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Sibylla Vričić Hausmann | Café Grundmann, Leipzig

Foto: Alain Barbero | Text: Sibylla Vričić Hausmann

 

Ich bleibe Fremdkörper. Bedient werden löst Schuldgefühle in mir aus. Alleine im Café sitzen, Hochstaplerinnengefühle. Vielleicht, weil ich vom Dorf bin, als Jugendliche eher im Wald und an der Bushaltestelle herumhing. Als Kind waren Cafés bzw. Kakaos, Kuchen und Eis die Lockmittel, mit denen man mich zu Wanderungen oder anderen sportlichen Aktionen überreden konnte. Beim Skifahren brach sich mein Bruder einmal den Arm. Ich konnte es nicht fassen, dass wir die Piste verließen, ohne dass ich meinen „Chocolat Chaud“ bekommen hatte. Dabei waren doch das An- und Abpellen des Skianzugs, das Laufen in den Skischuhen und Schleppen der Skier, das Fahren mit dem Skilift, das halsbrecherische Bergrunterrutschen und die beißende Kälte schlimmste Zumutungen für mich! Vor einiger Zeit war ich mit meiner Mutter und meinem Stiefvater, der im letzten Jahr gestorben ist, hier, im Café Grundmann. Mein Stiefvater machte sich prinzipiell gut in Cafés. Ich stelle mir vor, dass er sich in ihrer Halböffentlichkeit heimisch fühlte, weil seine Eltern einen Lebensmittelladen besaßen, in dem er als Kind viel Zeit verbrachte. Ins Grundmann passte mein Stiefvater besonders gut. Weil es elegant ist, ein bisschen altmodisch, weil ein Klavier herumsteht und es – den Plakaten nach – hier Jazzkonzerte gibt. Die Fotosession war lang und hat mich natürlich vor den anderen Gästen und den hier arbeitenden Menschen sehr exponiert. Ich weiß nicht, lieber Alain, wie du es geschafft hast, dass ich mich dabei wohl gefühlt habe.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Sibylla Vričić Hausmann: Ein Ort, an dem ich nicht alleine bin – aber doch für mich sein kann. Also vielleicht das, was für andere Cafés sind.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SVH: Ich suche sie eher selten auf. Manchmal aber sind sie Orte der Belohnung, der Muße, des besonderen Moments. An einem Sommertag mit meinen Kindern an einem runden kleinen Cafétisch sitzen, Eis essen und mit dem Fuß im Kies knirschen …

Warum hast du das Café Grundmann ausgewählt?
SVH: Es ähnelt einem Wiener Kaffeehaus – Schauplätzen literarischer Kultur, die ich nicht selber kennen gelernt habe, aber interessant und anziehend finde. Vielleicht, ja vielleicht, wird doch noch etwas von ihrem Charme auf mich übergehen und ich werde irgendwann in einem Kaffeehaus neu schreiben und lesen lernen.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
SVH: Ich koche mir Kaffee. Schreibe an meinem Buch und schreibe Gedichte. Tagebuch. Gutachten. E-Mails. Bewerbe mich. Verfolge die Nachrichten und tausche mich mit Freundinnen aus. Spiele mit meinen Kindern. Versorge uns. Wasche Geschirr ab. Höre Radio. Surfe. Gehe zum Psychologen. Schlafe, schlafe, schlafe. Träume. Ich bereite mich auf die extrovertierteren Phasen des Jahres vor.

 

BIO

Sibylla Vričić Hausmann, geb. 1979 in Wolfsburg. Studium in Münster (WWU) und Berlin (FU), danach Projekte in Berlin, Praktikum am Goethe-Institut in Sarajevo; lebte 2009-2012 in Mostar, Bosnien und Herzegowina, wo sie an einem Theater arbeitete. 2014-2017 Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist neben dem eigenen Schreiben als Dozentin für Literarisches Schreiben und Lektorin tätig und moderiert bei literarischen Veranstaltungen. Mitbegründerin des Blogs „Other Writers Need to Concentrate“ (zus. mit Katharina Bendixen und David Blum 2020) und der Lesereihe „Zürn“ (zus. mit Özlem Özgül Dündar 2022). Vričić Hausmann erhielt u.a. den Orphil-Debütpreis 2018 (für ihren Lyrikband „3 FALTER“, poetenladen Verlag), ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin 2019 und das Rainer-Malkowski-Stipendium 2022. Im März 2023 wird ihr aktueller Gedichtband „meine Faust“ (kookbooks Verlag) als „Lyrik-Empfehlung 2023“ ausgezeichnet. Sie lebt mit zwei Kindern in Leipzig.

Emanuil A. Vidinski | Mi Casa, Sofia

Foto: Alain Barbero | Text: Emanuil A. Vidinski | Übersetzung des Textes aus dem Bulgarischen: Emanuil A. Vidinski & Daniela Gerlach

 

Neulich, da sah ich meine Hand altern 
es war Herbst, Sonntag, die Sonne schien
Ich sah diese kleinen Vorboten der Stille
die feinen Linien auf der Haut, wie Neugeborene
die ihr Recht auf Leben einfordern
mit dem unerschütterlichen Willen zu wachsen
und sich zu vertiefen
in ihrem Eifer

Ich sah meine Hand altern
und sie tat mir leid
so rührend in ihrer Verletzlichkeit 
und so lautlos
wie sie alles so klaglos erträgt
wovon sie nichts weiß

 

Original (Bulgarisch)

Онзи ден видях ръката си да остарява
беше есен, неделя, слънцето грееше
видях тези малолетни предвестници на тишината
фините бръчици по кожата, като новородени
да заявяват правото си на живот
с непоколебимата воля да растат
и задълбават
в усърдието си

Видях ръката си да остарява
и ми дожаля
такава една трогателно безпомощна
и тиха
да понася безропотно всичко
за което не знае

 

Kurzinterview mit dem Autor

Was kann Literatur?
Emanuil A. Vidinski: Literatur kann fast alles. Die Zeit zum Stehen bringen, Sinn geben, Empathie lehren, sie kann einen Ausweg bieten, Wissen weiter geben, Trost spenden und nicht zuletzt – sie kann Wunden, die nicht bluten, aber weh tun, heilen.

Was bedeuten Cafés für dich?
EAV: Ein schönes Café kann wie ein zu Hause sein. Wenige Orte können das. Deswegen schätze ich gute Cafés sehr. Es muss ruhig sein und viele Fenster haben.

Wo fühlst du dich zu Hause?
EAV: In bestimmten Cafés und in Bibliotheken. In einem Raum voller Bücher habe ich immer das Gefühl nicht verloren zu sein. Es ist das vertraute Gefühl, das man zu Hause hat. Wo Bücher sind, hat man den Eindruck als gäbe es keine Ecken, und sogar wenn man stolpern und fallen sollte, würde man weich aufkommen.

 

BIO

Emanuil A. VIDINSKI (1978) ist ein bulgarischer Schriftsteller, Dichter, Verleger und Musiker. Zu seinen Werken zählen die Erzählbände »Kartografii na biagstvoto« (»Kartografien der Flucht«, 2005) und »Egon i tishinata« (»Egon und die Stille«, 2015) sowie der Roman »Mesta za dishane« (»Orte zum Atmen«, 2008). Als Musiker war Vidinski Sänger und Gitarrist in der von ihm gegründeten »Par Avion Band«. Der bulgarisch-deutsche Lyrikband »Par Avion« wurde von Petya Lund ist Deutsche übersetzt und vom eta Verlag in Berlin herausgegeben (2017).

Ildikó Boldizsár | Kelet Kávézó és Galéria, Budapest

Foto: Alain Barbero | Text: Ildikó Boldizsár | Übersetzung (aus dem Ungarischen): Andrea Zambori

 

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Ort in Budapest, wo alles vorhanden ist, was man für ein gemächliches Kaffeetrinken braucht. Ich spreche nicht vom leckeren Kaffee, das ist Grundvoraussetzung. Ich erzähle lieber, was mir dieses Café in den verschiedenen Tageszeiten gibt.
Wenn ich am Morgen hier einkehre, beobachte ich gerne die aufdämmernde Stadt, die huschenden Straßenbahnen und die Vögel, die auf den Bürgersteig fliegen und Krümel picken. Ich wache gerne mit dem Latte auf, der hier vor mich auf den Tisch gestellt wird, weil es nicht bloß ein angenehmes Getränk ist: In ihm steckt nämlich die aktuelle Stimmung des Barista. Aber hier gibt es keine mürrische, lustlose Baristas oder hektische Kellner. Jeder bekommt ein nettes Wort und so kann der Tag gut beginnen. Ich lese meine Aufgaben durch, schreibe ein paar E-Mails, dann beobachte ich wieder die Vögel auf der Straße.

Mittags ist die Stimmung wieder anders: Die Studenten kommen zum Mittagessen an, viele kehren aus den nahegelegenen Ämtern zu einem Grillsandwich oder einem leichten Gemüsegericht ein. Mein Lieblingsessen ist der  Curry mit Austernpilz, aber ich muss zugeben, dass ich nicht wegen des Essens hierherkomme. Ich mag dieses wohltuende Rauschen, die Menschen, die sich über die Gerichte freuen und ich höre mir gerne die freudigen Gespräche und die Gelächter an. Was alles an einem halben Tag passieren kann!

Nachmittags und abends zeigt dieser Ort wieder ein anderes Gesicht. Verliebte, Freunde sitzen an den Tischen, es gibt nie einen freien Platz, ich muss warten, bis ich an der Reihe bin – aber ich warte immer geduldig, weil der Moment kommt, in dem ich mich an meinen Lieblingsplatz in der Ecke setzen kann. Dann kommt das, was der Grund ist, warum ich so gerne hierherkomme: Ich greife nach einem Buch im Bücherregal und nehme eins zu mir. Ja, das ist es! Für mich gehören Kaffee und Buch zusammen. Wenn ich alleine hierherkomme, bin ich auch nicht alleine, weil ich mich mit den Büchern unterhalten kann. Dazu habe ich sehr viele Möglichkeiten, da in diesem Café sich 5-6000 Bände befinden. Diese ändern sich ständig, da die Bücher zum Tausch vorgesehen sind.

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Ort in Budapest, in der Bartók-Béla-Straße, er heißt Kelet Café und Galerie, dieser ist mein Lieblingsort.

 

 

Original (Ungarisch)

Képzeljék el, van egy hely Budapesten, ahol minden együtt van, ami egy meghitt kávézáshoz szükséges. A finom kávét meg sem említem, ez alapkövetelmény, inkább arról mesélek, mit ad nekem ez a kávézó a különböző napszakokban. Ha reggel térek be ide, szeretem nézni az ébredező várost, az elsuhanó villamosokat és a járdára röppenő, morzsákat csipegető madarakat. Szeretek azzal a lattéval ébredni, amit itt tesznek elém, mert nem csupán egy kellemes ital: benne van az ízében a barista éppen aktuális hangulata. Márpedig ezen a helyen nincsenek morcos, kedvetlen baristák, kapkodva kiszolgáló pincérek. Mindenkinek jut egy kedves szó, és máris jól indul a nap. Átnézem a teendőimet, megírok néhány e-mailt, aztán újra a madarakat figyelem az utcán.

Délben egészen más a hangulat, ebédre érkeznek az egyetemisták, a közeli hivatalokból is sokan beugranak egy grillszendvicsre vagy valami könnyű zöldséges ételre. Kedvencem a laskagombás curry, de bevallom, hogy nem az étel miatt jövök ide. Szeretem hallgatni ezt a jóleső zsizsgést, szeretem nézni az embereket, ahogy örülnek az ételeknek, és szeretem hallgatni a jókedvű beszélgetéseket és nevetéseket az asztalok között. Nahát, mennyi minden történhet fél nap alatt!

Délután és este megint más arcát mutatja a hely. Szerelmesek, barátok ülnek az asztaloknál, sosincs szabad asztal, várni kell, amíg sorra kerülök – de várok türelmesen, mert eljön az a pillanat, amikor leülhetek kedvenc kis kuckómban, a sarokban. És akkor következik az, amiért a legjobban szeretek idejárni: felnyúlok a könyvespolcra, és leemelek egy könyvet. Igen, ez az! A könyv és a kávé nálam összetartozik. Ha egyedül jövök ide, akkor sem vagyok egyedül, mert beszélgethetek a könyvekkel, amire jó sok lehetőségem van, mert a kávézóban 5-6000 kötet található. Ezek naponta változnak, mert egy cserekönyvért bárki elvihet egy másikat.

Képzeljék, van egy hely Budapesten, a Bartók Béla úton, Kelet Kávézó és Galéria a neve, és ez az én kedvencem.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Ildikó Boldizsár: Als ich ein kleines Mädchen war, konnte ich mich nicht entscheiden, welchen Beruf ich wählen soll. Ich wollte gleichzeitig alles sein: Ornithologin, Kardiologin, Gärtnerin, Entdeckerin, Weltreisende … Es wurde mir schnell klar, dass es unmöglich ist. Deswegen bin ich Schriftstellerin geworden: Weil ich beim Schreiben jeder und alles sein kann. Ich finde, das ist die Rolle der Literatur und ihr Ziel: Den Menschen die unendlichen Möglichkeiten zeigen und sie in solche innere und äußere Landschaften mitnehmen, zu denen sie ohne Bücher nie gelangen könnten.

Was bedeuten Cafés für dich?
IB: In den letzten Jahren war ich sehr oft unterwegs und der erste Weg führt immer in ein Café. Ich setze mich hin und schaue mich aufmerksam um. Man kann sehr viel über eine Stadt und die Bewohner erfahren.

In Cafés kann man Fragen stellen, sich erkundigen, ins Gespräch kommen. In Cafés – egal wo auf der Welt sie sind – rauscht das Leben, die Informationen tauschen sich aus, es passiert immer etwas Interessantes.

Wo fühlst du dich zu Hause?
IB: Als ich noch jünger war, habe ich mich deshalb auf den Weg gemacht, weil ich die Antwort auf diese Frage beantworten wollte. Ich habe die halbe Welt bereist, weil ich gedacht habe, es wird einen Ort geben, wo ich mich endlich zuhause fühle. Ich war sehr enttäuscht, weil es nicht geschehen ist, obwohl ich viele Orte besucht habe, bei denen ich das Gefühl hatte: „Das hier wurde für mich erfunden.“
Mein Weg hat zu wildromantischen Meeresküsten, mediterranen Waldstücken, in den Himmel steigenden Bergen und Hütten am See geführt. Dann ist mir klar geworden , dass ich nach meinem „Zuhause“ umsonst da draußen suche, ich werde es ausschließlich in mir finden. Und genauso ist es passiert. Seitdem fühle ich mich überall zu Hause, egal, wo ich bin.

 

BIO

Ildikó Boldizsár, Schriftstellerin, Märchenforscherin, Märchentherapeutin, Dozentin. Achtundfünfzig Bücher sind von ihr in Bezug auf Märchen erschienen: Sammlungen, Theorien und eigene Märchen.
Sie hat die Metamorphoses Märchentherapie Methode ausgeartet, welche sie sowohl in Ungarn, als auch im Ausland unterrichtet. Sie hat drei Kinder und drei Enkelkinder. Sie lebt in Budapest, wenn sie nicht gerade unterwegs ist. Sie ist eine leidenschaftliche Weltreisende.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Selim Özdoğan, Café Soleil, Köln, Cologne

Selim Özdoğan | Café Soleil, Köln

Foto: Alain Barbero | Text: Selim Özdoğan

 

Da war eine Zeit, da ging es darum, nicht weich zu werden. Die Wut zu bewahren. Keinen Millimeter nachzugeben. Wenn du nachgibst, gewinnen die da draußen. Es gab eine Zeit, da lief Cassandra Complex: I want to grow old and cold and lonely / As long as you don’t win / Win / You didn’t win.
Dann kam die Zeit, in der ging es darum, weich zu werden. Durchlässig. Nachgiebig. Sich allem auszusetzen, was man Leben nennen konnte. Berührt zu werden von jedem Wort und jedem Blick, jeder Hand und jedem Herz. Es gab kein draußen mehr und es gab auch nichts zu gewinnen. Es gab nur noch etwas zu schmecken. Mit allen Sinnen.

 


Kurzinterview mit dem Autor 

Was kann Literatur?
Selim Özdoğan: Literatur kann Räume öffnen und bietet die Möglichkeit zu Kontakt. Kontakt entsteht an den Grenzen, den Grenzen der eigenen Welt.
Außerdem kann Literatur die Musik sein, die wir manchmal Liebe nennen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
SÖ: Mittlerweile schaue ich nach Orten, wo es Kuchen gibt, der den Kindern gut schmeckt.
Ansonsten bieten Cafés die Möglichkeit guten Kaffee zu trinken, zu reden und zu trödeln. Alles wichtige Dinge in meinem Leben.

Wo fühlst du dich zu Hause?
SÖ: Wo die Musik stimmt. Die Musik zwischen den Menschen, die Musik zwischen mir und den anderen Menschen.

 

BIO

Selim Özdogan, geboren 1971, hat seit  seinem Debut 1995 „Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist“ (Aufbau Taschenbuch) zahlreiche Romane, Erzählungen und Hörbücher veröffentlicht. Dafür gab es Preise und Stipendien. Er trinkt Kaffee, praktiziert Yoga, isst dunkle Schokolade, redet, liest, hört Musik und macht Atemübungen.

Baya Streiff | Le Murmure fracassant, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Baya Streiff | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Alles beginnt mit einem Ende der Nacht wie ein Schattentheater, mit seinen weißen Wolken, die aussehen wie Hängeleuchten. Ist es der schwere Duft der Buchsbaumblüten, der das Nasenloch packt, oder diese schlichte Freude, den Klang dieser Klarinette aus der Métro entwischen zu hören, die mich dazu bringt, meine Schritte auf dem lockeren Pflaster laut hallen zu lassen? Die Stadt frohlockt. Die Luft verströmt einen berauschenden Duft nach warmer Brioche. Überall, auf dem Asphalt, ein Festspiel bunter Silhouetten, wie ein riesiges Kaleidoskop. Darüber tirilieren hunderte Vögel ihre fröhliche Morgenkantante. In den Gastgärten schwadronieren Großsprecher schon vor ihren Schönen. Auf dem Tisch, vergessen, laue Cocktails … Gegengenüber laufen ängstliche Menschen in alle Richtungen über den Boulevard, wie geköpfte Hühner. Einem Floristen begegnen, vor dem sich alte Blumenstrauß-Auskenner anstellen, mit Händen wie Marionettenspieler, in widerstreitenden Erinnerungen verloren. Draußen der Himmel, wie eine Kuppel. Von wo mir dieses Bedürfnis kommt, ein wenig im lüsternen Frühlingslicht zu bummeln, bevor ich mich endlich hinsetze, schlotternden Herzens, um mir den ersten Kaffee des Morgens in der Bar „Le Murmure fracassant“ schmecken zu lassen.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann die Literatur?
Baya Streiff: Die Literatur hat mich seit jeher begleitet. Sie verleiht dem Leben Eleganz und ist außerdem eine treue Freundin. Schreiben ist ein bisschen wie rückwärtsgehen, um die Zeit umzukehren… Die Literatur lässt mich an einen Riss in der Zeit denken, der alle Geschichten möglich macht.


Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
BS: Die Cafés stehen für die glücklichen Stunden, oft auch für die des Wartens. Manchmal kann dieses Warten quälend werden und sich in eine Ungeduld verwandeln, die mich durchschüttelt und die mir gefällt. Es ist schwindelerregend zu sehen, wie eine Abwesenheit den Raum einnehmen kann. In diesen Momenten wollen meine Gedanken nicht dorthin, wo ich sie haben will!


Wo fühlst du dich zuhause ?
BS: Hier in diesem Café, in dem sich die ganze Unruhe der Stadt verabredet zu haben scheint. Alles Gemurmel der Welt ist hier vereint. Es wirkt auf mich wie eine Pforte des Möglichen. Man kann Bücher lesen oder seine Schallplatte mitbringen, um für Stimmung im Café zu sorgen. Ich habe hier schon Bücher verlassen oder welche gefunden, auf der Bank im Stich gelassen. Sein traumhaftes Universum gefällt mir, mit seinen monumentalen Toren des Paradieses, der Hölle und der Abgründe. Alles regt hier zum Träumen an und kitzelt die Phantasie.

 

BIO

Baya Streiff arbeitet in Paris bei der Jugendgerichtshilfe. Ihre Leidenschaft fürs Reisen, die Photographie und die Literatur speisen ihre Phantasie und ihre romanhafte Sicht auf das Leben.
Ihr erster Roman « Les hasards exagérés » („Die übertriebenen Zufälle“), bei den Éditions du 7e Ciel veröffentlicht, zeichnet die Geschichte Monas nach, in der sich Geheimnisse und Gewissensbisse andeuten und uns von hier nach dort auf dem Schachbrett des Lebens führen, um auf den weißen und schwarzen Feldern des Wegs zur Reife voranzuschreiten. Dieser Roman fragt danach, wie man die Desillusionierungen des Erwachsenenalters vorausahnen kann.
Das Buch fiel dem Regisseur Philippe Faucon auf, der es verfilmen wird.

Daniela Gerlach | Bodega Casa Benjamín, Dénia

Foto: Alain Barbero | Text: Daniela Gerlach

 

Vielleicht war´s nur …

Ich sitze wirr im Café Wirr und schlürfe Wörter aus der Tasse.
Da kommt ein Mann mit Stock und bietet mir die Zeitung an. Sie ist von 1910 und riecht nach feuchtem Hundefell. Ich nehme sie und lese breit, der Mann mit Stock, der wartet still.
Auf einmal purzeln Wörter raus, aus Mund und Nase, aus dem Blatt. Wir heben manches auf und stecken´s in die Jackentasche.
Das Blatt wird leer, der Kaffee kalt, der Rest an Wörtern schwimmt am Grund.
Ja, mein Herr, es ist wie damals. Er nickt, ganz recht, die Zeit vergeht.
Nur die wirrtenWörter bleiben.

(Vielleicht war alles nur ein Tagtraum im Casa Benjamín. Vielleicht)

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was kann Literatur?
Daniela Gerlach: Sie kann uns ebenso bewegen, aufrütteln, als auch beruhigen und uns zum Nachdenken bringen, Freude bereiten. Alles, wozu wir als Menschen fähig sind, kann Literatur, sowohl  im positiven als auch negativen Sinn.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
DG: Sie sind Zwischenorte, ein besonderer Raum zwischen dem mir Bekannten, Gewohnten und dem Raum, der voller Fremdheit, dabei voller Erwartungen ist, in dem alles Mögliche passieren kann, auch in meiner Phantasie. Und hier wiederum ist eine Verbindung zu einer neuen Geschichte möglich.

Wo fühlst du dich zu Hause?
DG: Nirgendwo wirklich zu Hause, höchstens wohl. Das ist dort, wo meine Freunde sind, meine Arbeit, wo mir gewisse Gewohnheiten lieb geworden sind, wo ich atme.

 

BIO

In Dortmund geboren, in Spanien Fuß gefasst, ansonsten auf Reisen.
In Dénia betreibt sie den kulturellen Salon la ñ. Sie ist Mitglied des LiteraturRaumDortmundRuhr, mit dem sie verschiedene literarische Projekte realisiert hat.
„Die Art der Geschichten und ihre Personen sind nie gleich, sie rollen und kräuseln sich wie die Wellen, sie haben ihre Melodie, die mir zu Ohren kommt, wenn ich sie schreiben soll. Zur Zeit ist es eine Folge von „Im Dorf der Witwen“, was gar nicht geplant war.“ 
www.danielagerlach.de

Elsa Flageul | Bistro Chantefable, Paris

Foto: Alain Barbero | Text: Elsa Flageul | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Unmöglich, in Cafés zu schreiben.
Unter Menschen zu schreiben. Mit der Musik zu schreiben, mit dem Radio, mit meinen Kindern. Unmöglich die Worte und Menschen zu verquirlen, die Worte und die Gespräche, das Geräusch der Kaffeemaschine, die herausgeputzte Bedienung, die Mamas ad libitum, die kleinen Kümmernisse, die zu trösten sind. Das Leben auf der einen Seite, die Worte auf der anderen. Und dabei müssen die Worte am Leben saugen, es greifen, es erwarten; sie müssen an der Straßenecke lauern, so mit einem Hauch von bösem Jungen, von bösem Mädchen: gib mir alles was du hast, los, erzähl mir alles was du weißt, was du sonst niemandem sagst, vor allem das, was du niemandem sagst, ey verdammt, worauf wartest du noch. Worte wie losgelassene Hunde. Die täglich Nahrung brauchen, vernebelte und vom Leben gebeutelte Morgen, fiebrige Abende und Körper, die sich finden, Entzücken und Gewitterstürme, die angeschwemmte Zeit auf dem Gesicht, auf der Brust, auf dem Herzen.
Die tägliche Nahrung.

 


Kurzinterview mit der Autorin

Was bedeutet Literatur für dich?
Elsa Flageul: Die gemütliche Einsamkeit des Lesens, und die nicht immer gemütliche, aber stets geliebte Einsamkeit des Schreibens.

Was bedeuten dir Cafés?
EF: Orte der Wärme, der Freude und der verlorenen Zeit.

Warum hast du das Bistro Chantefable ausgewählt?
EF: Weil ich die Pariser Brasserien liebe, die ich vielleicht wegen der Filme von Claude Sautet bevorzuge, und das Le Chantefable ist, außer eine typische Brasserie zu sein und in der Nähe meiner Wohnung zu liegen, voller Menschen, die so warmherzig wie der Ort selbst sind.

Was machst du, wenn du nicht in Cafés bist?
EF: Ich schreibe, ich kümmere mich um meine Kinder, ich lebe.

 

BIO

Elsa Flageul ist Schriftstellerin und lebt in Paris, wo sie auch geboren wurde. Sie hat sechs Romane im Julliard Verlag, danach im Mialet-Barrault Verlag veröffentlicht. Ihr letzter Roman „Hôtel du bord des larmes“ ist im März 2021 erschienen. Zur Zeit arbeitet sie an ihrem nächsten Roman.

Éric Genetet | Aedaen Place, Straßburg

Foto: Alain Barbero | Text: Éric Genetet | Übersetzung aus dem Französischen: Georg Renöckl

 

Das Erwachen 

Er wartet, allein ganz hinten im Café, jeden Morgen beim Aufsperren wartet er. Wie wird sie angezogen sein, sehr warm eingepackt oder unbekleidet, so leicht? Und wie ist ihr Gang, stöckelnd oder anmutig, humpelnd oder schwebend? Ihre Art ihn anzusehen, schief oder neidisch, phantasievoll oder misstrauisch? Er bestellt einen dritten Espresso, er beobachtet, wie die Leute kommen und gehen, er sieht niemanden, er ist blass wie eine Statue, schlapp wie ein antriebsloser Mechaniker. Er blickt auf den Bildschirm seines Computers, die Finger auf den Tasten, und er wartet, dass sie endlich ankommt, seine flüchtige Verlobte, sein Papiermond, seine Göttliche, sein gnadenloses Glück, seine Quelle, diejenige, die auf niemanden wartet, die ihm Tränen entlockt, so meint er. Und dann, zuerst zögerlich, erscheint sie, sie nimmt Platz und er wacht auf, er lernt wieder zu denken, sich etwas vorzustellen, im Tageslicht zu gehen. Er lässt sie nicht los, er hält sie zurück, er bestellt ihr ein Universum, noch einen Espresso. Sie bleibt einige Minuten, manchmal Stunden, dann geht sie wieder, immer frei, nie unterwürfig. Er hebt den Blick, sie ist schon nicht mehr da.  

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich? 
Éric Genetet: Sie definiert mein Leben, sie macht aus mir manchmal einen freien Menschen. 

Was bedeuten dir Cafés?
EG: Sie sind der Ort, an dem ich groß geworden bin, der Ort der ersten Rendez-vous, der weißen Seiten. Ich schreibe gern dort, trete dort gern in meine Welt ein, während es um mich herum rundgeht. 

Warum hast du das Aedaen Place gewählt?
EG: Wegen seiner Wärme, seiner Bücherwand, seiner Anmutung eines Wohnzimmers aus einer entfernten Epoche. Aber ich hätte auch zehn andere Orte wählen können, ich bin sehr unstet, was Cafés betrifft.  

Was machst du, wenn du nicht in Cafés bist?
EG: Ich kann auch zuhause schreiben, oder wenn ich durch die Straßen ziehe, von Café zu Café, oder in den Zügen von einer Stadt in die andere.

 

BIO

Éric Genetet ist 1967 in Rueil-Malmaison geboren. Er beginnt seine Laufbahn als Radio- und Fernsehjournalist, ehe er zu den Printmedien wechselt. Romanveröffentlichungen: „Le fiancé de la lune“ (2008, ausgezeichnet mit dem Preis Talent Cultura) „Et n’attendre personne“ und „Solo“ (2013), „Tomber“ (2016, Prix Folire und Prix de la ville de Belfort), „Un bonheur sans pitié“ (2019) und „On pourrait croire que ce sont des larmes“ (2022), alle im Verlag Héloïse d’Ormesson.

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Pascal Dessaint, L'Évasion, Toulouse

Pascal Dessaint | L’Évasion Bar, Toulouse

Foto: Alain Barbero | Text: Pascal Dessaint | Übersetzung aus dem Französischen: Daniela Gerlach

 

Wenn man vernünftig ist
überquert man nicht die Strasse
um der Unbekannten zu sagen dass sie einen verwirrt

Wenn man vernünftig ist
nimmt man nicht den Weg
der zu der unbeachteten Schönheit führt

Wenn man vernünftig ist
begibt man sich niemals aus reinem Vergnügen
in die Gefahr zu fallen

Wenn man vernünftig ist
hat man niemals Träume die sich nicht erfüllen könnten
und das ist schade

Wenn man vernünftig ist
hat man nie die Wahrheit vor Augen
ein magisches Gefühl ein rotes Kleid

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was kann oder soll Literatur?
Pascal Dessaint: Sie soll vor allem Freude bereiten. In dem Moment aber, wenn sie von der Welt zeugt, scheint sie mir auch eine essentielle Funktion zu erfüllen. Bezeugen, und vielleicht auch manchmal sich empören, warnen!

Welche Bedeutung haben Cafés für dich?
PD: Cafés sind der Rahmen für viele Szenen in meinen Romanen. Manchmal hänge ich da ab, um den Puls der Zeit zu fühlen, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der mich inspiriert. Es ist schon oft passiert, dass ich einem meiner zukünftigen Charaktere begegnet bin …

Wo fühlst du dich zu Hause?
PD: Momentan, oft weit weg von den Menschen! Ich versuche, so oft wie möglich dem Gelärme der Zivilisation zu entkommen, und das wird immer schwieriger. Ein Berg, ein Wald, eine Heidelandschaft … Da, wo ich meine Zerbrechlichkeit spüre, und wie relativ meine Wichtigkeit ist.

 

BIO

Pascal Dessaint wurde in Dunkerque geboren. Er lebt in Toulouse. Seine Romane wurden mit dem Grand Prix de la littérature policière (Großer Preis für Krimi-Literatur), dem Prix Mystère de la Critique und dem Jean-Amila Meckert-Preis ausgezeichnet. 1999 erschien „Du bruit sous le silence“, der erste Krimi, der in der Welt des Rugby spielt. Seit „Mourir n’est peut-être pas la pire des choses“, 2003,  geht es in vielen seiner Bücher um die misshandelte Natur. In „Loin des humains“, 2005, beschwört er die Katastrophe im Chemiewerk AZF in Toulouse herauf und den Metaleurop-Skandal in „Les derniers jours d’un homme“, 2010. Unter seinem Werk befinden sich auch persönlichere Schriften sowie Chroniken und Streifzüge „Vertes et Vagabondes“.
Bücher, die auf Deutsch erschienen sind: „Schlangenbrut“ (DistelLiteratur, 2005), „Verlorener Horizont“ (Polar Verlag, 2021).
www.pascaldessaint.fr
Facebook Page Officielle

 

Blog Entropy, Barbara Rieger, Alain Barbero, Pepü Sulé, La Sacristía Café, Dénia

Pepü Sulé | La Sacristía Café, Dénia

Foto: Alain Barbero | Text: Pepü Sulé | Übersetzung (aus dem Spanischen): Daniela Gerlach

 

Der zügellose Regenschirm

Oh es ist kalt.
Und regnet.
Und ich hier mit meinem Regenschirm.

Oh der Wind.
Wieviel Luft in Bewegung.

Der Regenschirm bewegt sich
Ist es der Wind, der den Regenschirm bewegt
oder ist es der Regenschirm selbst
der sich bewegt und versucht zu fliegen
und meiner verdammten Hand zu entkommen?

 

Original (Spanisch)

El paraguas libertino

Oh hace frio.
Y llueve.
Y yo aquí con mi paraguas.

Oh el viento.
Cuanto aire en movimiento.

El paraguas se mueve
¿Es el viento quien mueve el paraguas
o es el propio paraguas
quien se mueve intentando volar
y escaparse de mi puta mano?

 


Kurzinterview mit dem Autor

Was bedeutet Literatur für dich?
Pepü Sulé: Von der Warte des Schreibens aus, ist sie ein Werkzeug, das mir erlaubt zu erzählen, Ideen auszudrücken, Wörter zu kombinieren …
Sie ist ein Mittel, das mir Türen öffnet, um mir etwas vorstellen oder einfach umherschweifen zu können und Geschichten zu erzählen, auf eine Art, die mich interessiert, mich anzieht, mir einfach gefällt.
Von der Warte der Lesenden aus könnte sie der Eingang zu tausenden von Welten sein.

Was bedeuten Cafés für dich?
PS: Es sind Orte, in denen das Leben pulsiert, wo eine Vielzahl von Geschichten geschehen, wo die Leute sich treffen und sich ihre Erlebnisse erzählen, beziehungsweise wo sie sich isolieren, um der täglichen Routine zu entkommen.
In meinem Fall kommt es auf den Moment an. Es kann ein Ort sein, wo ich Menschen sehe und Kontakt knüpfe, oder ein Ort, wo ich allein bin und neue Skizzen, Entwürfe, Fantastereien finde …

Warum hast du La sacristía Café ausgewählt?
PS: Da es sich um eine Fotosession handelte, auch wegen der Dekoration dieser Bar; ich dachte, es wäre ein attraktiver Ort für Alain, den Fotografen. Und für mich wäre es ein interessanter Ort, um während der Session mit der Vorstellung zu spielen, wie ich am Ende das Resultat sehen würde.

Was machst du, wenn du nicht im Café bist?
PS: Ich spreche mit Leuten, schreibe, zeichne, male, mache Musik, beobachte, koche, lese, bin neugierig, spaziere, ich bin mit Leuten zusammen, die mir Leben geben …
Aber den Großteil der Zeit, und wie die meisten Menschen dieser Epoche, frequentiere ich über viele Stunden diesen Ort, den wir „Arbeit“ nennen.

 

BIO

Pepü Sulé wird am Mittelmeer geboren und lebt dort. Er betritt die Welt des Schreibens, indem er Texte fürs Radio kreiert und erzählt, rezitiert, summt, sowie sich an musikalischen Aktionen, Performances, Monologen, Theaterstücken, Erzählungen, Drehbüchern, Animationsfilmen beteiligt …
Außerdem zeichnet, malt und animiert er Bilder, oder spielt Musik und mischt all seine Entwürfe in verschiedenen „Gerichten“ zusammen.
Textuell sind seine Buchstaben von einer menschlichen Person geschrieben, also er kennt auch keine Person, die nicht menschlich wäre. Und er kennt auch keinen Menschen, der nicht Person wäre. Obwohl, klar, behaupten kann man das nicht. Also, vielleicht lief er eines Tages gerade so herum, und plash! Stieß auf eine nicht menschliche Person, ohne dass er es merkte, da er nie zuvor eine solche gesehen hatte.