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Alexandre Caldara | Bistrot Chauffage Compris, Neuchâtel (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandre Caldara | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

zarte bruchstücke eines schweizerischen westerns im dämmerlicht 

der fotograf der unbekannte Barbero kommt um meine wenigkeit Caldara in meinem bistrot le chauffage compris* zu sondieren an diesem 14. januar in Neuchâtel erzählt er mir seine geschichte als kinofan als kinokind seine sicht auf den film mauvais sang** von léos carax trifft meine wenigkeit und flickt meine flüchtige kinoerfahrung das alles sickert schimmert durch in meinem bistrot und reaktiviert „stimmen alter kinofilme“ wie man sie gerade in mauvais sang hört 

oh geplagter leser 
lass dich mitreißen zu den zombie-zonen der theke so nehme ich meinen abdrift wieder auf an diesem 14. januar mein bistrot gedenkt seiner 30 jahre es präsentiert eine schiefertafel ein tagesmenue concassage von aromen zum anbeißen und da kommt der fotograf der unbekannte er spricht über sein leben bevor er bahnbeamter wurde der den dunklen kinosaal mehr liebt als die Schiene   

eines nachts als er mehr sieht

lässt er sich vom schrei des films mauvais sang durchdringen am nächsten morgen zittrig nach einer schlaflosen nacht macht er es sichtbar auf der schiefertafel seiner arbeitsstelle das beben die neuralgie er trägt mauvais sang in goldenen lettern ein das macht seine Kollegen sprachlos und katapultiert ihn auf die Schienen seines zukünftigen lebens als fotograf 

die beiden schiefertafeln die des chauffage compris und die des unbekannten fotografen stoßen zusammen

meine wenigkeit empfängt das alles über den körper und ich tanze im auge des objektivs der fotograf derjenige der mit einem kleinen digital-apparat verewigt und die tonnen von nostalgischen negativen in seinem schwarz-weiß-gepäck setzt eine bestimmte Geschwindigkeit in gang die die bewegung wieder aufnimmt 

die tafeln erhalten ihre eigenschaft als dunkle materie zurück meine wenigkeit denkt wieder an das bistrot le chauffage compris wo ich eine apfel-tarte gegessen habe sie hängt mir nach wie der film mauvais sang
das alles nur wegen mir
der fotograf Barbero und ich Caldara sind nun keine unbekannten mehr wir sind also jetzt verbunden verknotet befreit politisiert ästhetisiert durch das warme mauvais sang und die chauffage compris wo man zum teufel nicht friert
schließlich enthält mauvais sang eine anthologische szene einer rasierschaumschlacht feinfühlige hommage an den big shave von martin scorsese mein treffen mit Barbero ähnelt dem rasierschaum aus mauvais sang es tanzt fröhlich

*Heizung inbegriffen (Anm. Übers.)
**schlechtes/ böses Blut (Anm. Übers.)

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Alexandre Caldara: Sie beginnt, wenn sie sich vom Machtwort abwendet. Sie hält dem Lektüreverschlingen die Wange hin. Oder anders ausgedrückt, die wunderbare Nicht-Macht der Literatur erlaubt uns, „Die wilden Detektive“, eine leuchtende Romanhöhle, von Roberto Bolaño, im Gegenwind zu öffnen, egal auf welcher Seite, und dieses Gefühl zu spüren, das notwendig ist, um aus der Banalität auszubrechen. Dieser Hauch viszeraler Poesie. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
AC: Ich empfinde Cafés wie Kokons, wie Sandburgen, wie Wartesäle, wie ein Aufenthalt. Die Bistrots, die ich mag, tragen ein Stückchen zerknitterte Anonymität in sich, das im Dialog mit der Masse steht.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AC: Allein indem ich die Gesellschaft anderer gründe. Im Angesicht zweier Flamenco-Gitarren, die meine Free Jazz-Bibliothek schützen. 

 

BIO

Alexandre Caldara, Poet, Performer, Journalist, geboren in Neuchâtel, 1977, lebt in dieser Stadt nach Umwegen über die Seine und den Ganges. Improvisator zerbrechlicher Silben auf der Zunge, schreibt er, seit er sich erinnern kann. Er veröffentlicht seit 2015 ein knappes Dutzend Werke, darunter L’Emacié, Volubiles Nudités und Mystère Bouffe bei edition Samizdat; Peseux Paterson bei D’autre Part; Demi-Nuit bei éditions A Côté de cela und Pulp Vendage bei éditions du Griffon. Die Zeitschrift Belles Lettres hat seine Beiträge über Dadaismus und die écrits bruts veröffentlicht. Seine Tanzbewegungen sind vor allem seiner regelmäßigen Beschäftigung mit Butoh und anderen würdigen Meistern des stillen Schreis wie Kazuo und Yoshito Ohno zu verdanken.     

Lauren Malka | Le Gourbi Palace, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Lauren Malka | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Als ich klein war, verliebte ich mich in die Schlingel. Aber was ich an ihnen mochte, war nicht ihre „Schurkenhaftigkeit“. Im Gegenteil, ich wollte sie auf sanfte Weise in flagranti erwischen und malte sie mir mit vor Anstrengung herausgestreckter Zunge akribisch aus.
Genau so habe ich mich in das Gourbi verliebt. Diese Spelunke, in der ich seit vielen Jahren, allein oder in Begleitung, die besten Momente meines Lebens verbringe. Es ist diese Mischung aus Verlassenheit und Sorgfalt. Die Stühle sind schlecht verkeilt, sie zerfallen fast unter unserem Hintern. 
Die Buchhaltung wird mit Bleistift (groß wie ein Kohlestift) in einem unleserlichen Notizbuch geführt. Aber ob die Bar nun leer oder zum Bersten voll ist, Alex wählt mit einer wahnsinnigen Hingabe die Musik aus, entschlossen, wirklich alle zu ergötzen. Und vor allem gibt es da diese Schiefertafel, die ich lächelnd betrachte, während Alain das Foto schießt, ungeduldig ihm zu sagen, was mich zum Lachen bringt (ich muss es ihm „in meinem Kopf“ sagen, hat er gemeint): Diese Tafel ist ein Juwel. Sie ist mit den einstudierten Rundungen einer Grundschullehrerin beschrieben.
Alex, der übergroße Sportklamotten trägt, der keinen Arzt aufsucht, wenn er sich den Fuß bricht, wird äußerst pedantisch, wenn er „hausgemachte Pommes“ auf die beiden Tafeln schreibt, die in seiner Bar hängen. Von Zeit zu Zeit, sagen wir einmal alle drei Monate, schafft er es, die Karte eines Chefs zu kreieren, auf der Pastinakencreme-Suppe, Seelachstartar oder Acras angeschlagen sind, alles von ihm selbst liebevoll zubereitet. Und während ich diese Tafel betrachte, hebe ich es mit für später auf, Alain zu fragen, warum sein Blog „Entropie“ heißt. Zeigt diese Tafel nicht auf das Schönste genau die „Negentropie“? Der Kampfbegriff gegen das Chaos und der spannungsgeladenen, auf das Leben gerichteten Dynamik? Alain weist mich darauf hin, dass ich die Stirn runzle. Ich muss wieder an die Lausbuben meiner Kindheit denken.  

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Lauren Malka: Die Literatur (und Gebäck) haben mir zum Beispiel ermöglicht, mit meiner Großmutter mütterlicherseits (die ich vergötterte) bis in die letzten Tagen ihres Lebens hinein zu diskutieren. Sogar, als sie den Verstand verlor und ich die Einzige war, die mit ihr kommunizieren konnte. Mein Zaubertrick war einfach: ein Roman, den sie auswendig kannte, aus dem ich ihr die ersten Zeilen vorlas, und ein mit Schokolade gefüllter Windbeutel. Von da an war meine Großmutter bei mir!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
LM: Ich bin sehr wählerisch, was Cafés angeht. Normalerweise mag ich nur ein einziges während eines langen Zeitraums von sieben bis acht Jahren. Der Moment in der Woche, den ich am liebsten mag, ist der Freitag, wenn ich gerade auf die Person warte, mit der ich mein erstes Glas Wein trinken werde. Ich komme eine Stunde oder zwei Stunden vorher, um weiterzuarbeiten, aber auf eine mehr entspannte Art und Weise. Es ist, als wäre ich zu Hause geblieben und würde mich dehnen, indem ich meine Füße bis zu meinem Lieblings-Café hin ausstrecke. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
LM: Überall, wo ich eine Wärmflasche, ein Notizbuch habe, und wo ich mich zurückziehen kann, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden.

 

BIO

Lauren Malka, geboren 1983 in Paris, ist Autorin von Büchern, die wie Slow Food langsam „gekocht“ werden, das letzte Buch mit dem Titel „Mangeuses. Histoire de celles qui dévorent, savourent ou se privent à l’excès“ (bei Pérégrines). Geschrieben und mit realisiert hat sie auch den Dokumentarfilm „La France aux fourneaux“ (90 Minuten Archivmaterial, präsentiert von François Morel für France 5), eine Reihe von Erzählungen „Le lexique du dyslexique“ für Canal+, und sie hat drei Literatur-Podcasts ins Leben gerufen (für die Bibliothèque du Centre Pompidou, für Livres Hebdo und für l’école Les Mots).

Fanny Saintenoy | Les Pères Populaires, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Fanny Saintenoy | Übersetzung aus dem Französischen: Martina Jakobson

 

Das Café Les pères populaires oder auch Les pères pop oder das PP, wie man hier im Viertel sagt, ist ein Zufluchtsort, eine Art Zweitwohnung, es ist ein Ort für Treffen und ein Schreibraum … Das « Les pères pop » trägt seinen Namen auf jeden Fall zu Recht, es ist ein geschützter und schlichter Ort.

Die Deko ist aus Ramsch und Trödel: alte, durchgesessene Sofas, Schulstühle, kleine rote Fliesen, ein Transistorradio und Bücher auf einem wackeligen Regal, eine Toilette mit tausend Graffitis. Leute arbeiten dort stundenlang, während man nur einen einzigen Kaffee trinkt, der früher nur einen Euro kostete (inzwischen 1,20). Auf der Terrasse ist Selbstbedienung und an Sommerabenden quillt der Bürgersteig an der Ecke der Straßen Buzenval und Grands Champs geradezu über.

Das PP ist tagsüber immer gut besucht, in der Woche und an den Wochenenden: Mütter, die gerade aus der Schule kommen, solche, die sich verlaufen haben, Junge und Alte, die die gleichen Lieder mitsingen, wenn sie über die Anlage laufen. Es gibt feste Gruppen, die zugleich offen sind, und man kann sich von einer zur anderen bewegen. Es ist der Treffpunkt für die lockeren Leute aus dem Viertel, bei Fußballspielen, Wahlen und all den Veranstaltungen, die uns zusammenführen. Das PP würde es sicher nicht unbedingt mögen, wenn man das so sagt, aber es ist zu einer Art Institution geworden.

Ich habe oft in diesem Café geschrieben und werde auch weiterhin hier schreiben, vor allem, wenn es mir zu Hause nicht gelingt; dann weiß ich, in diesem Raum, der manchmal laut und geruchsintensiv ist, kann ich neu beginnen. Dieser Ort ist vor allem der Ort der ersten Seite für ein neues Buch, eben das, was uns Autoren besonders viel Angst macht. Es ist das einzige Café in Paris, in dem ich jemals diese Notiz im Fenster gesehen habe: „Dieser Film oder jenes Buch wurde zum Teil hier geschrieben“.

Das Les Pères pop hat eine Seele, eine besondere Identität; ohne das PP wären wir in unserem Zuhause verloren.

 


Interview mit der Autorin

Kann Literatur die Welt noch retten? / Warum noch schreiben und lesen?
Fanny Saintenoy: Die Literatur wird, ebenso wie die Schönheit, die Welt nicht retten können. Angesichts der Übermacht der menschlichen Dummheit bedarf es viel mehr, und die Literatur allein wird kaum genügen, um die Welt zu retten. Dennoch kann die Literatur, ebenso wie die Musik oder die Malerei, bestimmte Orte oder auch Menschen, uns sehr helfen: sie kann nämlich diejenigen retten, die die Lust und das Bedürfnis haben, Schönheit zu erfahren und uns für einen Moment aus dieser Welt herausholen.
Das ist der Grund, warum wir lesen und immer noch schreiben. Wir lesen, um zu träumen, zu lernen, zu bewundern, zu staunen, zu lachen oder zu weinen, während wir uns in einer Blase befinden, die uns gleichzeitig die Welt besser verstehen lässt. Und ich denke, dass wir mit einer Art diffusen und verrückten Hoffnung schreiben, um an diesem Prozess teilzuhaben, dass wir einen Moment der Flucht und der Verbindung anbieten, der allein uns Autoren eigen ist.

Wo fühlst du dich zu Hause ?
FS: Ich habe eine ziemlich seltsame Beziehung zu dem Gefühl, mich irgendwo zu Hause zu fühlen. Wenn mir ein Ort auf Anhieb gefällt, manchmal sogar sehr gefällt, fühle ich mich dort sofort zu Hause. Ich fühle mich mit diesem Ort verbunden und denke manchmal (irrtümlicherweise, zumindest kommt es mir manchmal so vor), dass ich diesen Ort viel besser verstehe als die Menschen, die dort leben. Ich fühle mich zu Hause, sobald ich von einem Ort „gefangen“ werde. Das kann ein Land sein, wie Indien oder eine Stadt, wie Granada, ein Haus (in dem ich glaube, zehn Jahre lang gelebt zu haben), ein paar Berge oder selbst ein See.

 

BIO

Fanny Saintenoy begann erst spät mit der Literatur. Sie war Lehrerin für Französisch als Fremdsprache, Assistentin der Geschäftsleitung, in der Politik und in der Kultur tätig. Ginge es nach ihr, müsste die Arbeitswelt so organisiert sein, dass Raum für das Schreiben und Reisen bleibt, um Leser und andere Autoren zu treffen.
Seit 2011 hat sie vier Romane veröffentlicht, darunter ein Roman mit drei anderen befreundeten Autoren sowie eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit dem SGDL-Preis ausgezeichnet wurde. Sie schreibt ebenso Gedichte, vornehmlich in Zusammenarbeit mit Fotografen.
Bibliographie:
Juste avant, 2011, éditions Flammarion, ins Hebräische übersetzt bei Keter Books
Qu4tre, 2013, éditions Fayard, mit Sébastien Marnier, Caroline Lunoir und Anne-Sophie Stefanini
Les Notes de la mousson, 2015, éditions Versilio
Jai dû vous croiser dans Paris, 2019, Parole éditions, Prix SGDL du recueil de nouvelles 2020
Les clés du couloir, 2023, éditions Arlea

Marcelle Ratafia | Le Buisson Ardent, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Marcelle Ratafia | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Bücher schreiben? Ich? Darauf hätte ich ja nie gewettet. Mein Arbeitsleben bestand aus Abenteuern, aus Zufällen, die mich von den Zeichenateliers in die Straßen des Montmartre, von einem Restaurant in der Avenue Georges V bis in den Lehrberuf brachten … Als ich, völlig unerwartet, dabei war, meine 30 Geburtstagskerzen auszublasen, kam die Buchbranche wie ein Schlag über mich. Wie hätte ich dieses ABC des Argot, mein Hätschelkind der Gossensprache schreiben können, wenn es nicht die Bistros gegeben hätte? Es ist im Mouffetard, wo ich, noch ganz absorbiert vom Schreiben ausgedachter Slang-Zitate, trödelte, um einen weiteren Kaffee zu bestellen. Es ist an der Theke des Verre à Pied, als ich an einem regnerischen Tag, an dem mein dunkler Zweiteiler sogar den Champion der Freude dazu gebracht hätte, sich zu erhängen, meinen Caoua* soff, während ich ohne eine Miene zu verziehen den witzigen Ausfällen der Stammkunden zuhörte, die so richtig in Schwung waren. Es ist unter den goldenen Lichtern des Louis-Philippe, im Schatten der ehrwürdigen Treppe, wo ich meinen Café crème auf das Wohl meiner ersten Verträge schlürfte. Und schließlich ist es im Schutz der Fresken aus dem Jahr 1900 meines geliebten Buisson Ardent, wo ich das Erscheinen dieses Buches feierte und anderer Bücher, die ich im Schatten der Ca-Feen weiterschreibe. Dort ist es, wo Alain, genau so eine Quasselstrippe wie ich, dieses Porträt von mir geschossen hat, während wir, ohne uns zu kennen, Paris, alte Filme, meine geliebten Bistros und die Kinos im Quartier Latin (ein weiterer strategischer Rückzugsort) durchhechelten. Mit seinem Blick eines Knirpses und seiner leidenschaftlichen Redseligkeit, ließ mich der listige Fotograf vergessen, dass er ja jenen nachdenklichen Ausdruck aufstöbern wollte. Zweifellos das typische Gesicht meiner anhaltenden Aufenthalte in meinem Wahlcafé, wo die Zeit wie Kaffee aus dem Perkolator fließt. 

*Caoua, aus dem Arab. „qahwa“ – Kaffee, etwa mit einem „kleinen Schwarzen“ vergleichbar

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Marcelle Ratafia: Auch wenn die Literatur leider nicht viel für den Weltfrieden tun kann, sie wird immer die Aufgabe haben, einen wegzutragen, unbedingt!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MR: Ein Schlupfwinkel, ein Obdach, ein Lebensraum, ein Ort, der mich auf eine Weise schützt, dass ich meinerseits nicht wünsche, ihn entstellt zu sehen.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MR: An der Theke: das ist eine Pariser Eigenart, der Kaffee ist nicht teuer, man beobachtet die Bedienungen, die sich dort tummeln, die Leute, die vorbeigehen, während sie den frisch gemahlenen Kaffee riechen.

 

BIO

Marcelle Ratafia ist mit ihrer Leidenschaft für genießbare Etymologien Autorin, Journalistin und kulinarische Kritikerin.
Unter ihrem aus einem Lied der Négresses vertes entnommenen Pseudonym hat sie Les ABC de l’argot, du foot et de la mode geschrieben, bei Le Robert sind 150 drôles d’expressions de la cuisine und Parlons vin, parlons bien erschienen, für das sie 2023 den Preis Prix Curnonsky 2023 du vin erhielt. In der Branche nennt man sie La Bectance (die Fressalien/ evtl. die Futternde, Anm. der Übers.), also ist es besser, sie zum Abendessen im Porträt zu haben!

Kersten Knipp | Café Bauturm, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Kersten Knipp

 

Und dann strömt diese Brise herein, nachmittags um vier, und mit ihr das Licht. Es gleitet heran über die breiten Rücken der Sonnenschirme draußen auf dem Bordstein, mühelos und spielerisch, hier oben, zwei Meter über dem Boden, ist nichts, was es aufhielte, und so umgibt es dich, nicht ohne sich mit dem Schatten des Raumes zu verweben, dessen eines Ende sich zur Straße hin öffnet, den Blick freigibt auf die Menschen etwas unter dir, die anderen Gäste an den Tischen draußen, während du selbst die paar Stufen nach oben genommen hast, in den höheren Teil des Cafés, an jenen zum Glück unbesetzten Platz, der dich immer in einen Zwiespalt stürzt, da du nicht weißt, wie dein Verhältnis zu den anderen Gästen ist: Bist du einer von ihnen, Teil der Masse in diesem Café, oder durch die leichte Erhöhung getrennt von ihnen, isoliert als sitzender Flaneur, die anderen im Blick, sich dessen bewusst und darum von ihnen getrennt? Dabei ist das Café Bauturm an der Aachener Straße ein fast schon zeitloser Ort der Kommunikation, Vorreiter und Schrittmacher jenes urbanen Lebensgefühls, das in Köln inzwischen (es war nicht immer so) selbstverständlich ist das Café und das ihm verbundene Theater: für dich Treffpunkt seit langer (nicht zu langer) Zeit, zugleich aber eben auch Ort, den anderen beim Leben zuzuschauen, etwas zu erhaschen von dem, was Gegenwart ist, was sie sein kann. All dies am liebsten, aber nicht nur im Sommer, wenn, wie du dir gerne einbildest, das Meer direkt um die Ecke ist, seine Brise heranweht, all die warme Luft, die doch nichts anderes ist als glühende Gegenwart. Das Café Bauturm, Ort des Schauens, des Empfindens, der Dankbarkeit. 

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Kersten Knipp: Literatur erschließt neue Welten. War da nicht gerade etwas auf der Seite: eine Idee, eine Empfindung, eine Andeutung? Ja, doch, und so lässt du dich treiben, in dem Text vor dir, in anderen Texten, die wiederum zu anderen führen, eine Reise auf alle Tage, Borges‘ „Unendliche Bibliothek“. Literatur, ein warmer Hauch – vielleicht der Ewigkeit?

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
KK: Du sitzt, du trinkst und du schaust. Du saugst die Welt auf, Gesichter, Bewegungen, Verhaltensweisen. Im Café bündelt sich die Zeit, hier kannst du sie beobachten, ihren Geist schnuppern. Da weht etwas durch die Luft, der Hauch des Kaffees, aber auch noch ein anderer. Das Café ist Begegnung, mit was und wem auch immer.

Wo fühlst du dich zu Hause?
KK: Ein Haus: ein durch Wände abgeschiedener Raum. Nimmst du das wörtlich, fühlst du dich zuhause an deinem Schreibtisch: abgeschieden, allein mit dir und deinen Büchern, ein stummer Dialog. Am Schreibtisch entsteht etwas Neues. Und ist das nicht das Wichtigste an vertrauten Orten: Dass du in ihnen etwas Neues schaffst?

 

BIO

In erster Linie wahrscheinlich Romanist, den romanischen Ländern auf der Spur, dem, was sie mit Deutschland, ihre Vergangenheit mit unserer Gegenwart verbindet. Hoffnung: Wir sind verbunden durch die Eleganz, deren Pariser Ursprüngen ich zuletzt ein Buch gewidmet habe („Die Erfindung der Eleganz“, 2022); auch durch die Kunst des Gesprächs, der ich ebenfalls nachgespürt habe („Im Gespräch“, 2024)

Alexandra Badea | Brasserie Au Comptoir, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Alexandra Badea | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Ich schreibe gerne in Cafés. Textschnipsel, Gedankenschnipsel. In die Notiz-Funktion meines Smartphones oder in die kleinen Hefte, die sich in meine Taschen verirren. Ich stelle meinen Computer nicht mehr auf die Café-Tische, dieses Terrain bewahre ich mir allein für das Umherschweifen und das Konstruieren zukünftiger Projekte auf. Die letzten Notizen, die ich in diesem Café geschrieben habe, sind hier: 
„Die Frage, die sich heute stellt, ist einfach. Was tun? Was können wir tun, wir, als Bürgerinnen und Bürger im alltäglichen Leben, um durch unsere Taten und Worte ein anderes Narrativ zu schreiben? Wenn wir überhaupt kein Vertrauen mehr in die politischen Vertreter haben, die wir kennen, die uns verraten haben, die die Situation eskalieren ließen, damit es zu diesem Aufstieg der extremen Rechten kommt, was bleibt uns da noch zu tun? Außer unserer Stimmabgabe? Reicht das in einem solchen Kontext noch? Es gibt gewichtige Stimmen unter den Intellektuellen, Künstlern, Aktivisten, die eine andere Weltsicht anbieten, die Denkweisen, Debatten und eine Dialektik entwickeln, aber diese Sprache wird nicht genug gewürdigt, der faschistische Diskurs hat mehr Resonanzraum, mehr mediale Oberfläche. Mehr denn je müssen wir das Wort ergreifen und uns Gehör verschaffen.
Noch können wir miteinander reden, auf diejenigen zugehen, die nicht wie wir denken, ihnen zuhören, um diese manipulativen Diskurse zu demontieren, diejenigen überzeugen, die zögern, ohne sich ihnen gegenüber als Belehrende zu positionieren. Wir dürfen nicht darauf verzichten, Gedanken zu erschaffen, auch wenn wir Gegenwind haben. Wir dürfen nicht aufgeben. Nicht jetzt. Vor allem, nicht jetzt.“

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Alexandra Badea: Eine andere Vorstellungswelt schaffen, Klischees und Gemeinplätze umkehren, Gedankengerüste bauen, Emotionen erzeugen, heilen.

Was bedeuten Cafés für dich?
AB: Es sind Orte, wo ich in meinem Kopf auf Reisen gehe, eine Pause einlege, gedanklich umherziehe, über das Leben Unbekannter phantasiere, organisiere, was ich noch zu tun habe.

Wo fühlst du dich zu Hause?
AB: Überall, wo ich schreiben oder mich ins Imaginäre flüchten kann. Auch, oder besonders, in Hotelzimmern, Flughafenhallen, Zügen, Schiffen, Parks, an Stränden, auf Waldwegen.

 

BIO

Alexandra Badea, in Rumänien geboren, ist Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Filmemacherin. Ihre Stücke werden bei L’Arche Éditeur veröffentlicht und in Frankreich von ihr selbst, aber auch von anderen Regisseuren inszeniert und in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist außerdem Autorin zweier Romane – Zone d’amour prioritaire und Tu marches au bord du monde. 2013 erhält sie den Grand Prix de Littérature dramatique für ihr Stück Pulvérisés. Und 2023 den Prix du Théâtre de l’Académie française für ihr Gesamtwerk. Sie ist Chevalière de l’ordre des Arts et des Lettres (Ritterin des Ordens der Künste und der Literatur)

Jürgen Heimlich | Konditorei Oberlaa am Zentralfriedhof, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Jürgen Heimlich

 

15. November 2024
Vor 14 Tagen wurde der Zentralfriedhof 150 Jahre alt. Und heute sitze ich mit Alain im Friedhofscafé. Er war bereits vor mir da. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Einige Minuten tauschen wir uns ungezwungen aus. Alain erzählt mir von der Entstehungsgeschichte des Café Entropy. Er nippt an einer Tasse heißer Schokolade und ich an einer Schale grünem Tee. Dann zückt er seine Leica-Kamera und nimmt mich ins Visier. Er fotografiert mich in den Raum hinein. Ich neige den Kopf nach rechts und schaue aus dem Fenster. Ich sehe einen winzigen Ausschnitt des Zentralfriedhofs. Den Beginn des Hauptweges, der vom Eingang des 2. Tores zur Friedhofskirche und darüber hinaus führt. Und einen Teil der Outdoor-Galerie, die Tierfotos präsentiert. Im Außenbereich des Cafés sitzt heute niemand. Dafür ist es zu kalt. Im Frühling und im Sommer sitze ich dort gerne. Ich treffe mich gerne mit Menschen, die Friedhöfe lieben. Und dann erzählen wir von unseren Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Friedhöfe. Alain ersucht mich, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Er betätigt viele Male den Auslöser. Ich schaue auf die leicht befleckte Wand, fokussiere das struppige Haar von Alain, denke, wie von ihm angeregt, an ein Projekt, das vor mir liegt. Wenn er Gedanken lesen könnte, wüsste er, dass es um den Tod gehen soll. Alain bringt mich aber auch zum Lachen. Das ist wie Magie. Es passiert wie von selbst. Wir unterhalten uns mit der Kellnerin.  Große und kleinere Menschen setzen sich an den Nebentisch. Eine kleinere Frau lächelt mir zu. Schließlich könnten sich die Wege von Alain und mir schon trennen. Doch wir gehen dann noch zur Straßenbahn, fahren ein paar Stationen gemeinsam und verabschieden uns, bevor Alain aussteigt. Eine Begegnung am Zentralfriedhof, die mir in Erinnerung bleiben wird. 

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Jürgen Heimlich: Literatur kann bezaubern, verstören, Erinnerungen hervorrufen, Kontakt zu fremden und bekannten Welten schaffen, die Welt auf den Kopf und richtig stellen. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
JH: Cafés sind Orte der Inspiration und des Dialogs. Cafés laden mich ein, immer wieder neu entdeckt zu werden. Cafés haben eine Geschichte, die alle Gäste und somit auch ich mitschreiben. Cafés lassen mich durchatmen und Kräfte bündeln. Cafés lassen mich nie kalt. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
JH: Dort, wo ich mit Menschen und der Natur verbunden bin. Dort, wo ich mit Tieren und Menschen kommuniziere. Dort, wo ich außer mir bin. Dort, wo mich Kunst in ihren Bann zieht. Dort, wo ich mich selbst vergesse. Dort, wo ich Wundern begegne, die sich als Zufall tarnen.

 

BIO

Jürgen Heimlich, geboren 1971 in Wien. Verlagsausbildung, die das Interesse für Literatur gestärkt hat. Autor, Schriftsteller, Redakteur und passionierter Friedhofsgänger. Seit 2016 engagiert er sich für die Einfache Sprache als literarisches Genre und seitdem lässt ihn auch das Thema Widerstand gegen das NS-Regime nicht los. 
Jüngste Veröffentlichungen: Einer und Keiner von 600 Hingerichteten, Mitherausgeber, Innsalz, 2021, Blumfeld und der Tod, zwei Erzählungen mit Comic-Skizzen von Thomas Fatzinek, Buchschmiede, 2024 

Günter Vallaster | Gasthaus Automat Welt, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Günter Vallaster

 

Der Prager Palast Welt (Palác Svět), in Stahlbeton gegossene konstruktivistische Geradlinigkeit und Multifunktionalität, ist ein Gebäude wie ein großes H. Darin befanden sich u.a. das Kino Welt und das Selbstbedienungslokal Automat Welt, in dem sich oft ein großes H der Weltliteratur aufhielt: Bohumil Hrabal. 
In Prag seit Jahrzehnten hinter Bretterverschlägen verborgen und dem Verfall preisgegeben, kann man Georg Aichmayr nur dazu gratulieren, das Automat Welt als Reverenz an Hrabal in Wien wieder aufleben zu lassen, womit er eine perfekte Verbindung von Café, Restaurant und Literatur schafft. Hier kann und möchte ich nur ein Platzhalter sein, mit kleinem h mitten im Wort, für viele weitere literaturaffine Gäst*innen. 
Und auch wenn ich mal alleine hingehe: Wenigstens Hrabal ist immer da. Oder in Abwandlung eines Zitats von Bohumil Hrabal aus seiner Kurzgeschichte Automat Welt, das darin gleichsam wie auf Knopfdruck mehrfach geloopt ist:
Und vom Volkertmarkt drangen fröhliche Musik und Stimmgewirr, das in unbändiges Gelächter überging, ins Gasthaus Automat Welt herüber.

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Günter Vallaster: Literatur kann helfen, über den Tellerrand zu blicken, alle Tassen im Schrank zu behalten, um am Ende die Löffel sauber poliert abzugeben. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
GV: Thermodynamische Entropie, also behagliche Gemütlichkeit, die sich beim Betreten eines Cafés wie dem Automat Welt sofort ausdehnt sowie informationstheoretische Entropie, also Informationsgehalt aus der Geräuschkulisse und den Gesprächsfetzen isolieren, nach der Formel Wos? x Ha? / Bitte. 

Wo fühlst du dich zuhause?
GV: In einem guten Buch, bei guter Kunst, guter Musik, bei einem guten Essen, einem guten Gespräch. Also bei allem Guten, gerne auch in einem guten Café. 

 

BIO

Günter Vallaster lebt und arbeitet als Autor, Herausgeber, Sprachkursleiter und Schreibpädagoge in Wien. Zuletzt erschien der Beitrag Megaprompts in V#40 – Ach, KI! (Literatur Vorarlberg, 2024).

François Debluë | Brasserie La Coupole 1912, Vevey (Schweiz)

Foto: Alain Barbero | Text: François Debluë | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach 

 

Am Tisch nebenan

 

Am Tisch nebenan diskutiert ein junges Paar heute Morgen nicht über Gott und die Welt, sondern über ihr Leben als Paar in einem Moment, da dieses wohl auseinanderzubrechen droht.
Das errate ich am Ton des Wortwechsels, an den Argumenten, die brockenweise zu mir herüberdringen. 
Ich spitze nicht die Ohren, möchte nicht indiskret sein, aber nun ja, das Café ist von bescheidener Grösse, die Tische stehen nah beieinander und die beiden sprechen laut genug, um mich daran zu hindern zu lesen, was ich lesen möchte: » – Ich, sagt er, bin bereit zu…  – Du musst verstehen, dass…, entgegnet sie – Ja, aber ich habe keine Wahl… – Und ich will dich nicht belügen…«
Die Einzelheiten verlieren sich im Gemurmel von ringsum und man nimmt seine Lektüre wieder auf oder tut wenigstens so. 

An einem anderen Tisch pendelt eine Frau, allein, zwischen ihrem Computer und dem Smartphone hin und her. 
Der männliche Teil des Paars hat inzwischen schärfere Töne angeschlagen, er spricht jetzt vom Fünfer und vom Weggli, will sagen man könne nicht alles haben. 
Weiter weg sitzen zwei Frauen sich gegenüber, durch die Bildschirme ihrer Compis getrennt, und sagen kein Wort, jede in ihre eigene Welt und ihr Ding versunken. 
Gleich neben mir rechts kratzt sich ein Mann an der Nase, sitzt in schweigendem Nachsinnen da, vor sich eine zusammengefaltete Zeitung, deren Lektüre ihn vielleicht bedrückt hat, es sei denn, dass er noch gar nicht damit begonnen hat. 

Das ist es, was uns die Cafés der Welt und insbesondere dieses hier heute Morgen zu bieten haben: Fragmente lebendigen Lebens, Zwiegespräche, Begegnungen oder Kostproben bitterer Einsamkeiten. 

Die Café-Zeit ist auch dies: Zeit, um zur Ruhe zu kommen, die nötigen Kräfte zu sammeln, um die grossen und kleinen Geschäfte des Tages weiterzuverfolgen.

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
François Debluë: Sie kennt zur Genüge ihre Ohnmacht angesichts des Bösen, der Gewalt, der Ungerechtigkeit.
Manchmal hat sie indessen die Pflicht, Zeugnis abzulegen. 
Ich arbeite im Moment an Gedichten in Zeiten des Kriegs, nachdem ich unlängst Dreiunddreissig Gedichte in Zeiten einer Pandemie veröffentlicht habe. Ich weiss, wie lächerlich ein solches Vorhaben ist. Aber habe ich die Wahl? Würde ich schweigen, hätte ich ein schlechtes Gewissen, mehr noch als beim Schreiben dieser Zeilen. 
Immerhin kommt es auch vor, dass ich die Schönheit der Welt, die Schönheit einer menschlichen Beziehung, die Schönheit eines Kunstwerks besinge. 

Es handelt sich hier um ein konkretes Vorgehen, nicht um eine Literaturtheorie  

Wie wichtig sind Cafés für dich? 
FD: Ich besuche sie gelegentlich. Nur ab und zu. Aus Naschhaftigkeit. Aber auch, weil ich die Nähe der Männer und Frauen um mich herum geniesse. Ich beobachte sie, höre ihnen zu… 
Im Gegensatz zu Georges Haldas mit seiner Légende des Cafés, der fast ausschliesslich in den Cafés schrieb, schreibe ich hier kaum. Ich bin lieber in meiner Zelle zuhause, vor Lärm und Blicken geschützt und inmitten meiner Bücher. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
FD: Bei mir zuhause. Aber auch auf der Bühne der Welt, in Buchhandlungen, in Konzert- oder Theatersälen.

 

BIO

François Debluë kam 1950 in der Nähe von Lausanne (Schweiz) zur Welt. Er hat Prosawerke, Erzählungen, Reflexionen und zahlreiche Gedichtbände veröffentlich. Dazu gehören: Conversation avec Rembrandt, Pour une part d’enfance (Gedichte, auszugsweise in der Übersetzung von Yla von Dach veröffentlicht im Jahrbuch der Schweizer Literaturen viceversa 17 unter dem Titel: Der Kindheit in dir, Rotpunktverlag Zürich, 2023), La seconde mort de Lazare, Schweizer Literaturpreis 2020 oder Le livre des reflets et des ombres. In der Übersetzung von Yla von Dach ist 1993 auch sein Prosatext Troubles Fêtes – Jubel Trubel – erschienen (Benziger, Zürich). Für sein Gesamtwerk wurde er mit dem Schiller Preis und dem Edouard-Rod-Preis ausgezeichnet. 

Claudia Kiefer | Café Sehnsucht, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Claudia Kiefer

 

Im Zwischenort, im Zug von Heidelberg nach Köln, schwebe ich frei, in den Wänden der Schiefernfelsen sitzen die Elfen. Fast hätte ich vor lauter Träumerei die Loreley verpasst, ich hatte mich auf die Durchsage im Zug verlassen, aber das hier ist nicht die See.
Köln am Rhein, ein Viertel vom Tag später. Dort ein Weg: vorbei an einem Fernsehturm, an Fußballplätzen, Betonwänden, an Parks. Stehenbleiben am Seerosenteich.
Die Stadt erinnert sich an mich, bestimmt. Es haften Sticker an den Wegmarken. Gesichtserkennung. Fußabdrücke auf Brücke. Et voilà …das Leben!
Unter dem Blätterdach der riesigen Bäume atme ich ein. Die Sonne zeichnet Figuren von Blättern auf nacktem Arm. Tattoos. Ich schließe meine Augen. KOMOREBI.

„Bird’s don’t fly“, wieder das Lied im Ohr, „I lost my shoes, I’m moving still” singe ich.
Plötzlich vor mir ein Baum, diese Schönheit zwischen den Häusern, ich gehe über einen gelben Teppich aus Blütenstaub.
Dann die Verortung: Körnerstraße, Köln-Ehrenfeld, im August.
Ich bin da. Café Sehnsucht. An einem Tisch neben dem alten Ofen wartet jemand auf mich, an der Wand hängen blau-weiß gemusterte Fliesen, oben ein Deckenpropeller, Wände stellen sich im Antikblau vor, eine Gans schaut belustigt aus dem Bilderrahmen. Ich denke an meine Großeltern und erzähle von früher.
Die nette Dame fragt, was ich mag. Es ist, als hätte sie auf mich gewartet. Sie trägt eine Leichtigkeit und Freundlichkeit auf dem Tablett. 1 x Lächeln. 2 x Lächeln. Echo. Vor mir baut sich ein Stillleben aus frischen Blumen und gut duftendem Café auf.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Claudia Kiefer: Sie kann alles, wenn sie will, Menschen retten, ja sogar die Welt, dich glücklich machen, umarmen, dich zum Tee bitten. Genauso gut kann sie dich aber auch vor die Tür werfen oder erschüttern, dich in den Regen stellen oder deine Träume übernehmen.
Vor allem aber kann sie Vermittlerin sein, Übersetzerin, sie kann dabei helfen, einander besser zu verstehen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
CK: Ein Café ist für mich die erste Anlaufstelle in jedem Ort der Welt, ich kenne diesen Ort als warmen und offenen Ort, ein Ort für Demokratie und Diskurs, Inspiration auch, ein Ort für Geschichten und Begegnungen, ein Ort, der für jeden zugänglich sein sollte.
Ein Café bedeutet für mich auch Erinnerung, Familiengeschichte, meine Großeltern und Urgroßeltern hatten ein Landgasthaus nahe Berlin.

Wo fühlst du dich zu Hause?
CK: Das ist schwer in einem Satz zu sagen, darüber werde ich vielleicht einmal ein Buch schreiben. Mir fällt immer nur spontan das Lied ein „Home is, where your heart is..“.

 

BIO

Claudia Kiefer ist aufgewachsen in Stendal, lebt seit 2002 in Heidelberg, sie ist Freie Autorin und Herausgeberin, Kuratorin, seit 2005 Angestellte bei Springer Nature, sie schreibt auf Deutsch und Englisch.

Ihr Lyrikdebüt Gezeiten erschien 2023 im Prosodia – Verlag für Musik und Literatur, weitere Veröffentlichungen in Anthologien bei Wunderhorn und Mikrotext

 

*Liedtextbezug: „Birds don’t fly“ von dem Interpreten Sweet Sweet Moon
*KOMOREBI: Das japanische Wort Komorebi beschreibt das Sonnenlicht, das durchs Blätterwerk der Bäume fällt und tanzende Schatten malt.
*Liedtextbezug: „Home is where my heart is” von dem Interpreten von Elvis Presley