuche zu erraten, wer ein Kollege ist, wer eine Freundin, vielleicht auch Geliebte oder ein bereits Verliebter ist, der seine Frau betrügt; wer sich langweilt, wer nur auf der Durchreise ist in diesem Café, dieser Bar, diesem Restaurant, dieser Stadt, diesem Land. Ich höre alles, ich sehe alles. Ich werde unsichtbar.

 


Interview mit der Autorin

Wie können wir angesichts der Lage der Welt noch gemütlich in einem Café sitzen?
Nora Bouazzouni: Erlauben Sie mir, diese Frage mit einer anderen zu beantworten: Was würde sich an der (verzweifelten) Lage der Welt ändern, wenn wir aufhören würden, Cafés zu besuchen?

Cafés: Orte der sozialen Interaktion oder des reinen Konsums?
NB: Beides! Eine halbe Stunde lang an derselben ausgepressten Orange nippen; eine Vorspeise oder zwei Nachspeisen bestellen; seinen Kummer in Chenin Blanc ertränken … Das könnte man auch zu Hause tun, aber es würde sich anders anfühlen. Man geht in ein Café, um zu trinken oder zu essen, aber auch um zu sehen (oder gesehen zu werden), sich auszutauschen, zuzuhören, zu riechen … Die soziale Interaktion beginnt, sobald man durch die Tür tritt, unabhängig davon, ob man sich entscheidet, andere Gäste anzusprechen oder nicht.

Hat das Café heute noch eine soziopolitische Bedeutung? Wenn ja, welche?
NB: Cafés haben zahllose soziale und darum auch politische Funktionen: Sie durchbrechen die Isolation, fördern Begegnungen und Diskussionen … Sie sind Orte der Geselligkeit, der Pause oder des Feierns, aber auch der militanten Organisation und damit der politisch gefärbten Geselligkeit: Anfang des 20. Jahrhunderts trafen sich die Arbeiterbewegungen mangels geeigneter Räumlichkeiten in Cafés!

 

BIO 

Nora Bouazzouni, geboren 1986, lebt als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie beschäftigt sich in ihren Artikeln, Videos und Podcasts vor allem mit den Themen Ernährung, Gender und Serien. Ihr letztes Buch, „Violences en cuisine, une omerta à la française“, ist im Mai bei Stock erschienen. Außerdem hat sie drei Essays im Nouriturfu-Verlag veröffentlicht: „Mangez les riches – La lutte des classes passe par l’assiette“ (2023), „Steaksisme – En finir avec le mythe de la vege et du viandard“ (2021) und „Faiminisme – Quand le sexisme passe à table“ (2017).

Alexandre Caldara | Bistrot Chauffage Compris, Neuchâtel (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Caldara | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

zarte bruchstücke eines schweizerischen westerns im dämmerlicht 

der fotograf der unbekannte Barbero kommt um meine wenigkeit Caldara in meinem bistrot le chauffage compris* zu sondieren an diesem 14. januar in Neuchâtel erzählt er mir seine geschichte als kinofan als kinokind seine sicht auf den film mauvais sang** von léos carax trifft meine wenigkeit und flickt meine flüchtige kinoerfahrung das alles sickert schimmert durch in meinem bistrot und reaktiviert „stimmen alter kinofilme“ wie man sie gerade in mauvais sang hört 

oh geplagter leser 
lass dich mitreißen zu den zombie-zonen der theke so nehme ich meinen abdrift wieder auf an diesem 14. januar mein bistrot gedenkt seiner 30 jahre es präsentiert eine schiefertafel ein tagesmenue concassage von aromen zum anbeißen und da kommt der fotograf der unbekannte er spricht über sein leben bevor er bahnbeamter wurde der den dunklen kinosaal mehr liebt als die Schiene   

eines nachts als er mehr sieht

lässt er sich vom schrei des films mauvais sang durchdringen am nächsten morgen zittrig nach einer schlaflosen nacht macht er es sichtbar auf der schiefertafel seiner arbeitsstelle das beben die neuralgie er trägt mauvais sang in goldenen lettern ein das macht seine Kollegen sprachlos und katapultiert ihn auf die Schienen seines zukünftigen lebens als fotograf 

die beiden schiefertafeln die des chauffage compris und die des unbekannten fotografen stoßen zusammen

meine wenigkeit empfängt das alles über den körper und ich tanze im auge des objektivs der fotograf derjenige der mit einem kleinen digital-apparat verewigt und die tonnen von nostalgischen negativen in seinem schwarz-weiß-gepäck setzt eine bestimmte Geschwindigkeit in gang die die bewegung wieder aufnimmt 

die tafeln erhalten ihre eigenschaft als dunkle materie zurück meine wenigkeit denkt wieder an das bistrot le chauffage compris wo ich eine apfel-tarte gegessen habe sie hängt mir nach wie der film mauvais sang
das alles nur wegen mir
der fotograf Barbero und ich Caldara sind nun keine unbekannten mehr wir sind also jetzt verbunden verknotet befreit politisiert ästhetisiert durch das warme mauvais sang und die chauffage compris wo man zum teufel nicht friert
schließlich enthält mauvais sang eine anthologische szene einer rasierschaumschlacht feinfühlige hommage an den big shave von martin scorsese mein treffen mit Barbero ähnelt dem rasierschaum aus mauvais sang es tanzt fröhlich

*Heizung inbegriffen (Anm. Übers.)
**schlechtes/ böses Blut (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Alexandre Caldara: Sie beginnt, wenn sie sich vom Machtwort abwendet. Sie hält dem Lektüreverschlingen die Wange hin. Oder anders ausgedrückt, die wunderbare Nicht-Macht der Literatur erlaubt uns, „Die wilden Detektive“, eine leuchtende Romanhöhle, von Roberto Bolaño, im Gegenwind zu öffnen, egal auf welcher Seite, und dieses Gefühl zu spüren, das notwendig ist, um aus der Banalität auszubrechen. Dieser Hauch viszeraler Poesie. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AC: Ich empfinde Cafés wie Kokons, wie Sandburgen, wie Wartesäle, wie ein Aufenthalt. Die Bistrots, die ich mag, tragen ein Stückchen zerknitterte Anonymität in sich, das im Dialog mit der Masse steht.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AC: Allein indem ich die Gesellschaft anderer gründe. Im Angesicht zweier Flamenco-Gitarren, die meine Free Jazz-Bibliothek schützen. 

 

BIO

Alexandre Caldara, Poet, Performer, Journalist, geboren in Neuchâtel, 1977, lebt in dieser Stadt nach Umwegen über die Seine und den Ganges. Improvisator zerbrechlicher Silben auf der Zunge, schreibt er, seit er sich erinnern kann. Er veröffentlicht seit 2015 ein knappes Dutzend Werke, darunter L’Emacié, Volubiles Nudités und Mystère Bouffe bei edition Samizdat; Peseux Paterson bei D’autre Part; Demi-Nuit bei éditions A Côté de cela und Pulp Vendage bei éditions du Griffon. Die Zeitschrift Belles Lettres hat seine Beiträge über Dadaismus und die écrits bruts veröffentlicht. Seine Tanzbewegungen sind vor allem seiner regelmäßigen Beschäftigung mit Butoh und anderen würdigen Meistern des stillen Schreis wie Kazuo und Yoshito Ohno zu verdanken.     

Lauren Malka | Le Gourbi Palace, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Lauren Malka | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Als ich klein war, verliebte ich mich in die Schlingel. Aber was ich an ihnen mochte, war nicht ihre „Schurkenhaftigkeit“. Im Gegenteil, ich wollte sie auf sanfte Weise in flagranti erwischen und malte sie mir mit vor Anstrengung herausgestreckter Zunge akribisch aus.
Genau so habe ich mich in das Gourbi verliebt. Diese Spelunke, in der ich seit vielen Jahren, allein oder in Begleitung, die besten Momente meines Lebens verbringe. Es ist diese Mischung aus Verlassenheit und Sorgfalt. Die Stühle sind schlecht verkeilt, sie zerfallen fast unter unserem Hintern. 
Die Buchhaltung wird mit Bleistift (groß wie ein Kohlestift) in einem unleserlichen Notizbuch geführt. Aber ob die Bar nun leer oder zum Bersten voll ist, Alex wählt mit einer wahnsinnigen Hingabe die Musik aus, entschlossen, wirklich alle zu ergötzen. Und vor allem gibt es da diese Schiefertafel, die ich lächelnd betrachte, während Alain das Foto schießt, ungeduldig ihm zu sagen, was mich zum Lachen bringt (ich muss es ihm „in meinem Kopf“ sagen, hat er gemeint): Diese Tafel ist ein Juwel. Sie ist mit den einstudierten Rundungen einer Grundschullehrerin beschrieben.
Alex, der übergroße Sportklamotten trägt, der keinen Arzt aufsucht, wenn er sich den Fuß bricht, wird äußerst pedantisch, wenn er „hausgemachte Pommes“ auf die beiden Tafeln schreibt, die in seiner Bar hängen. Von Zeit zu Zeit, sagen wir einmal alle drei Monate, schafft er es, die Karte eines Chefs zu kreieren, auf der Pastinakencreme-Suppe, Seelachstartar oder Acras angeschlagen sind, alles von ihm selbst liebevoll zubereitet. Und während ich diese Tafel betrachte, hebe ich es mit für später auf, Alain zu fragen, warum sein Blog „Entropie“ heißt. Zeigt diese Tafel nicht auf das Schönste genau die „Negentropie“? Der Kampfbegriff gegen das Chaos und der spannungsgeladenen, auf das Leben gerichteten Dynamik? Alain weist mich darauf hin, dass ich die Stirn runzle. Ich muss wieder an die Lausbuben meiner Kindheit denken.  

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Lauren Malka: Die Literatur (und Gebäck) haben mir zum Beispiel ermöglicht, mit meiner Großmutter mütterlicherseits (die ich vergötterte) bis in die letzten Tagen ihres Lebens hinein zu diskutieren. Sogar, als sie den Verstand verlor und ich die Einzige war, die mit ihr kommunizieren konnte. Mein Zaubertrick war einfach: ein Roman, den sie auswendig kannte, aus dem ich ihr die ersten Zeilen vorlas, und ein mit Schokolade gefüllter Windbeutel. Von da an war meine Großmutter bei mir!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LM: Ich bin sehr wählerisch, was Cafés angeht. Normalerweise mag ich nur ein einziges während eines langen Zeitraums von sieben bis acht Jahren. Der Moment in der Woche, den ich am liebsten mag, ist der Freitag, wenn ich gerade auf die Person warte, mit der ich mein erstes Glas Wein trinken werde. Ich komme eine Stunde oder zwei Stunden vorher, um weiterzuarbeiten, aber auf eine mehr entspannte Art und Weise. Es ist, als wäre ich zu Hause geblieben und würde mich dehnen, indem ich meine Füße bis zu meinem Lieblings-Café hin ausstrecke. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
LM: Überall, wo ich eine Wärmflasche, ein Notizbuch habe, und wo ich mich zurückziehen kann, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden.

 

BIO

Lauren Malka, geboren 1983 in Paris, ist Autorin von Büchern, die wie Slow Food langsam „gekocht“ werden, das letzte Buch mit dem Titel „Mangeuses. Histoire de celles qui dévorent, savourent ou se privent à l’excès“ (bei Pérégrines). Geschrieben und mit realisiert hat sie auch den Dokumentarfilm „La France aux fourneaux“ (90 Minuten Archivmaterial, präsentiert von François Morel für France 5), eine Reihe von Erzählungen „Le lexique du dyslexique“ für Canal+, und sie hat drei Literatur-Podcasts ins Leben gerufen (für die Bibliothèque du Centre Pompidou, für Livres Hebdo und für l’école Les Mots).

Fanny Saintenoy | Les Pères Populaires, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Fanny Saintenoy | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Das Café Les pères populaires oder auch Les pères pop oder das PP, wie man hier im Viertel sagt, ist ein Zufluchtsort, eine Art Zweitwohnung, es ist ein Ort für Treffen und ein Schreibraum … Das « Les pères pop » trägt seinen Namen auf jeden Fall zu Recht, es ist ein geschützter und schlichter Ort.

Die Deko ist aus Ramsch und Trödel: alte, durchgesessene Sofas, Schulstühle, kleine rote Fliesen, ein Transistorradio und Bücher auf einem wackeligen Regal, eine Toilette mit tausend Graffitis. Leute arbeiten dort stundenlang, während man nur einen einzigen Kaffee trinkt, der früher nur einen Euro kostete (inzwischen 1,20). Auf der Terrasse ist Selbstbedienung und an Sommerabenden quillt der Bürgersteig an der Ecke der Straßen Buzenval und Grands Champs geradezu über.

Das PP ist tagsüber immer gut besucht, in der Woche und an den Wochenenden: Mütter, die gerade aus der Schule kommen, solche, die sich verlaufen haben, Junge und Alte, die die gleichen Lieder mitsingen, wenn sie über die Anlage laufen. Es gibt feste Gruppen, die zugleich offen sind, und man kann sich von einer zur anderen bewegen. Es ist der Treffpunkt für die lockeren Leute aus dem Viertel, bei Fußballspielen, Wahlen und all den Veranstaltungen, die uns zusammenführen. Das PP würde es sicher nicht unbedingt mögen, wenn man das so sagt, aber es ist zu einer Art Institution geworden.

Ich habe oft in diesem Café geschrieben und werde auch weiterhin hier schreiben, vor allem, wenn es mir zu Hause nicht gelingt; dann weiß ich, in diesem Raum, der manchmal laut und geruchsintensiv ist, kann ich neu beginnen. Dieser Ort ist vor allem der Ort der ersten Seite für ein neues Buch, eben das, was uns Autoren besonders viel Angst macht. Es ist das einzige Café in Paris, in dem ich jemals diese Notiz im Fenster gesehen habe: „Dieser Film oder jenes Buch wurde zum Teil hier geschrieben“.

Das Les Pères pop hat eine Seele, eine besondere Identität; ohne das PP wären wir in unserem Zuhause verloren.

 


Interview mit der Autorin

Kann Literatur die Welt noch retten? / Warum noch schreiben und lesen?
Fanny Saintenoy: Die Literatur wird, ebenso wie die Schönheit, die Welt nicht retten können. Angesichts der Übermacht der menschlichen Dummheit bedarf es viel mehr, und die Literatur allein wird kaum genügen, um die Welt zu retten. Dennoch kann die Literatur, ebenso wie die Musik oder die Malerei, bestimmte Orte oder auch Menschen, uns sehr helfen: sie kann nämlich diejenigen retten, die die Lust und das Bedürfnis haben, Schönheit zu erfahren und uns für einen Moment aus dieser Welt herausholen.
Das ist der Grund, warum wir lesen und immer noch schreiben. Wir lesen, um zu träumen, zu lernen, zu bewundern, zu staunen, zu lachen oder zu weinen, während wir uns in einer Blase befinden, die uns gleichzeitig die Welt besser verstehen lässt. Und ich denke, dass wir mit einer Art diffusen und verrückten Hoffnung schreiben, um an diesem Prozess teilzuhaben, dass wir einen Moment der Flucht und der Verbindung anbieten, der allein uns Autoren eigen ist.

Wo fühlst du dich zu Hause ?
FS: Ich habe eine ziemlich seltsame Beziehung zu dem Gefühl, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Wenn mir ein Ort auf Anhieb gefällt, manchmal sogar sehr gefällt, fühle ich mich dort sofort zu Hause. Ich fühle mich mit diesem Ort verbunden und denke manchmal (irrtümlicherweise, zumindest kommt es mir manchmal so vor), dass ich diesen Ort viel besser verstehe als die Menschen, die dort leben. Ich fühle mich zu Hause, sobald ich von einem Ort „gefangen“ werde. Das kann ein Land sein, wie Indien oder eine Stadt, wie Granada, ein Haus (in dem ich glaube, zehn Jahre lang gelebt zu haben), ein paar Berge oder selbst ein See.

 

BIO

Fanny Saintenoy begann erst spät mit der Literatur. Sie war Lehrerin für Französisch als Fremdsprache, Assistentin der Geschäftsleitung, in der Politik und in der Kultur tätig. Ginge es nach ihr, müsste die Arbeitswelt so organisiert sein, dass Raum für das Schreiben und Reisen bleibt, um Leser und andere Autoren zu treffen.
Seit 2011 hat sie vier Romane veröffentlicht, darunter ein Roman mit drei anderen befreundeten Autoren sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem SGDL-Preis ausgezeichnet wurde. Sie schreibt ebenso Gedichte, vornehmlich in Zusammenarbeit mit Fotografen.
Bibliographie:
Juste avant, 2011, éditions Flammarion, ins Hebräische übersetzt bei Keter Books
Qu4tre, 2013, éditions Fayard, mit Sébastien Marnier, Caroline Lunoir und Anne-Sophie Stefanini
Les Notes de la mousson, 2015, éditions Versilio
Jai dû vous croiser dans Paris, 2019, Parole éditions, Prix SGDL du recueil de nouvelles 2020
Les clés du couloir, 2023, éditions Arlea

Marcelle Ratafia | Le Buisson Ardent, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Marcelle Ratafia | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Bücher schreiben? Ich? Darauf hätte ich ja nie gewettet. Mein Arbeitsleben bestand aus Abenteuern, aus Zufällen, die mich von den Zeichenateliers in die Straßen des Montmartre, von einem Restaurant in der Avenue Georges V bis in den Lehrberuf brachten … Als ich, völlig unerwartet, dabei war, meine 30 Geburtstagskerzen auszublasen, kam die Buchbranche wie ein Schlag über mich. Wie hätte ich dieses ABC des Argot, mein Hätschelkind der Gossensprache schreiben können, wenn es nicht die Bistros gegeben hätte? Es ist im Mouffetard, wo ich, noch ganz absorbiert vom Schreiben ausgedachter Slang-Zitate, trödelte, um einen weiteren Kaffee zu bestellen. Es ist an der Theke des Verre à Pied, als ich an einem regnerischen Tag, an dem mein dunkler Zweiteiler sogar den Champion der Freude dazu gebracht hätte, sich zu erhängen, meinen Caoua* soff, während ich ohne eine Miene zu verziehen den witzigen Ausfällen der Stammkunden zuhörte, die so richtig in Schwung waren. Es ist unter den goldenen Lichtern des Louis-Philippe, im Schatten der ehrwürdigen Treppe, wo ich meinen Café crème auf das Wohl meiner ersten Verträge schlürfte. Und schließlich ist es im Schutz der Fresken aus dem Jahr 1900 meines geliebten Buisson Ardent, wo ich das Erscheinen dieses Buches feierte und anderer Bücher, die ich im Schatten der Ca-Feen weiterschreibe. Dort ist es, wo Alain, genau so eine Quasselstrippe wie ich, dieses Porträt von mir geschossen hat, während wir, ohne uns zu kennen, Paris, alte Filme, meine geliebten Bistros und die Kinos im Quartier Latin (ein weiterer strategischer Rückzugsort) durchhechelten. Mit seinem Blick eines Knirpses und seiner leidenschaftlichen Redseligkeit, ließ mich der listige Fotograf vergessen, dass er ja jenen nachdenklichen Ausdruck aufstöbern wollte. Zweifellos das typische Gesicht meiner anhaltenden Aufenthalte in meinem Wahlcafé, wo die Zeit wie Kaffee aus dem Perkolator fließt. 

*Caoua, aus dem Arab. „qahwa“ – Kaffee, etwa mit einem „kleinen Schwarzen“ vergleichbar

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Marcelle Ratafia: Auch wenn die Literatur leider nicht viel für den Weltfrieden tun kann, sie wird immer die Aufgabe haben, einen wegzutragen, unbedingt!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Ein Schlupfwinkel, ein Obdach, ein Lebensraum, ein Ort, der mich auf eine Weise schützt, dass ich meinerseits nicht wünsche, ihn entstellt zu sehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: An der Theke: das ist eine Pariser Eigenart, der Kaffee ist nicht teuer, man beobachtet die Bedienungen, die sich dort tummeln, die Leute, die vorbeigehen, während sie den frisch gemahlenen Kaffee riechen.

 

BIO

Marcelle Ratafia ist mit ihrer Leidenschaft für genießbare Etymologien Autorin, Journalistin und kulinarische Kritikerin.
Unter ihrem aus einem Lied der Négresses vertes entnommenen Pseudonym hat sie Les ABC de l’argot, du foot et de la mode geschrieben, bei Le Robert sind 150 drôles d’expressions de la cuisine und Parlons vin, parlons bien erschienen, für das sie 2023 den Preis Prix Curnonsky 2023 du vin erhielt. In der Branche nennt man sie La Bectance (die Fressalien/ evtl. die Futternde, Anm. der Übers.), also ist es besser, sie zum Abendessen im Porträt zu haben!