Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Boris Konstriktor, Boris Kipnis, Cafe Rubinstein, Saint-Pétersbourg, Sankt Petersburg

Boris Konstriktor & Boris Kipnis | Café Rubinstein, Sankt Petersburg

Foto: Alain Barbero | Text: Boris Konstriktor | Übersetzung aus dem Russischen: Juliana Kaminskaja

 

tageseinteilung

bevorzugen:
dem wertvollsten
die hoffnungslosigkeit

löschen:
die zigarette
der emotionen

gehen:
unter die konstrastdusche
des todes

joggen:
in der wüste
der eigenen
verwüstung

 

Original

режим дня

предпочесть
самому дорогому
безнадёжность

затушить
сигарету
эмоций

принять
контрастный душ
смерти

бегать трусцой
в пустыне
собственной
опустошённости


Interview mit den Künstlern

Was bedeutet Literatur für Sie?
Boris Konstriktor: Literatur ist Leben. Gedichte kommen von selbst. Prosa ist Arbeit.

Was bedeutet Musik für Sie?
BKO: Unser Duett bedeutet Zweikampf. Es ist wie eine Sportart. Aber wir kämpfen nicht gegeneinander. Es ist ein Theater der zwei Boris, das Theater „DvoeBor’e“. Wir sind uns selbst ein Theater, sozusagen.

Was kommt im Theater „DvoeBor’e“ zuerst? Die Literatur oder die Musik?
Boris Kipnis: Zuerst kommt der Text, das heißt, den Text gibt es schon. Er (Boris Konstriktor) dichtet nicht extra für diese Auftritte. Bevor wir anfangen etwas zu machen, entscheiden wir gemeinsam, welchen Text er vorträgt. Wenn wir so eine Komposition schaffen, wähle ich aus und streiche weg. Ich wähle das aus, was mir erlaubt, eine bestimmte musikalische Komposition zu realisieren. So kommen wir zu einer Endversion.
Wir denken, dass wir mit unserem Theater („DvoeBor’e“ ) eine neue Gattung geschaffen haben. Wir nennen sie die doppelte Vibration. Wir arbeiten mit Stimme und Musik, mit verschiedenen Tönen, mit der Geige, aber nicht nur.

Mit welchen Tönen, mit welcher Musik arbeitet ihr genau?
BKI: Meistens mit einer normalen Geige, aber es kann ganz unterschiedlich sein. Manchmal machen wir Geräuschkompositionen, wo ich die Töne extra aufzeichne. Ich kann auch Musik von anderen benutzen, wie z.B. von Stockhausen oder von anderen, wie Bach, Chopin, ich kann alles benutzen, aber ich finde, es ergibt sich so, dass die Musik eine parallele Aktion, ein paralleles Erzählen ist. Und manchmal kann es auch eine Art Begleitung sein: Ich illustriere oder ergänze den Text, aber meistens sind das zwei verschiedene Wege, die parallel verlaufen.

Boris Kipnis, was ist Ihr Zugang zu Musik und Literatur?
BKI: Im Prinzip bin ich ein klassischer Musiker, ein klassischer Geiger. Aber ich kann gut improvisieren, Jazz und so was, auch Romamusik mache ich gerne.
In meiner Kindheit habe ich sehr viel gelesen. Ich habe Literatur lieben gelernt.
Ich habe dank dem Treffen mit Boris diese beiden Lieben verknüpft: Die Liebe für die Literatur und für die Musik.
In dieser Zusammenarbeit mit Boris kann ich meine Leidenschaft, meine Liebe und mein professionelles Können für Musik einbringen, nicht nur, indem ich Geige spiele, sondern indem ich alle möglichen Töne benutze, indem ich selbst komponiere. Vieles von dem, was ich mit Boris komponiere, verwende ich dann weiter, z.B. in Theaterstücken.

Boris Konstriktor, wie sind Sie zur Literatur gekommen?
BKO: Aus Aussichtslosigkeit. Es war eine eintönige Zeit in der Sowjetunion, nichts hat sich verändert, das Leben war schrecklich langweilig. Irgendwann bin ich in eine Straße in Petersburg geraten, in die Malaia Sadovaia. Dort versammelten sich so Bohemiens, kunstinteressierte Leute, Künstler, Philosophen, Dichter, in dieser Umgebung musste ich etwas machen. Ich bin aus Langeweile dorthin geraten und dann musste ich etwas machen, weil ich sonst fehl am Platz gewesen wäre. Und so habe ich angefangen zu zeichnen, ohne eine künstlerische Ausbildung zu haben. Dann habe ich angefangen Gedichte zu schreiben und dann Prosa. Ich habe eine Prosa-Trilogie geschrieben „Ende des Zitats“.

Haben Sie mit anderen Künstlern außer Boris zusammen gearbeitet?
BKO: Im Prinzip arbeite ich eigenständig, aber es gab Kooperationen. Ich habe einige Gedichte anderer Dichter mit meinen Zeichnungen illustriert. Ich muss auch den Transfurismus erwähnen: Das war so eine Underground-Kunst-Richtung in Russland. Es gab eine Ausstellung in der Puschkinskaia 10 mit einem Katalog. Es waren vier Künstler in dieser Gruppe, vier Transfuristen: Ry Nikonova, Sergei Sigei, Anik und ich. Ich bin der letzte, der übrig geblieben ist, die anderen sind schon gestorben.

Seit wann gibt es eure (Boris und Boris) Kooperation?
BKO: An die 20 Jahre.

Arbeitet ihr auch international?
BKO: Manchmal schon. Nicht so oft wie man es möchte, aber wir sind mobil. Wir waren mehrmals in Deutschland, in Köln und in Berlin. In Frankreich nicht. Wien auch nicht.
Ich habe früher ein halbes Jahr in Deutschland gelebt. Dort habe ich ein Gedicht auf Deutsch komponiert. Das war so: Ich kam nach Deutschland mit einer zerbrochenen Brille, ich brauchte eine neue Brille. Als ich zum Optiker ging, habe ich gesagt: „nicht teuer“. Ich bekam so eine rosa Brille für Kinder. Als ich doch eine normale Brille bestellte, musste ich 500 DM zahlen. Das hat auf mich einen großen Eindruck gemacht, und auf dem Weg zurück, musste ich einen Berg hochgehen, durch den Wald. Dabei ist folgendes Gedicht entstanden:

Neue Brille

Ich habe heute neue Augen
Ich habe heute keine Fragen
Ich wünsche heute eins zu sagen
ich sehe besser meinen Tod

BIOs

Boris Konstriktor
*1950 in St. Petersburg, lebt ebendort als freischaffender Graphiker, Maler und Literat. Seit Anfang der 1970er Jahre durch inoffizielle Auftritte als einer der führenden Untergrund-Dichter bekannt geworden. Seit 1990 Teilnahme an internationalen Ausstellungen u.a. zur experimentellen Poesie, vor allem in Russland, Deutschland und den USA. Zahlreiche Publikationen eigener Gedichtbände sowie einzelner Arbeiten in Zeitschriften und Anthologien.

Boris Kipnis
ist Geiger, Komponist, Prosaautor, Essayist. Solokonzerte (klassische Musik) in Russland und in anderen Ländern sowie Mitwirkung in verschiedenen russischen und internationalen Orchestern als Geiger. 1991 Gründung eines Duetts mit Boris Konstriktor. Zahlreiche Auftritte in St. Petersburg, Moskau und in verschiedenen Städten Deutschlands mit dem seit 2003 existierenden Theater „DvoeBor’e“, dem Theater der zwei Boris´.

 

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Nastja, Cafe Botanika, Saint-Pétersbourg, Sankt Petersburg

Anastasia Grokhovskaya | Café Botanika, Sankt Petersburg

Foto: Alain Barbero | Text: Anastasia Grokhovskaya

 

Der Wald aus vielen Pflanzen und Garderobenständern
vom Windfang geschützt,
Löffelklirren, Worte, Stimmen, schleifende Bugholzstühle
mit dem Zischen der Kaffeemaschine gemischt,
Kirchenblick durch Spitzenvorhang
im Spiegelgesicht,
Gerüche vom Osten treffen Kaffee,
Parfüm und haben Gewicht.


 

Interview mit der Autorin

Was bedeutet dir Literatur?
Nastja Grokhovskaya: Literatur ist eine ganz besondere Sphäre in meinem Leben. Sie bedeutet mir viel und sie hilft mir, mehr zu sehen und weiter zu blicken. Sie ist ein schöner Schlüssel zum Verständnis von Geschichte und Kultur, Psychologie und Soziologie. Und auch ein besonderer Weg zur Bildenden Kunst und zum Schaffen meiner LieblingskünstlerInnen, die auch viel gelesen und über die Literatur viel nachgedacht haben: Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich, Angelika Kauffmann und Käthe Kollwitz, zum Beispiel.

Was bedeuten dir Kaffeehäuser?
NG: Richtige Kaffeehäuser wie in Wien gibt es in Petersburg nicht. Meistens sind es einfache Cafés, die in einem Boom Anfang der 2000er Jahre aufgemacht haben. Damals war ich noch Schülerin und das Café war für meine Freunde und mich ein Platz, wo man nach der Schule manchmal diskutieren konnte. Und wir haben uns dabei so erwachsen gefühlt! Heute treffe ich in Cafés meine Freunde, arbeite oder tue auch einfach nichts.

Warum hast du das Café Botanika gewählt?
NG: Das Café Botanika ist schon zehn Jahre alt – und eine schöne Oase für die VegetarierInnen mitten in St. Petersburg. Es bietet eine interessante Mischung verschiedener Kulturen – von der altindischen bis zur zeitgenössischen, die hier ganz organisch miteinander existieren. Und es ist nicht nur ein Platz, wo man essen kann, sondern auch ein Ausstellungsraum für moderne Kunst.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
NG: Ich bin die Leiterin der Kulturinitiative CULTURA, die meine KollegInnen und ich vor drei Jahren gegründet haben. CULTURA organisiert offene Veranstaltungen, die verschiedenen Künsten gewidmet sind. Und ich lese und töpfere gerne.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Sergej Kowalskij, Pushkinskaya10, Saint-Pétersbourg, Sankt Petersburg

Sergei Kovalsky | Puschkinskaja 10, Sankt Petersburg

Foto: Alain Barbero | Text: Sergei Kovalsky | Übersetzung aus dem Russischen: Juliana Kaminskaja

 

Für Alexander Lotzman

Am Anfang des dritten Jahrtausends,
Den Zaren und den Glauben nacheinander austauschend,
Jenen ganzen Sommer lang am Strand,
Beobachte ich die nichtssagenden Spiegelungen
Vorüberziehender Truppen
Durch Hinterhöfe auf den Platz.
Weit offene Fläche
Auf der man sich zeigen kann.
Vorbereitet für ebenso viele Jahre
Eines blinden Weges durch die hinterste Provinz.
Dort heben sie die Hände zum Gruß,
Salutieren sich selbst,
Nachdem hier sonst niemand ist.
Und ich schnaube mit einem Atemzug
Kommt schon!
Jenen, die über diese Ansammlung richten wollen.

In Scharen um die Tische,
Leere Flaschen mit den Fäusten zu Boden fegend,
Fluchen und johlen wir: fangfrrrrisch-erfischhhh!!
«Fangfrischer Fisch» keifte mein Großvater.
Für jeden zwei Shots Vodka die Kehle hinunter
Und das Bier in sechs Schlucken.
Es reiften in Onkel Saschas Hainen die Äpfel.
Man kann ihn im Biwak hören,
Inmitten der Pflastersteine.
Er sät nicht, er pflügt nicht,
Er spuckt nur große Töne,
Und die skurrile Melodie wankt
Den Siebenvierzig*, den Chorowody*, den Gopak*.
Wassilij Terkin**
Mit dem Morgengrauen bricht Stille an
Die Lagerfeuer sind erloschen
Die Truppen schlummern, sturzbetrunken,
Der Weg zum Ausbruch ist frei!

*Bekannte jüdische, slawische und ukrainische Volkstänze.
**Der Held von Twardowskijs epischem Gedicht. Terkin war ein Symbol für den idealen Soldaten während des großen Krieges.

 

Original

Александру Лоцману

В начале третьего тысячелетия,
в очередной раз поменяв царя и веру
на берегу всё той же Леты
смотрю на бессмысленное отражение
проходящего войска
по проходным дворам на площадь.
Там широкое место,
где можно себя показать,
готовыми на столько же лет
слепого пути по задворкам.
Вот вздымают в приветствии руки
салютуют себе
– больше некому
и я, в едином порыве со всеми, выдыхаю
Даёшь!
Кто осудит толпу.

Сгрудившись вокруг столов,
кулаками сметая пустые бутылки,
материмся и орём: ссволл-ги-рррыба!!
– «с Волги рыба» ругался мой дед.
Каждому два раза по сотке на грудь
и пива по шесть оборотов и:
Созрели яблоки в саду у дяди Саши
– звучит на бивуаке посреди брусчатки,
а он не сеет, а он не пашет,
а он руками и ногами только машет.
Смешная песня мечется нелепо –
семь сорок хороводы и гопак
Василий Теркин…
С рассветом наступила тишина
костры загашены.
Мертвецки пьяно спит войско
путь для побега наконец открыт!

 


BIO

Reisender, Künstler, Dichter.

Geb. 1948 in Leningrad. Ende der 1960er begann er sich beruflich mit der Malerei und Literatur zu beschäftigen. Seit 1969 entwickelt er die Richtung Meta-Elementarismus in der visuellen Kunst als eine Transformation des Klangs zur Farbe in der Technik der Contracollage. 1978 publizierte er Gedichte in der Samizdat-Zeitschrift „Golos“ Nr. 7 unter dem Pseudonym S. Kanin, seit Anfang der 1980er Jahre – in den Zeitschriften „Tschasy“ und „Mitin journal“. Herausgeber der Sammelbände zur inoffiziellen Kunst Leningrads: „Galerie I und II“ und „Dokument“. Seit 1981 Mitorganisator der Gemeinschaft für Experimentelle Bildende Kunst. Zur gleichen Zeit beginnt er die zweite Richtung in seiner Kunst zu entwickeln: soziale folk-art. Autor des Konzeptes „PARALLELOKUGEL“ – das Kunstzentrum „Puschkinskaja 10“ als ein sich selbst reproduzierendes und entwickelndes kinetisches Objekt zeitgenössischer Kultur. Mitgründer der Gemeinschaft „Freie Kultur“ (1991) und des Museums für Nonkonformistische Kunst (1998). Seit 1994 Präsident der Gemeinschaft „Freie Kultur“. Seit 2006 publiziert er visuelle Poesie und andere Werke in den Zeitschriften „AKT“ (St. Petersburg) und „Tschernowik“ (New York) sowie in der „Anthologie aktueller Poesie in der Puschkinskaja 10“.

Autor von Chroniken der „nonkonformistischen“ Kunst und Aufsätzen zu deren Geschichte in den selbst herausgegebenen Büchern: „Puschkinskaja 10. Stiftung der `Freien Kultur´ – 1998“, „Vom Fall in den Flug. Unabhängige Kunst Leningrads/St. Petersburgs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (2006), „Von Leningrad nach St. Petersburg. Gemeinschaft für Experimentelle Bildende Kunst. Inoffizielle Kunst 1981-1991“ (2007), „Kunstzentrum `Puschkinskaja 10´ – PARALLELOKUGEL. 1989-2009“ (2009). Seit 2005 Herausgeber der Samizdat-Zeitschrift „PARALLELOKUGEL“.

Co-Autor in «Ein Polylog der Visuellen Poesie» (2010); «Alphabet of Art» (2011); Pskover lliterarisch-künstlerischer Almanach (№1, 2014); «literi ЧЕ» (2018); «Sreda» (№3, 2018). 2011 erschien sein Buch der visuellen Poesie „Farblexikon des Transregenbogens“, 2018 – sein zweites Buch „Parallelo Farbxte“.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Georg Renöckl, Café Z, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Romina Pleschko | Café Jelinek, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Romina Pleschko

 

Ich kenne genügend Vogelleichen, ich habe früher gerne Vogelbabys aus ihren
Nestern entfernt, um sie großmütig per Hand aufzuziehen. Sie sind alle verstorben,
waren noch durchsichtig, man konnte sogar den Stuhlgang durch ihre mickrigen
rosa Körper wandern sehen. Ich habe meine Bemühungen als Vogelmutter dann
beschämt eingestellt, bis heute nie jemandem erzählt, dass sie nicht aus dem Nest
gefallen sind, sondern von mir in ein Todesschicksal gezwungen wurden.
Jahrelang habe ich daraufhin gewartet, ob eine Serienmörderin aus mir wird, aber
diesbezüglich kann ich wirklich Entwarnung geben, Herr Doktor. Es ist nur leider
so, dass ich diese gewisse Absterbens-Aura nie wieder losgeworden bin, das
sehen sie ja.

(Auszug aus Kurzprosa, 2017)


Interview mit der Autorin

Warum schreibst du?
Romina Pleschko: Keine Ahnung, wahrscheinlich treffen alle Gründe, die man überhaupt fürs Schreiben haben kann, in unterschiedlicher Dosierung zu.
Ich kann mich schriftlich am besten ausdrücken, es ist auch eine Art Zwang, alles in Buchstaben zu pressen. Ich hänge der naiven Vorstellung nach, dass nichts unbeschreibbares existiert. Alles ist nur eine Frage der Buchstaben.

Warum gehst du ins Kaffeehaus?
RP: Ich gehe eigentlich nur zum Menschen treffen oder Kaffee trinken ins Kaffeehaus, sehr selten zum Arbeiten. Zum Arbeiten brauche ich mehr Ruhe. Aber da ich schwer koffeinabhängig bin und viele nette Leute kenne, bin ich schon regelmäßig im Kaffeehaus anzutreffen.

Warum hast du das Café Jelinek gewählt?
RP: Weil ich fast um die Ecke wohne und es im Jelinek nebst exzellentem Kaffee auch einen Holzofen gibt. Ich liebe alte Öfen und würde ihn jedes Mal am liebsten mit nach Hause nehmen.

Blog Entropy, Catrin M. Hassa, Alain Barbero, Barbara Rieger, Café Museum, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Catrin M. Hassa | Café Museum, Wien

Foto: Alain Barbero | Text:  Catrin M. Hassa

 

sapiosexueller ubiquitärer postphilofetischismus

zugerichtete einsamkeit
& der blick der s(‚)ich
in den kleinsten dingen verheddert
benutzt jeden fetzen unseres körpers
[& die somatische intelligenz
der prokrastinationsfreien milchhaut]

(aus dem Band „in der herztaille“, Löcker, Frühjahr 2018)

 


Interview mit der Autorin

Warum schreibst du?
Catrin M. Hassa: Ein gewisser innerer Drang? „Die Literatur ist eine Schaufel, mit der ich mich umgrabe“ (ich weiß jetzt gerade nicht, ob das Peter Bichsel oder Martin Walser war) Natürlich geht’s da nicht – und sollte es m.E. auch nicht!- um ein „Kreisen um den eigenen Bauchnabel“…, aber so ein Leben ohne Schaufel fände ich nicht erstrebenswert! Das ist so ein inneres Sintern: du lebst & erlebst und manches setzt sich in dir ab, bleibt haften & transformiert sich dann…… & kann vielleicht ein bisschen mithelfen, das Image der Lyrik zu entstauben…

Warum gehst du ins Kaffeehaus?
C.M.H: Weil ich‘s als externes Arbeitszimmer brauche. Ich arbeite eigentlich hauptsächlich im Kaffeehaus, hab‘ ich vor kurzem festgestellt. Ich brauche offensichtlich dieses Setting, das einem dieses Mit-Sein erlaubt, im Erleben, gleichsam „angesprungen“ von Verhältnissen oder Auffassungen, von Bildern oder Worten, beeindruckt von Klängen, der Geräuschkulisse, oder Affekten, deren Zurschaustellung in einem öffentlichen Raum, der doch, wie ich finde, eine sehr eigentümliche Doppelheit in sich hält, wenn man bedenkt wie privates dort verhandelt wird. Das Kaffeehaustischchen gibt vor Nische zu sein -oder eben auch Bühne. Und das reizt mich… sehr.

Warum hast du das Café Museum gewählt?
C.M.H: Ich mag Loos. Außerdem mag ich seine Beinamen: „Secessionisten-Tschecherl“ oder „Café Nihilismus“.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
C.M.H: Hmm, dann verbringe ich Zeit mit lieben Menschen, erweitere an meinem Erfahrungsspektrum herum, bewege mich ‘mal zur Abwechslung ausgiebiger oder fülle meine Schlaf-Akkus gründlichst auf.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Georg Renöckl, Café Z, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Georg Renöckl | Café Z, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Georg Renöckl

 

Das Ende der Nachkriegszeit

Als sie alle weg waren oder tot – die Großzügigen, die Neureichen, die Verschwender –, musste die Dekoration eben angepasst werden. Der Stuck von der plötzlich zu prächtigen Fassade gehämmert, die Decke abgehängt, der weite Raum gekonnt verengt. Rustikal-resopalerne Nachkriegsgemütlichkeit, typisch Wien, von nun an. Immerhin keine Bankfiliale. Und dann plötzlich – nur gut zwanzig Jahre später als man hätte erwarten können – wurde es anders.

Wie immer, wenn gelüftet und entrümpelt wird, jammerten diejenigen, die nicht zwischen Grind und Patina unterscheiden können. Der schöne Mief!

Die anderen essen jetzt Crêpes.

 


Interview mit dem Autor

Warum schreibst du?
Georg Renöckl: Weil ich nicht immer nur lesen kann. Weil mir meine Gedanken sonst irgendwann auf die Nerven gehen. Weil ich das Zeichnen längst aufgegeben habe.

Warum gehst du ins Kaffeehaus?
GR: Ins Kaffeehaus zu gehen bedeutet Zeit zu haben. Ich habe drei Kinder. Will ich ins Kaffeehaus gehen, muss ich daher zuerst das schlechte Gewissen überwinden, dann ist es wie ein Kurzurlaub. Sollte ich einmal versuchen.

Warum hast du das Café Z gewählt?
GR: Das Café Z war eine der schönsten Entdeckungen, als ich für mein Buch „Wien abseits der Pfade“ kreuz und quer durch die Stadt wanderte. Die Crêpes und Kuchen sind fantastisch, Christa Ziegelböck wählt Zutaten und Rezepte sehr bewusst aus und man sieht von der Eingangstür bis zum Wienerberg.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
GR: Kochen, Gutenachtgeschichten erzählen, vom Kaffeehaus träumen.

 

 

 

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Martin Peichl, Café Dezentral, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Martin Peichl | Café Dezentral, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Martin Peichl

 

(misslungene Annährung an ein Motiv)

Eine Stricherl-Liste hineingemalt in Mayröckers Abschiede. 4 Bier. Ein Abend im Dezentral. Du irgendwo im Regen. Auf meiner To-do-Liste steht „Reigen lesen“, gleich darunter „Reigen schreiben“. Da treibt ein Haar von dir in meinem letzten Schluck, aber das bilde ich mir nur ein.

Ich schreibe eine neue Liste über eingebildete und tatsächliche Abschiede, direkt neben die Stricherl-Liste. 4 Bier, 2 Averna Sour. Auf einen Bierdeckel notiere ich (in deiner Handschrift): Es ist Wahnsinn, einen Roman zu schreiben. Ein Abend im Dezentral. Du regnest im Windfang.

 

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Claudia Dabringer | DON Espresso Bar, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Claudia Dabringer

 

Weg von den Sprachen und Farben,
von den Klängen und Durchsagen

Eintauchen
den Löffel in den Kaffee
den Kopfhörer ins Ohr
den Stift ins Papier

Während die anderen auf dem Weg sind
ruhen
rasten
reflektieren

Und dann wieder aufbrechen

Eintauchen
in den Strom
in die Menschen
in die Reise

Hin zu dem, was Leben bedeutet.

 


Interview mit der Autorin

Wozu schreibst du?
Claudia Dabringer: Ich schreibe, damit ich meine Gedanken ableiten kann, ohne in einem ersten Schritt andere Menschen beschweren zu müssen. Ich schreibe aber auch, um Sprache und alles, was damit an Tradition verbunden ist, in dieser Welt zu halten.

Wozu gehst du ins Kaffeehaus?
C.D.: Ich gehe ins Kaffeehaus, um hin und wieder eine Alternative zu Getreidekaffee genießen zu können. Hätte ich “richtigen” Kaffee zuhause, würde ich kein Auge zutun können angesichts der Menge, die ich trinken würde.

Warum hast du das Café Don gewählt?
C.D.: Als Raucherin gehe ich inzwischen beinahe immer der Nase nach. Und dass man im ‘Don’ rauchen und schauen kann, wie das Leben an einem vorbei zieht, mag ich sehr. Während Alain mich fotografiert hat, überlegte ich mir, wie es wäre, wenn Gerard Depardieu vorbeiwabern würde. Ist leider nicht passiert *seufz*

Was machst du, wenn du nicht schreibst und nicht im Kaffeehaus bist?
C.D.: Ich schlafe, esse und kümmere mich um Menschen, die mir lieb und teuer sind.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Erik Tenzler, Café Anno, Cafés Viennois, Kaffeehaus, Wien, Vienne, Melange der Poesie

Erik Tenzler | Café Anno, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Erik Tenzler, auch in: „Melange der Poesie“ (Kremayr & Scheriau, 2017)

 

Am Strand der fabelhaften Welt der Anämie
bedeckt mit frisch bezogenen Lebensläufen
im Schlund das Strickzeug und die allerletzten Wolken
Gewebeproben, die Gewebe proben wollten
und schlafen mit dem Nicht-für-Immer
schlafen mit der Couch
schlafen mit dem Stream
schlafen mit dem Frauentausch
schlafen mit den Träumata
schlafen mit der Übrigkeit
schlafen mit sich selber
schlafen mit dem Life.
Schlafen.

 


Interview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Erik Tenzler: Eine All-inclusive-Dampfschifffahrt zum Mittelpunkt der Erde. Vielleicht.

Welche Bedeutung haben Kaffeehäuser für dich?
ET: Wenn ich Wien besuche und in eines dieser alten Kaffeehäuser gehe, frag ich mich jedes Mal, ob ich mit ein bisschen Glück nicht gerade in einem Sessel sitze, in dem schon jemand gesessen hat, den/die ich sehr bewundere oder verabscheue. Dann stell ich mir vor, was diese Person wohl gesehen und gedacht hat, während sie hier saß. Es ist als würde ich mich in einen anderen Kopf oder eine andere Zeit tricksen.

Was machst du, wenn du nicht im Kaffeehaus bist?
ET: Geld verdienen, Dinge kaufen, am Roman arbeiten, Frühstücken (ich frühstücke gern mehrmals am Tag), Musik, dann wieder Geld verdienen und Dinge kaufen etc.

Wie bist du im Café Anno gelandet?
ET: Ich bin der Empfehlung einer lieben Freundin gefolgt. Sie hat mich genau dorthin geführt, wo ich hin wollte …

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Cäcilia Then, Tanzcafé Jenseits, Marie in mir, Cafés Viennois, Kaffeehaus, Wien, Vienne

Barbara Rieger & Cäcilia | Tanzcafé Jenseits, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Barbara Rieger, Auszug aus „Bis ans Ende Marie“ (Kremayr & Scheriau, 2018)

 

Sie und ich auf der Suche nach dem Ort mit der richtigen Musik, dem Lokal mit der richtigen Stimmung, dem Mann mit dem richtigen Versprechen. Ich muss mich nur umdrehen, schon ist er da. Ich bin überflüssig, doch ich folge ihnen bergauf und bergab, vorbei am Geruch von Gras und Pisse und den Abgasen der Autos, hinein in die nächstbeste Bar. Ob ich die bessere Hälfte sei, fragt mich der Typ und bestellt mir einen doppelten Wodka. Wie man’s nimmt, sage ich. Wir nehmen, was wir kriegen können, sagt Marie.