Isabelle Germain | La Coupole, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Isabelle Germain | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach 

 

In der Mitte eines Arbeitstages eine Pause im La Coupole. Eine Pause, um sich in Pose zu werfen oder auch nicht? In die Ferne schauen, ins Objektiv blicken, lächeln, eine ernste Miene aufsetzen, entspannt wirken, den sehr diskreten Anweisungen von Alain folgen oder nicht folgen? 
Ich kann mein Bild nicht von dem trennen, das mit meinem Engagement als Journalistin und Autorin verbunden ist: der Medienlandschaft einen feministischen Blick auf die Aktualität aufzuprägen (in LesNouvellesNews.fr). Den Blick ändern, den die Medien auf die Feministinnen haben. Feministinnen haben nun mal  schlechte Presse. „Ich bin keine Feministin, aber …“, sagen immer noch zu viele Menschen – und demonstrieren das Gegenteil im Satz, der darauf folgt. Die französischen Medien haben den Feminismus zu etwas Schändlichem gemacht. Sehr lange Zeit haben sie Feministinnen nur spärlich gezeigt und sie als hysterisch dargestellt. Ich erinnere mich an ein langes Video-Interview für einen nationalen Fernsehsender Anfang der 2000er Jahre, nach einer Untersuchung und einem Buch über die geringe Sichtbarkeit von Frauen in den Medien. Der Journalist versuchte mich auf die Palme zu bringen. Ohne Erfolg. Ich antwortete ruhig, mit Zahlen und Fakten … Bis zu dem Punkt, an dem er schließlich sagte: „Aber regen Sie sich auf!“. In seiner Reportage wurde nur eine ganz kurze Sequenz dieses Interviews festgehalten. Ich bin nie als „gute Kundin“ betrachtet worden, von diesen Medien, die Feministinnen nur für ein Spektakel heranziehen, in dem sie als Punchingball dienen. Ein mise en abyme der Unsichtbarkeit des Feminismus und derer, die sich zu ihm bekennen. Lächeln, wütend sein, ein entspanntes Gesicht aufsetzen, nachdenken? Wie kann man auf einem Foto sagen, dass der Feminismus ein politischer Kampf ist? 

 

Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Isabelle Germain: Einen anderen Blickwinkel bieten, die Sichtweise ändern, neue Fragen aufwerfen, falsche Evidenzen  einreißen. Immer einen Schritt zur Seite machen, nachdem man geschrieben hat. Und nochmal anfangen … Oder auch nicht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
IG: Sie sind vor allem Orte der Begegnung. Ob berufliche oder freundschaftliche Treffen, sie symbolisieren die Öffnung gegenüber anderen, die Versprechen angenehmer Momente oder schöner Projekte. Ich mag die geschichtsträchtigen Pariser Cafés. Ich sehe gerne die Touristen in Entzücken geraten. Sie erinnern mich an das Glück, das ich habe, in Paris zu leben. 

Wo fühlst du dich zu Hause? 
IG: Überall, wo ich mich mit meinem wertvollen kleinen Computer niederlassen kann. Ein Zug, ein Hotel, eine Sofaecke, unter einem Baum, im Schatten eines Sonnenschirms. Ich fühle mich in diesem Gerät zu Hause, das mein Berufsleben und einen Teil meines Privatlebens enthält, und das mich mit dem globalen Dorf verbindet.

 

BIO

Isabelle Germain ist Journalistin und Autorin. Nach einer über 25jährigen Laufbahn in den Bereichen Wirtschaftspresse und politische und allgemeine Information, gründete sie die Nachrichten-PlattformLesNouvellesNews.fr., le regard féministe sur l’actualité“ (der feministische Blick auf die Aktualität). Sie war Vorsitzende des Journalistinnen-Verbandes (2001-2006) und Mitglied des Rates für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2013-2016).
Sie schrieb: Si elles avaient le pouvoir… Larousse Collection (2009), 18 ans Respect les filles ! mit Isabelle Fougère und Natacha Henry, la documentation française (2009), Le Dictionnaire iconoclaste du féminin mit Annie Batlle und Jeanne Tardieu, Bourin Editeur (Februar 2010), Journalisme de combat pour l’égalité des sexes. La plume dans la plaie du sexisme, LNN édition (2021).

Elisabeth Wandeler-Deck | Caffetteria am Limmatplatz, Zürich

Foto: Alain Barbero | Text: Elisabeth Wandeler-Deck

 

horche auf die Geräusche beim sachten Berühren der einen Lippe durch die andere beim Sprechen des leisen mmmm dann Aufreissen des Zwischen der Lippen das Hindurchströmen des starken Luftstroms aaaaa ich horche den Ort. Diesen Ort. Diesen mir lieben Ort Caffetteria am Limmatplatz. Es entsteht im Lauschen Horchen, da. mf. Die Kaffeemaschine, sie zischt. 

Es ist schon halb drei. 

Spreche das Klingen nach, die Geräusche aus und dann weiter bis knapp vor das Ausklingen hin, genau an den schmalen Rand der Kaffeetasse. 

Ich höre zu. Ich sag etwas. 

Soll ich, soll ich nicht, ich schiebe die Zeitung zur Seite, notiere ein Wort bloss. ppp. Schreiben. 

Da, Hagel, die Frau auf der Sitzbank im Kaffee streicht über ihre Arme, stösst den einen Ärmel zurück, den andern, zuerst den linken über die zarte, schön bebilderte Haut des linken Arms, bis er wild gerafft erscheint, dann wendet sie den Kopf zur Strasse hin, die Rosenknospen im Dauerregen, nicht aufspringen können, woher wir alle, ja, auch ich, sage ich laut, ins Kaffee hineinlinsen, die erinnerten Gebäckstücke, wo ins Kühlgestell lege meine Wörter bei zurückgeschobener gläserner Schutzscheibe gespiegelte Morgensüsse, mit Hagelzucker Bestreutes, Eingeräumtes, werden, verzehren, ablecken, zerstechen, zerschneiden, beobachten, entzücken, nicht nichts. 

Hagelzucker ff, eingewickelt in Seidenpapier gar. 

Gebäckstücke bestreut. Wendet sich vom Kaffee ab. Gebäckstücke beraten. Jemand kann immer. Content eben. Vermisste salonfähig, sie, auch sie. 

Hagelzucker mp

Pause bin müde, wo leg mich hin, wo sind meine, pflücke Sommerzitrone. 

Hagelzucker. p. 

Man hätte sich, einander, etwas, vielleicht knapp vor einem Sagen, Sprechgeräusche, mf, Stille, dann erneute Sprechgeräusche, rhythmisch, decrescendo, crescendo, davon später. Ich alte Frau. 

Pause. 

Und. 

Wie geht es dir. 

Es ist schon halb drei. 

Abgrund. Der Kommata womöglich Punkte Fragezeichen, dem Anheben Absinken der Satzmelodie folgen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Elisabeth Wandeler-Deck: Literatur (?) kann (manchmal) nicht können / will (vielleicht) nicht könnend (welche) Regeln überschreiten, das Überschreiten feiern, in der Überschreitung Sprache feiern, zu feiern geben, Literatur, als Literatur, kann daher die Überschreitung in ihrem Werden, dem Geschehen der Aufmerksamkeit aussetzen. Leuchten, beleuchten kann Literatur können und noch manches kann sie, kann sie nicht. Möglicherweise. Möglicherweise kann sie manchmal, manchmal ist sie ängstlich, will sich anlehnen, möchte gefeiert werden … Sie kann gar nichts, es geschieht dieses Schöne, dieses schöne Nicht. Literatur ein Menschenkunstding. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
EWD: Cafés sind Inseln, wo auch immer. Knoten, wie denn. Sie unterbrechen, was auch immer. 

Wo fühlst du dich zuhause? 
EWD: Das ist die Frage der Fragen. Wenn ich sie nicht stelle, dort, wo ich bin, weiss ich es. Zürich, Maggia, Kairo, Visby, Zürich. Und sobald ich gefragt werde, ob ich mich in Zürich Affoltern zuhause fühle, wird mir konfus – was meinst du, der/die frägt, mit dieser Frage.

 

BIO

Elisabeth WANDELER-DECK (*1939) lebt in Zürich-Affoltern und anderswo.
Ursprünglich Architektin und Soziologin/Gestaltanalytikerin. Als Schriftstellerin zahlreiche Buchveröffentlichungen sowie Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (zuletzt ZEITZOO und IDIOME sowie LICHTUNGEN, DAS NARR) und im Netz (u.a. SIGNATUREN). Bildtextarbeiten. Szenische Arbeiten. Als improvisierende Musikerin und mit ihren Texten Mitglied des Improvisationsquartetts bunte hörschlaufen. Zusammenarbeit mit Komponistinnen, Musikern. Einmal entstand in Film. Veröffentlichungen u.a.: VERSIONENLUST, ECHO, Edition Howeg 2022; ANTIGONE BLÄSSHUHN ALPHABET SO NEBENHER, Ritter 2022; Füllflächen für Geräusche: ab 09.10.2023, Klingental 2024.

www.wandelerdeck.ch 

Tristan Ranx | Le Progrès Marais, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Tristan Ranx Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Wenn ich mich recht erinnere, als ich Gymnasiast war, hatten wir unser Café, etwa wie unser „QG“, Stammcafé, und ich nehme an, das ist nicht eine rein französische Tradition, denn diese Café-Kunst wird in Europa und außerhalb geteilt, außer in England, wo die Pubs gegenüber Gymnasiasten offensichtlich feindlich eingestellt sind.

Traditionell gab es, lange vor den Cafés, die Tavernen; wie Perez-Revertes Figur Hauptmann Alatriste, der die Taverne „des Türken“ in Madrid besuchte, die sich nicht von den Tavernen der drei Musketiere unterscheidet. 

Ein Café ist eine Universität „in taberna“, man lernt dort alles, das Beste wie das Schlechteste, was immer am besten zusammenpasst, genau wie Alkohol und Poesie, die Trunkenheit und der Roman, indianischer Rauch, die Schwaden des Film noir, der Jazz und der Ohrwurm.

Das Le Progrès ist mein aktuelles Café und hier erfahre ich immer das Beste und das Schlechteste, Verführung oder Abwesenheit, Abenteuer oder Langeweile, und die kommenden Nächte, so wie die, die in der Vergessenheit der Pariser Partys verbracht wurden.

Le Progrès ist ein literarisches Café, wenn man so will, wie alle Cafés, denn in allen Cafés gibt es Verrückte und Betrunkene; selbst wenn sie Heraklit oder Platon heißen, sind sie weder deren Avatare noch deren Schüler.

Ein Café muss zuerst ein Pfeiler sein, eine Stütze, ein Fels in Raum und Zeit. Stellen wir uns vor, es handelte sich um das Tigillum Sororium des Janus-Kultes, Janus, der Gott des Anfangs und des Endes, der Wahlmöglichkeiten und Ausgänge. Die Worte „Approche, Approche“ (Komm näher, komm näher!), die sich virtuell hinter der Bar befinden, scheinen auf eine Art Verflechtung zweier Universen hinzuweisen, die für die Wagemutigen sichtbar sind. Das Verb „approcher“ (annähern) meint „im Begriff sein, an einen Ort zu gelangen“. Das ist der Grund für den „Progress“. 

Das Le Progrès ist meine „Taverne des Türken“ und auch, wenn ich dort nicht auf Quevedo treffe, so finde ich dort Musen, Vorübergehende und Menschen guten Willens, Anonyme, Freunde und Phantome. 

 


Interview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Tristan Ranx: Die Literatur bewirkt, in den allermeisten Fällen, nichts, nicht mehr als Erdnüsse zum Aperitif. Aber im besten wie im schlimmsten Falle, kann sie die Zukunft beeinflussen, verändern, erschüttern und entflammen. Dafür braucht man keine Preise oder kritische Anerkennung. Kleine Romane wie Tarzan oder Zorro können, wie Umberto Eco bemerkte, moderne Mythen für die kommenden Jahrhunderte schaffen, dort wo bewundernswert gut geschriebene Literaturpreise innerhalb von sechs Monaten im Papierkorb landen werden. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
TR : Die Cafés, seit der Französischen Revolution, wo die Ideen der Aufklärung verdeckt zirkulierten, die Cafés von Turin und Genf, wo Garibaldi die Einigung Italiens vorbereitete, die dadaistischen Cafés von Zurich, die Schwabinger Cafés in München, wo Otto Gross Gusto Gräser und Erich Mühsam traf, die Cafés von Buenos Aires, wo Che Guevara lernte, die Voraussetzungen für seine revolutionäre Bestimmung am Schopfe zu packen. Unter diesen Umständen sollten Cafés in jedem Land der Welt verboten werden. Und in Wahrheit sind sie das bereits, denn nach und nach verschwinden sie, werden durch Pappbecher-Filialen und Überwachungskameras ersetzt. 

Wo fühlst du dich zu Hause? 
TR : In einem Café in Belgrad, Budapest oder Cluj-Napoca, unter anderen Cafés und anderen Städten, mit „Le Mondes des Ā“ von Vant Vogt vor mir. (ich habe vor, es wieder zu lesen)

 

BIO

Tristan Ranx ist ein französischer Schriftsteller und Journalist. Er studiert Geschichte an der Pariser Universität VII. Er wohnt in Transsilvanien, wo er an der Universität Cluj Napoca den Zirkel von Professor François Breda (Breda Ferenc) – genannt „der letzte Transsilvanier“,   spezialisiert auf ungarisches Theater – kennenlernt und regelmäßig besucht. 2016 erhält er mit seiner These über den Mythos von Eldorado ein Doktorat für Geschichte an der Universität von Oradea.

Er beginnt für verschiedene Zeitschriften wie Supérieur inconnu und Bordel zu schreiben, sowie Artikel für Libération, Standard, Chronic’art Technikart und Transfuge. 2009 veröffentlichte Ranx seinen ersten namhaften Roman La cinquième saison du monde über die letzten Piraten der Adria in Fiume 1919. In seinem Schreiben zeichnet er sich durch das Verflechten von Abenteuer und Reisen, Gelehrtheit und Immersion aus, vor allem in Nuevo Dorado (Gallimard, 2021), wo er die Suche nach der goldenen Stadt als Bericht einer Reise erzählt, die durch die äquinoktialen Wälder von Guyana führt, auf den Spuren der Eroberer.

Tristan Ranx spielt auch heute noch eine aktive Rolle durch seine literarischen Chroniken im Transfuge Magazin. 

Yla von Dach | Café Tabac, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Yla von Dach

 

Es sieht nach nichts aus, dieses Café. Kein überbordender Kunstblumen-Blickfang für Touristen, klick, klick, keine smarten Kellner – simple Metallhocker anstelle der geflochtenen Edelstühle, rote Metalltischchen. Eine aus Covid-Zeiten herübergerettete Holzterrasse, immerhin. 

Aber der Name! 
»Café Tabac«! Ist das ein Name?
Ein »Café Tabac« gibt’s in jedem Kaff auf dem Land, neben der Kirche, in den verlorenen Weiten Frankreichs. 
Hier sind wir in Paris. Montmartre. In einem »Café Tabac« von überall und nirgends, das sich mit der Gattungsbezeichnung begnügt. 
Das »Café Tabac« par excellence?

Der Kaffee ist ausgezeichnet, auf dem Flat White, dem Cappuccino lächelt ein Herz, eine Blume, fein geschwungener Milchschaum, das Auge freut sich, der Gaumen geniesst. Alles ist einfach und von vorzüglicher Qualität: Tee, Pasteis, hausgemachtes Gebäck, leckere Mittagsplättchen, klein, aber fein. 
Der Charme entfaltet seine Wirkung in dem, was flüchtig und beständig bleibt: in dem, was serviert wird, in denen, die es servieren, und natürlich: in den Gästen. 

Sie kommen, gehen, kommen wieder… Nach und nach filtert der Blick die bekannten Gesichter, man bleibt diskret, lächelt sich zu, grüsst allmählich, leichtes Nicken, wechselt ein paar Worte, Bonjour, wie geht’s?, mit einem breiten Lächeln, man sieht sich wieder, Herzlicheres kommt ins Spiel, Sympathien bahnen sich den Weg an die Oberfläche, geben sich vorsichtig, dann freimütiger zu erkennen. Noble Zurückhaltung, aber ungezwungen.
Man wird miteinander bekannt. 
Staunt. 
Verwandtschaften kommen zum Vorschein, von denen man keine Ahnung hatte, etwas in uns hat sie aber längst wahrgenommen, man weiss nicht was: Dieses Sensorium übersteigt den Verstand. In einer unbekannten Tiefe unserer selbst angesiedelt, gleicht es diesem »Café Tabac«: unscheinbar, weder Glanz noch Glitter, aber effizient! 
Ganz unauffällig bahnen sich Café-Freundschaften an.
Ganz unauffällig, sehr zart, webt sich ein Netz im Alltag, von dem ein Duft der Zugehörigkeit ausgeht.
So zurückgezogen, ja einsam man anderweitig auch sein oder sich fühlen mag, hier findet man sich auf subtile Weise mit der Welt verbunden. 

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Yla von Dach: Literatur schärft auf vielerlei Ebenen das Gehör: Während wir lesen oder übersetzen, lehrt uns ihre Musik das Horchen. Sie kann uns aus uns herausholen, in uns hineinführen. Uns aus den Spurrinnen unserer Ideen herauslupfen, uns in tiefe Gewässer unserer selbst abtauchen lassen, in nie gedachtes, nie in Worte gefasstes Unbekanntes. Sie kann Leben retten. Sie kann Leben kosten. Die Welt kann sie nicht retten. Sie kann unendlich neue Horizonte eröffnen, bis an die Grenze des Denkbaren am Rand einer Stille, die immer grösser sein wird.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
YvD: Das Café war für mich zuallererst eine »Pariser Spezialität«, der erste Ort, an dem die fremd Angekommene Wurzeln schlug. Ich fühlte der Stadt auf den Puls, kam als die Unbekannte daher, doch bald schon als jemand aus dem Quartier, den man begrüsste, wenn sie eintrat. So wunderbar, dieser Empfang, der aus der Anonymität herausholt, ohne irgendwas sonst zu verlangen! Das war genau der Schwimmring, den ich brauchte, um die ersten Monate im Stadtozean nicht unterzugehen. 
Und jetzt? Vielleicht hat mich das Café mehr zur Pariserin gemacht als vieles andere. Das Café als ein Ort, an dem alles möglich ist: konzentrierter Rückzug und unerwartete Begegnungen, stumme Verbundenheit mit der Welt und leichtfüssig wärmende Geselligkeit.

Wo fühlst du dich zu Hause? 
YvD: Da, wo ein Ort etwas ausstrahlt, das in mir eine gewisse Resonanz findet, kann das Gefühl, zu Hause zu sein, zu wachsen beginnen wie ein Pflänzchen auf einem günstigen Boden. Allerdings gibt es nicht wenige Orte auf der Welt, an denen dieser Spross wohl nicht gedeihen könnte…

 

BIO

Zunächst Lehrerin, dann Journalistin, Emigrantin, Übersetzerin und Autorin eines ersten Buches, dessen Titel die Feministinnen von damals entsetzte: Geschichten vom Fräulein (1982), ist Yla von Dach dem Charme von Paris, der tänzerischen Leichtigkeit des französischen Esprits (von damals…!) und dem Sirenengesang der französischen Sprache erlegen, die in der Tiefe ihrer Zellen vielleicht aus einem jahrhundertealten Schlummer erwachte, sollen ihre Vorfahren doch Hugenotten gewesen sein. Seit Jahrzehnten sowohl in Biel wie in Paris zuhause, hat sie zahlreiche Westschweizer Autoren vom Französischen ins Deutsche übersetzt und u. a. drei eigene Texte veröffentlicht, von denen keiner beansprucht, ein »Roman« zu sein. 

Farah Nayeri | The Pilgrm, London

Foto: Alain Barbero | Text: Farah Nayeri | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Club Entropy
 
Es gibt einen kleinen Club von Autorinnen und Autoren, die damit prahlen, von Alain Barbero porträtiert worden zu sein. Ich gehöre dazu! Dieses Glück verdanke ich Alain und unserer gemeinsamen Freundin Corinne Maier, die eine begabte Autorin und ein angesehenes Mitglied des Clubs ist.
Meine Begegnung mit Alain findet an einem sonnigen Morgen in London statt. Wir treffen uns in dem Café, in dem ich schreibe: dem Pilgrm, das sich in einem lounge-artigen Raum eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs Paddington befindet. Ehrlich gesagt bekomme ich ein wenig Herzklopfen, wenn ich daran denke, dass man mich vor dem Personal und den Kunden fotografieren wird. Ich stelle mir vor, wie Alain mit seiner ganzen sperrigen Ausrüstung ankommen wird: Scheinwerfer, Reflektoren, Stativ …
Stimmt überhaupt nicht! Alain kommt aus Belgien an, der Heimat von Hergé, ausgerüstet mit einem kleinen Rucksack. Mit seinen widerspenstigen Haarsträhnen und seiner Spiegelreflexkamera sieht er ein wenig aus wie der Held von „Tim und Struppi“. Wir setzen uns kurz draußen hin, um uns kennenzulernen und einen guten Cappuccino zu trinken. Er lächelt und ist nett: Ich bin beruhigt.
Die Aufnahmesession ist so leicht wie Alains Ausrüstung. Wir setzen uns gegenüber an einen kleinen Tisch und plaudern weiter, leise und diskret. Alain macht Foto um Foto, der Auslöser macht keinerlei Geräusch, die Menschen rund um uns bemerken nichts. Um die Stimmung aufzulockern, freut er sich laut angesichts jeder Position, die ich einnehme – „Ja genau! Sehr gut!“ –, auch wenn uns beiden klar ist, dass wir noch einige mehr brauchen werden, bis die Mission erfüllt ist.
Dutzende Aufnahmen später ist die Session zu Ende, das Mittagessen beginnt. Alain bestellt einen Teller mit Räucherlachs, dazu ein Glas Bergerac. Später begleite ich ihn bis zum Gitter des Hyde Park und bedanke mich bei ihm. Mit dem Fotoapparat in der Hand bricht Alain (alias Tim) fröhlich zur Anwerbung neuer Mitglieder für seinen Club auf.

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Farah Nayeri: Sie ermöglicht, uns unserer gemeinsamen Menschlichkeit bewusst zu sein.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
FN: Eine riesige: Wenn ich den Tag mit einem guten Cappuccino beginne, bin ich wesentlich besser konzentriert und wesentlich produktiver als in meinem Arbeitszimmer …

Wo fühlst du dich zu Hause? 
FN: In London und Paris, an beiden Orten. Das ist die beste aller Welten.

 

BIO

Farah Nayeri ist die Autorin von „Takedown: Art and Power in the Digital Age“, das 2022 in den USA erschienen ist. Die Kulturjournalistin iranischer Herkunft arbeitet seit etwa zehn Jahren für die New York Times, sie lebt in London und Paris. Farah war Korrespondentin für Bloomberg in Paris, Rom und London. Vor drei Jahren hat sie ihren Podcast „CultureBlast“ gestartet.

 

Brigitta Höpler | Café Am Heumarkt, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Brigitta Höpler

 

Das Rütteln vor der Stille

Die Kühlvitrine, stromgenährtes Wahrzeichen des Cafés.
Brummende Geräuschkulisse. Das Rütteln vor der Stille.
Manchmal gibt es zu Mittag Eintropfsuppe.
Und Augsburger mit Röstkartoffel.
Kindheitslieblingsessen.
Serviert auf angeschlagenen Marmortischen.
Hier bin ich kurz aus dem Spiel.
Die Risse in den roten Kunstlederbänken sind
mit Gaffa Tape geklebt.
Drei gold gerahmte Spiegel werfen einander Bilder zu.
An den Kleiderständern Vergessenes aller Art.
Eine blasse Tapete, rankende Blätter,
romantische Architekturandeutungen.
Und dazwischen ein kleines, schwarzes Loch.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur? 
Brigitta Höpler: Welten weiten.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BH: Orte, die zu meinem Leben gehören, seit ich 15 bin.
Meine Biografie könnte ich entlang von Cafés erzählen. 

Wo fühlst du dich zu Hause?
BH: In Städten, in Wien.
An Flüssen, an der Donau. 
In Worten, in meinen Texten.

 

BIO

Brigitta Höpler (*1966) lebt als Autorin, Kunsthistorikerin, Schreibpädagogin in Wien.
Sie ist Dozentin im BÖS-Berufsverband österreichischer SchreibpädagogInnen. Sie veranstaltet Ausstellungen, Lesungen und unterschiedliche Schreibseminare.
Ihre Projekte, Texte und Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Kunst, dem Schreibraum Stadt sowie mit einer Poetologie der Alltagsbeobachtung. 
www.brigittahoepler.at

Gundula Schiffer | Café Feynsinn, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Gundula Schiffer

 

Im Café Feynsinn weiß ich das kraftvolle Beit Haknesset mit dem zarten, aber stabilen Davidstern, der an der Spitze des Pyramidendachs in den Himmel aufragt, in meiner Nähe. Das Portal lässt mich an die Tore Jerusalems denken. Das Beit Hacafé, das Kaffeehaus schaut geschwisterlich nach dem Beit Haknesset, der Synagoge: Kunst und Gebet fechten nicht miteinander, nein, sie achten, umwinden sich neugierig. Der Samtvorhang in der Tür, die glitzernden Kronleuchter und Spiegel verwandeln das Feynsinn in einen Theatersaal. Auf jedem Tisch steht eine Schnittblume in einer eleganten Vase wie eine Schreibfeder im Tintenfass. Durch den Eingang weht eine Brise Paris – das Café ist in einem dieser schönen Altbauten, in roter Schnörkelschrift leuchtet „Feynsinn“ über der Tür. Am Rathenauplatz ist Köln am französischsten, seine Liberté am edelsten. Ein Grüppchen beugt sich über die Boulekugeln auf der Erde wie die Männer am Schabbat über die Torarolle auf der Bima. 
Im Sommer wirkt der Rathenauplatz für mich nahöstlich. Staub liegt nah bei Sand. Sand – da ist er! „Flucht man mich, so möge meine Seele schweigen, meine Seele sei allem gegenüber wie Staub“. Dieser Vers wird in der Amida, als Gebet die Mitte jedes jüdischen Gottesdienstes, gesprochen. Glanzlos, haltlos erscheint der Staub vor dem Kristallglas, in dem sich das Sonnen- und das elektrische Licht brechen, in festen, scharfen Strahlen. Die Füße in den Sandalen brennen, das Französische wird zu Israelischem: einem Stück Wüste. Weil Abraham absolut gehorchte, sich anschickte, Gott seinen einzigen Sohn als Brandopfer darzubringen, wurden Sand und Sterne zu Zeichen eines Segens, der strahlender, dauerhafter ist als jeder Lüster, der Lohn des Ewigen für den Frommen. So suche ich von allen Cafés de Cologne am liebsten das Feynsinn auf, wo eine biblisch-abrahamitische Strenge die sinnlich-vergnügliche Leichtigkeit durchweht – beides trifft sich im herb-süßen Geschmack einer Tasse Kaffee mit Milch, die mir Worte eingibt. 

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Gundula Schiffer: „Triumph der Verletzlichkeit“ hieß einmal eine Tanztheaterkritik. Umklammert von den Nachwehen des Terrors und vom Sterben im Krieg wollte ich im Dezember in Israel nicht tatenlos in einer Schriftsteller-Residenz sitzen. Ich fand ein Krankenhaus für Freiwilligendienste. Und wählte dann doch meine Werkzeuge – das Schreiben und Übersetzen, ich kann kaum etwas anderes gut. Ingold hat Becketts Antwort auf die Frage, warum er schreibe – „Bon qu’à ça“ – darum mit „Bonkassa!“ übersetzt. Elija konnte ein totes Kind wieder zum Leben erwecken. Ein Gedicht-Blatt ist wehrlos, wo ein Schuss fällt. Doch dieses verletzliche „Trotzdem“ birgt eine bleibende Gegenmacht. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
GS: Diese anmutige Stimmung, die von Cafés ausgeht, ähnelt kleinen Theatern, erinnert mich an Bühnen. In Cafés schreibe ich spontane Notate und Betrachtungen. Fürs Textewerken suche ich die Einkehr, vertraute Dinge um mich her. In Cafés genieße ich Gespräche mit Freunden, den Rummel.        

Wo fühlst du dich zu Hause?
GS: Da ich seit über der Hälfte des Lebens mit der hebräischen Sprache, dem Judentum und Land Israel verbunden bin, ist mein Herz auch nach Jerusalem gerichtet, fühle ich mich in Deutschland nicht vollständig. Es macht mir immer Freude, in Israel ein kleines Zimmer geschwind einzurichten: Notizhefte, Computer, Bücher, ein paar Bilder, Kaffeetasse, fertig. Noch teile ich mich auf zwei Orte auf. 

 

BIO

Gundula Schiffer, geboren 1980 in Bergisch Gladbach, lebt als Dichterin und Übersetzerin in Köln. Sie schreibt Lyrik hauptsächlich auf Deutsch, daneben auf Hebräisch und übersetzt sich selbst ins Deutsche. Sie hat Komparatistik sowie hebräische Sprache und Literatur in München und Jerusalem studiert und zur Poesie der Psalmen promoviert. Derzeit schreibt sie, unterstützt durch ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW, an ihrem vierten Lyrikband Fremde Einkehr, der im Herbst 2024 im Verlag Ralf Liebe herauskommt. 

Semier Insayif | Café Diglas im Schottenstift, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Semier Insayif

 

… was ist ein ort.  fragt er. was ist ein ort. sie sagt ich sei hier zu hause. in einem gewissen sinne. mitten im zwischen. ich solle an ein zimmer denken. menschenwesen die hier zu verschwinden versuchen. tief in sich gekehrt. blick zum boden.  andere. die sich zu finden versprechen. den boden unter die füßen zu bekommen. augen zur decke. mit einer tasse tee. kaffee. ein glas wasser. heiß. kalt. mitten unter vielen. einander zu finden. zwischenräume zu schaffen. sich zu verabreden. sich wiederzusehen. ein erstes mal. an ein du zu geraten. an ein fremdes. an ein vertrautes. anzustoßen. ins gespräch zu kommen. sich mit einem du aus zu tauschen. oder gar ein. nur für dieses eine mal. und somit für immer. sie meint ich solle einfach an ein zimmer denken. treppen nach oben. dort ist es ruhig. ruhiger. wenn auch nicht still. nur die stimmen von unten werden hochgespült. so als wäre der klang nur ein ton. die rufe nur ein geräusch. so als wäre der atem nur luft. wenn das so wäre. könnte fleisch doch niemals mensch. könnte stoff doch niemals kleidung sein. sage ich. und holz niemals baum. sie sagt ich solle die augen schließen. meine hände auf den tisch legen. und die spuren begreifen. lack. furchen. rillen. risse.  überprüfen. aus welchem material mein körper sei. mir meine kohlenstoffverbindungen zu herzen nehmen. die augen wieder öffnen. denn das bild. sagst du. das bild. das du siehst.  ist ein abbild von einem bild. das es nicht gibt. sieh mich an. sieh über mich hinweg.  ist dein blick eine frage. kann dein blick je einblick verschaffen. je ausblick auf etwas. oder gar durchblick.  ist dein blick. durchdringung oder fläche. erkenntnis rahmen oder entblößung …  

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur? 
Semier Insayif: für sich und in sich kann literatur bei nahe alles. berühren. anregen. mut machen. deprimieren. in frage stellen. ahnungen schenken. perspektiven erweitern. intensivieren. zur flucht verhelfen. leben retten. leben schenken. und auch nehmen. und sie kann über alle grenzen hinweg verbindungen herstellen. aber auch spalten. und . völlig unbemerkt liegen gelassen werden. harmlos in einer ecke schlummern. dir plötzlich unerwartet ins auge springen. deine herzkammern fluten.  dich beatmen. erkenntnisse entdecken. ein universum erfinden. identität stiften. dich umarmen. ausspucken. und die welt sehnsüchtig poetisieren …. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SI: fokussierung und zerstreuung. an einem ort vieler orte zu sein. heterotopoesis.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SI: manchmal fühle ich mich zu hause zu hause. manchmal gerade eben dort nicht. also dann dort wo nicht mein zu hause ist.  weit weit weg. immer wieder in meinem schreibraum. oder ortsunabhängig  mit menschen die ich liebe. mit einem menschen. wo ich allein sein kann. in einem buch. in einem satz. in einem gedicht. 

 

BIO

semier insayif lebt als freier schriftsteller, dichter und literaturvermittler in wien. er konzipiert, kuratiert und moderiert literarische veranstaltungen wie z.b. „dicht-fest“ im kunstverein alte schmiede oder “verssprechen“ in der österreichischen gesellschaft für literatur. zahlreiche kunstübergreifende projekte und leitung von schreibworkshops. trainer für kommunikation und interaktionsanalyse, supervisor, systemischer coach, mediator. insayif  ist präsident des bös (berufsverband österreichischer schreibpädagog:innen). zuletzt erschienen: „mondasche“ (klever, 2019), „mondasche“ (die cd, mit der cellistin cecilia sipos, 2019), „ungestillte blicke“ (gedichte, klever, 2022); www.semierinsayif.com

Martina Jakobson | Café Schwarzenberg, Wien

Foto: Alain Barbero | Text: Martina Jakobson

 

Es hat mir die Sprache verschlagen

So wie ein Kind 
das im Spiel über einen Stein stolpert
und dem es im Schmerz 
für einen Augenblick die Sprache verschlägt
so bin ich über dein Denkmal gestolpert
russische Sprache
Wien Schwarzenbergplatz Säulengang
im Zentrum die Figur des Soldaten
Februar 2022 beschließe ich 
über mein aufgeschlagenes Knie streichend
an dir – meiner so vertrauten zweiten Sprache –
stumm vorbeizugehen
viele Jahre hast du mich
gleich einer Mutter ihr gestürztes Kind
mit süßer Torte geködert
deine Schichten aus Größe Macht Gewalt 
sind mir zu bitter
ich schiebe dich zur Seite 
selektiver Mutismus nennt man es
nur dann zu sprechen
an selbstgewählten Orten
und mit wem man will
wieder und wieder rasselst du
inmitten der lauten Menge 
die immergleichen Sprüche
du hast nicht bemerkt 
deine Zeit auf den Plätzen läuft ab
1956 Budapest
Praha
Warszawa
Sofia 
2024 Kyiv – wohin?
die Fontäne vor deinem Abbild höher montiert
eine Wand hinter deinem Rücken installiert
die Steine gelb und blau angesprüht 
ein ermordetes Lächeln hinzugefügt
im Schatten deines Sockels 
wuchern Büsche Gras Felder 
hinkend trat ich in ihre Stille ein
und habe Schätze gefunden
Stöckchen für ein Feuer
kupfergrüne Käfer
Pirole in den Kronen
Muscheln Alter Hafen Marseille
Restaurant “Basso“
wilde Beeren 
Hasensprünge
und stöbernd traf ich 
auf die Lichtung meiner köstlichen Sprache
den Kescher in der Hand
vereinzelt Rehe

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Martina Jakobson: Betrachten und Zweifeln; es ist, als nähme ich eine Taschenlampe in die Hand und der helle Lichtschein der Sprache beleuchtet die Gegenwart und die Vergangenheit.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
MJ: Ich habe eine heimliche Leidenschaft, ich beobachte gern Menschen; im Café treffen die verschiedensten Charaktere aufeinander; und die Orte, wo sich die Cafés befinden oder auch nicht mehr befinden, erzählen Geschichten. In Wien gehe ich aber auch gern ins Kaffeehaus, weil die Auswahl an Torten vorzüglich ist. Als ich 2016 nach Wien gezogen bin, habe ich mich durch die verschiedensten Cafés mit Sachertorte durchgekostet. Und hier trifft man Freunde, um zu reden oder zu Lesungen, diese Tradition liebe und kenne ich auch noch aus meiner Heimatstadt Berlin.
Das Café Schwarzenberg suche ich auf, um in die Zeitgeschichte einzutauchen.  Von hier aus, an der Ringstraße, fällt der Blick in Sichtachse bis auf den Schwarzenbergplatz und das sogenannte Wiener „Russendenkmal“, das nach der Einnahme Wiens durch die Sowjetarmee 1945 errichtet wurde. Und selbst das Mobiliar des Cafés, ein großer Spiegel, trug bis in die 1970er Jahre die Spuren, etwa Sprünge und Einschusslöcher, weil sowjetische Offiziere hier feierten. Ein Kellner hat mir gezeigt, wo dieser Spiegel früher angebracht war, und so sitze ich heute in einem anderen Kontext in diesem Teil des Cafés.

Wo fühlst du dich zu Hause?
MJ: Zu Hause fühle ich mich eigentlich nirgends mehr, zu Hause ist für mich ein Moment, dort, wo ich die Winkel einer Stadt erkundet habe und diese später, gleich einem Hund mit seiner Spürnase wiedererkenne. Ich habe etwa längere Zeit in Marseille gelebt. Als ich am Quai des Belges den Ort des einstigen Restaurants „Basso“ gefunden hatte, das Walter Benjamin in „Haschisch in Marseille“ beschreibt, habe ich die darin beschriebene Atmosphäre anders verstanden. Deshalb beziehe ich mich in meinem Text „Es hat mir die Sprache verschlagen“ unter anderem auch auf diesen Ort.

 

BIO

Martina Jakobson, geboren 1966 in Ost-Berlin, wuchs in Moskau und Berlin zweisprachig in einer Familie mit russischen und ukrainischen Wurzeln auf. Sie ist Autorin, Pädagogin und Literaturübersetzerin aus dem Russischen, Belarussischen und Französischen. Seit 2016 lebt sie in Wien und im Südburgenland (Österreich). Sie ist Mitglied der IG Übersetzerinnen Übersetzer Wien, des Forum Mare Balticum sowie des PEN Berlin.
Ihr Lyrikband „Hier biegen wir ab“ erschien 2022 in der edition lex liszt 12.

Anicée Willemin | Brasserie de Montelly, Lausanne

Foto: Alain Barbero | Text: Anicée Willemin | Übersetzung aus dem Französischen: Yla von Dach

 

 


Interview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Anicée Willemin: Die Literatur kann alles, die Poesie kann alles. Sie ist der einzige Ort absoluter Freiheit. 

Welche Bedeutung haben Cafés für dich? 
AW: Die Cafés sind ein Katalysator, eine Art teilnehmendes Beobachten, das seinen Namen nicht nennt. Die Cafés sind ein Adjuvans. Manchmal sind sie das Leben selbst. Manchmal sind sie ein poetischer Moment. Manchmal nur ein blasser Abglanz. In jedem Fall laden sie zum Beobachten ein. Ein Beobachten ausserhalb seiner selbst und in sich selbst, wie ein tiefer Singsang, ein schwindelerregender Abstieg, eine nie endende Entropie.

Wo fühlst du dich zu Hause? 
AW: Ich fühle mich an gewissen Orten zu Hause, hauptsächlich aber in mir selbst, meiner grössten Zugangsquelle zur Aussenwelt. Wenn ich mich innerlich gut fühle, werde ich mich auch draussen gut fühlen. Dann fühle ich mich überall gut. Der Ort, an dem ich mich am meisten zu Hause fühle, ist jedoch die Poesie. 

 

BIO

Anicée Willemin ist a-ni-c. Sie ist und wird, was sie gerade wird. Getragen vom dröhnenden Atem des Absoluten hat sie den Blick vor allem auf poetisch-fragmentierte Räume gerichtet und ihre Musik genährt, während diese sie nährte. Sie kommt aus einem kleinen Juradorf und ist eine frische Vierzigerin, die sich durch Feld und Wiesen tollt und tummelt und ohne Unterlass das Leben ausprobiert, desgleichen das Leben des grünenden Schreibens. Ihr erster Gedichtband, Les balcons étaient comme des roses d’eau entêtantes (Die Balkone waren wie betörend duftende Wasserrosen) ist im März 2023 bei den Editions du Griffon in Neuenburg (Schweiz) erschienen.